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Wer war noch dabei?

Mordfeldzug des "NSU": Die Zwei-Täter-These wankt. Ehemalige Obfrau Eva Högl appelliert an Bundesanwaltschaft, offenen Fragen nachzugehen

Von Sebastian Carlens *

Bestand der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) nur aus drei Mitgliedern, von denen lediglich zwei selbst tödliche Gewalt ausübten? So sieht es der Generalbundesanwalt (GBA) in der Anklage gegen »Beate Zschäpe und andere«, die seit über einem Jahr vor dem Oberlandesgericht (OLG) München verhandelt wird. Genau daran äußert Eva Högl, Obfrau der SPD im Bundestags-Untersuchungsausschuß zum NSU in der vergangenen Legislaturperiode, nun erstmals öffentlich Zweifel: »Beim Tatablauf ist noch vieles unklar, auch die Zeugenaussagen zur Anzahl der Täter sind widersprüchlich«, so die SPD-Politikerin im Gespräch mit junge Welt am Freitag über den Polizistenmord in Heilbronn im Jahr 2007, der dem NSU zugeschrieben wird. Bereits am Mittwoch hatte Högl bei einer Veranstaltung in Schwäbisch-Hall deutlich gemacht, daß sie und ihre einstigen Ausschuß-Kollegen Petra Pau (Linke) und Clemens Binninger (CDU) Zweifel an der Darstellung des NSU als kleiner isolierter Gruppe hegen: »Wir glauben nicht, daß der NSU aus nur drei Personen mit einem kleinen Helferkreis bestand«, zitierte die Südwest Presse Högl am Donnerstag. Es müsse, so die Bundestagsabgeordnete, ein breites Netzwerk gegeben haben.

Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 ist die Tat, die aus dem Rahmen fällt: Tief im Westen der BRD, weit entfernt von ihrem Versteck in Zwickau, sollen die Killer des NSU unvermittelt die junge Polizistin getötet und ihren Kollegen Martin A. lebensgefährlich verletzt haben – aus »Haß auf den Staat«, so der Generalbundesanwalt. Im Gegensatz zu den neun tödlichen Attentaten auf Migranten nutzten sie dabei eine andere Waffe. Die bei der Tat erbeuteten Pistolen der Polizisten wurden 2011 in einem Wohnmobil in Eisenach entdeckt, in dem die beiden männlichen NSU-Mitglieder Selbstmord begangen haben sollen. Eine Hose mit Blutspuren Kiesewetters konnte – über vier Jahre nach der Tat – im ausgebrannten Versteck der Terrorbande ausfindig gemacht werden. Ebenso wie bei den vorangegangenen neun tödlichen Anschlägen sollen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die alleinigen Täter sein.

Und doch gibt es Ungereimtheiten: Polizisten aus der Einheit Kiesewetters waren im rassistischen »Ku Klux Klan« organisiert, auch ihr Vorgesetzter. Der Chef des »Klans« arbeitete wiederum als »Vertrauensmann« des Verfassungsschutzes. Martin A., der bis heute keine vollständige Erinnerung an den Anschlag auf ihn und seine Kollegin zurückerlangt hat, äußerte vor dem OLG München ebenfalls Zweifel an der Tatrekonstruktion. Auch in anderen Bundesländern sind noch viele Fragen offen. Daher begrüßte es Högl gegenüber jW, daß SPD und Linke in Hessen in Verhandlungen über die Einrichtung eines eigenen Ausschusses auf Landesebene stehen. Der letzte NSU-Mord an Migranten fand 2006 im hessischen Kassel statt. Tatverdächtig war zunächst der Geheimdienstmitarbeiter Andreas Temme, der später allerdings freigesprochen worden war.

Der mysteriöse Tod zweier wichtiger Zeugen wirft weitere Fragen auf. Florian Heilig, Hinweisgeber zum Polizistenmord, verbrannte in Stuttgart ausgerechnet an dem Tag in seinem Auto, an dem er erneut vom Landeskriminalamt befragt werden sollte. Der einstige »V-Mann« und enge Weggefährte des NSU, Thomas Richter alias »Corelli«, lebte in einem Zeugenschutzprogramm, als er einer »unerkannten Diabetes­erkrankung« zum Opfer fiel. Mit Bezug auf das Zeugensterben sagte Högl gegenüber dieser Zeitung: »Ich appelliere an diejenigen, die die Untersuchungen leiten, ihre Arbeit ordentlich zu machen und die Öffentlichkeit darüber zu informieren«.

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. Mai 2014


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