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Die Rocker und die Braunen

NSU-Prozeß. Früherer Geheimdienstler und Sportschütze zum fünften Mal als Zeuge geladen

Von Claudia Wangerin, München *

Der vierte Auftritt des Zeugen Andreas Temme vor dem Oberlandesgericht München sollte noch nicht sein letzter im Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) gewesen sein. Die Vernehmung des früheren hessischen Verfassungsschützers durch die Nebenklage wurde am Mittwoch nachmittag von der Verteidigung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe unterbrochen, die sich an diesem Tag nicht mehr verhandlungsfähig fühlte. Die Opferanwälte hätten aber ohnehin Temmes erneute Ladung beantragt, da sich am Vortag dessen unmittelbarer früherer Vorgesetzter Frank Fehling krank gemeldet hatte, der ebenfalls vor Gericht aussagen sollte – Absprachen zwischen den Geheimdienstzeugen über bestimmte Fragenkomplexe sollten aus der Sicht der Nebenklage vermieden werden.

Mindestens einmal muß er also noch in den Münchner Gerichtssaal. Temme galt im Frühjahr 2006 als Hauptverdächtiger im Kasseler Mordfall Halit Yozgat, Jahre bevor das Kürzel NSU der Öffentlichkeit bekannt wurde. Der frühere Postbeamte und hessische Verfassungsschützer hatte als »Wildman70« im Kasseler Internetcafé des NSU-Mordopfers Yozgat gechattet und angeblich nicht bemerkt, daß der junge Besitzer erschossen worden war und hinter der Theke lag, als er selbst das Lokal verließ. Der Vater des Opfers wies in einer Prozeßerklärung am Donnerstag darauf hin, daß der Ladentisch nur 73 Zentimeter hoch sei, Temme jedoch über 1,90 Meter. Sehr emotional schilderte Ismail Yozgat, wie die Familie nach dem Tod seines 21jährigen Sohnes unter Verdächtigungen gelitten hatte – bis 2011 der NSU aufflog. Unglaubwürdig erscheint der Exgeheimdienstler und Sportschütze Temme den Nebenklägern, weil dessen Frau in einem von der Polizei abgehörten Telefonat mit einer Freundin erwähnt hatte, er habe ihr nie klipp und klar gesagt, daß er den Mord nicht begangen habe. Und auch, weil ihn frühere Nachbarn »Klein-Adolf« nannten und er sich privat im Dunstkreis der »Hells Angels« bewegte, denen sich frühere Kader des Neonazinetzwerks »Blood & Honour« angeschlossen hatten, als dieses im Jahr 2000 in Deutschland verboten worden war. Temmes Chatpartnerin aus Yozgats Internetcafé sagte den Ermittlern, für sie sei »die Sache erledigt« gewesen, als er ihr ein Bild von sich geschickt habe. Politische und vordergründig unpolitische Peinlichkeiten hielten ihm Nebenklagevertreter im NSU-Prozeß am Mittwoch nachmittag vor.

Er wußte auf alles eine Antwort, wenn auch keine überzeugende darauf, wie er den Sterbenden hinter dem Ladentisch hatte übersehen können. Die Lektüre antisemitischer Schriften in seiner Jugend könne er »heute nicht mehr so wirklich nachvollziehen«, sagte Temme vor Gericht. Er habe keinen Anlaß gesehen, seinen Dienstherren über private Kontakte zu Rockergruppierungen wie den »Hells Angels« zu informieren, da er nicht in Clubs gewesen sei, die der Verfassungsschutz beobachtet habe. Die Gaststätte »Scharfe Ecke« in Reinhardshagen will er nur aus Presseveröffentlichungen kennen – nach Aussagen früherer Gäste beim Bundeskriminalamt wurde er aber dort ebenso gesehen wie der mutmaßliche NSU-Terrorist Uwe Mundlos Anfang der 2000er Jahre. In Reinhardshagen übte Temme indes an einem Schießstand für Reservisten – das bestreitet er nicht.

Temmes früherer Amtschef Lutz Irrgang erweckte in seiner gerichtlichen Zeugenvernehmung am Mittwoch – gewollt oder ungewollt – den Eindruck eines Grüßonkels, der von seinen Mitarbeitern im Jahr 2006 nur sehr mangelhaft über die Vorgänge rund um den Mordverdacht gegen Temme informiert wurde. Daß Hessens Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) polizeiliche Ermittlungen mit Verweis auf den Quellenschutz blockiert hatte, will Irrgang als damaliger Leiter der Behörde nicht mitbekommen haben. Es war das Jahr seiner Pensionierung. Die Nebenklage wirft dem LfV Hessen vor, das Aussageverhalten Temmes zu steuern und ihn zu seiner Zeit als Beschuldigter über Ermittlungsinhalte informiert zu haben – zum Beweis dieser Tatsache beantragten die Anwälte der Familie Yozgat in dieser Woche die Vernehmung weiterer Polizeiermittler.

* Aus: junge Welt, Freitag, 14. März 2014


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