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Stochern im Ruß

Brisante Gegenstände aus dem Autowrack eines Toten und die zwei Gesichter der Beate Zschäpe: NSU-Aufarbeitung vor Gericht und im Parlament

Von Claudia Wangerin *

Die Aufarbeitung der Mord- und Anschlagsserie, die seit Ende 2011 dem »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) zugeordnet wird, spielt sich auf mehreren »Baustellen« ab – und was Polizeibeamte in einem Autowrack mit einer verkohlten Leiche übersehen können, wirft ähnlich viele Fragen auf wie die Aussagen einer Nachbarin über Beate Zschäpe. Während vor dem Oberlandesgericht München vergangene Woche die Stellung der Hauptangeklagten innerhalb des mutmaßlichen NSU-Kerntrios im Mittelpunkt stand, ging es im Untersuchungsausschuss des Landtags von Baden-Württemberg erneut um den Tod des Zeugen Florian Heilig, den die Polizei auffallend schnell als Selbstmord eingestuft hatte. Der 21jährige war am 16. September 2013 in seinem Auto auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart verbrannt – kurz bevor ihn Beamte des Landeskriminalamtes zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter befragen wollten, die 2007 in Heilbronn erschossen wurde und offiziell als letztes NSU-Opfer gilt. Ob sie das wirklich war, das ist zweifelhaft, denn die Familie des jungen Neonaziaussteigers Florian Heilig glaubt nicht an Suizid. Am Dienstag vergangener Woche hat die Schwester des Toten dem Untersuchungsausschuss brisante Gegenstände übergeben, die von den Ermittlern im Autowrack offenbar übersehen worden waren. Darunter eine Machete, eine Pistole, zwei Mobiltelefone, ein Feuerzeug, der Deckel eines Tankkanisters sowie Tablettenhüllen des Schmerzmittels Buscopan – und ein Schlüsselbund, dessen Fehlen die Polizei nach der oberflächlichen Durchsuchung hätte stutzig machen müssen. »Es war ja immer ein großes Mysterium: Wo ist der Schlüssel?« zitierte Spiegel online am Mittwoch den Ausschussvorsitzenden Wolfgang Drexler (SPD). Laut Familie Heilig lag er eingeklemmt hinter dem Rücksitz. Das ausgebrannte Wrack hatte sie bis dato bei Freunden untergestellt.

Florian Heilig soll im Sommer 2011 gegenüber Kollegen erwähnt haben, er wisse, wer für den versuchten Doppelmord an Kiesewetter und ihrem Kollegen Martin A. auf der Heilbronner Theresienwiese verantwortlich sei. Im Januar 2012 berichtete er dem LKA von einer militanten Organisation mit NSU-Bezug, die unter dem Namen »Neoschutzstaffel« (NSS) in Baden-Württemberg aktiv sei. Ein Neonazi, den Heilig »Matze« nannte, soll dieses Kürzel als Tätowierung auf dem Körper tragen. Die Polizei hat ihn kürzlich identifiziert – Matthias K. soll nun auch als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss aussagen. Heikel wird das für ihn und sein Umfeld auch deshalb, weil mehrere Zeugen in Tatortnähe des Polizistinnenmordes Verdächtige sahen, deren Beschreibung zu keiner der Personen passt, die von der Bundesanwaltschaft als Täter ausgemacht wurden.

Der NSU wird in einem Propagandavideo, das Beate Zschäpe nach dem Tod ihrer Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verschickt haben soll, als »Netzwerk von Kameraden« bezeichnet – nicht etwa als Zelle oder gar als Trio. Mehrere Nebenklagevertreter gehen ebenfalls von einem größeren Personenkreis aus, während die Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift von einer terroristischen Vereinigung mit nur drei Mitgliedern spricht. Die vier Mitangeklagten von Zschäpe gelten lediglich als Helfer und Unterstützer.

Für Zschäpe selbst verliefen die letzten Prozesstage günstig: Eine Nachbarin kratzte im Zeugenstand deutlich am Bild der selbstbewussten Frau, als die zahlreiche andere Zeugen die Hauptangeklagte wahrgenommen hatten. Außerdem soll Zschäpe häufig allein in der Wohnung des Trios in der Zwickauer Polenzstraße gewesen sein. Die Aussagen bezogen sich auf die Jahre 2001 bis 2008 – in diesem Zeitraum geschahen die meisten der Morde und Sprengstoffanschläge, die dem NSU zur Last gelegt werden. In der Anklageschrift gilt Zschäpe als gleichberechtigte Planerin aller Verbrechen, die die beiden Männer ausgeführt haben sollen. Die Nachbarin aus der Polenzstraße muss Zschäpe eher als unterdrückte Frau wahrgenommen haben. Persönliche Freundschaften habe ihr Freund ihr verboten. »Sie durfte ja nicht mal einen Döner holen.« Außerdem soll Zschäpe der Nachbarin sexuelle Übergriffe durch die beiden Männer angedeutet haben. »All diese Schlüsse waren jedoch nicht auf wirkliche Beobachtungen gestützt und lösten sich auf Nachfragen des Vorsitzenden in vage Vermutungen auf«, erklärte Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann am Donnerstag im Anschluss. Urlaubsbekanntschaften des Trios hatten zum Beispiel ausgesagt, Zschäpe habe das gemeinsame Geld verwaltet. Zeugen aus ihrem Umfeld vor dem Untertauchen beschrieben sie als Frau, die sich nichts gefallen ließ. Zschäpe selbst schweigt seit Verhandlungsbeginn im Mai 2013 zu den Vorwürfen und ihrer Rolle in der Gruppe.

* Aus: junge Welt, Montag, 23. März 2015


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