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Ein Doppelleben

Trotz Freispruch von Mordverdacht 2006 bleiben Fragen: Einstiger hessischer Verfassungsschützer mußte vor NSU-Untersuchungsausschuß aussagen

Von Sebastian Carlens *

Als der einstige Verfassungsschützer Andreas Temme am Mittwoch den runden Sitzungssaal im Berliner Paul-Löbe-Haus betritt, in dem der Bundestagsausschuß zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) tagt, entsteht Bewegung auf der Balustrade. Die Pressevertreter beugen sich über die Brüstung, um einen Blick auf den unscheinbaren, glatzköpfigen Mann in braunem Anzug zu werfen: Temme, bis 2006 beim hessischen Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) beschäftigt, soll beim neunten mutmaßlich vom NSU verübten Mord, dem an Halit Yozgat in Kassel, anwesend gewesen sein. Yozgats Laden war gut besucht am 6. April 2006; ein Mann telefonierte, fünf Gäste saßen an Computerarbeitsplätzen. Fast alle meldeten sich auf einen Zeugenaufruf der Polizei, nur Temme nicht. Die Besucher von Yozgats Café konnten sich erinnern, die Schüsse gehört zu haben. Durch einen Schalldämpfer klangen sie harmlos, wie zerplatzende Luftballons. Auch an einen weiteren ominösen Gast meinten sie sich zu erinnern. Über den von ihm benutzten Computer kamen die Fahnder schließlich auf seine Spur: Andreas Temme, Verfassungsschützer. Einige Tage später wird er festgenommen, der Polizei gilt er als Hauptverdächtiger.

Zu seinem Freispruch 2007 aus Mangel an Beweisen trug die Landesregierung mit einer massiven Interventin bei. Es ginge ja »nur um Mord«, ließ der damalige LfV-Präsident Lutz Irrgang verlauten. So einfach könne es doch nicht sein, daß eine Leiche neben einem seiner Geheimen ausreiche, um dessen Tarnung zunichte zu machen. Der Innenminister folgte dieser Logik. Er heißt Volker Bouffier und ist heute für die CDU Ministerpräsident in Hessen. Doch dies ist nur einer der Gründe, warum sich Temme nun, mehr als sechs Jahre nach dem Mord, dem Ausschuß stellen muß. Unausgesprochen geht es noch um etwas anderes: Könnte es, trotz des Freispruches, nicht doch sein, daß der Geheimdienstler in irgendeiner Form in die Tat verstrickt ist? Denn daß der erfahrene Observationsbeamte, der sich in seiner Freizeit gerne auf Schießständen aufhielt, von all dem – den Schußgeräuschen, dem Pulvergeruch – nichts mitbekommen haben will, klingt nach zu viel Zufall. Seine Neigung zum Fabulieren, die sich am Dienstag im Ausschuß zeigte; die Widersprüche, in die er sich dabei verwickelte – all das kann seine Glaubwürdigkeit nicht erhöhen.

Temme lernte bei der Bundespost, saß einige Jahre hinter dem Schalter, trug Briefe aus. 1993 entdeckte der Beamte eine Stellenausschreibung des Landesamtes. Der Beruf reizte ihn, versprach Abwechslung und Abenteuer. Im Oktober des Jahres wurde er einer Sicherheitsprüfung unterzogen, 1994 hatte er den Job. Hier beginnen die Fragen: Warum ist auf seinem Beurteilungsbogen das Kästchen »keine Neigung zu extremistischen Parteien« nicht angekreuzt? Wieso steht unter der Bewerbung einmal »geeignet«, dann jedoch wieder, handschriftlich, »nicht geeignet«? Ab 2003 darf er V-Männer führen: Sein »erster« ist ein Kasseler Neonazi. Beide telefonierten am Tag des Mordes, kurz bevor sich Temme auf die Fahrt zum Internetcafé macht. Auch am 9. und 15. Juni 2005 hatten der V-Mann-Führer und sein Spitzel Kontakt – damals starben in Nürnberg und München Ismail Yasar und Theodorus Boulgarides. Nach Temmes Suspendierung 2006 wurde die Quelle abgeschaltet. In einer polizeilichen Vernehmung soll sie angegeben haben, der Geheimdienstler habe, angesprochen auf den Anschlag, »herumgestottert«, sich »beobachtet gefühlt«. Immerhin: Mit Temmes Festnahme endet die Mordserie an Migranten. Auch dieser Umstand ist obskur.

Es bleibt das Bild eines Menschen, dem das Doppelleben zur Gewohnheit geworden ist: Das Schießen, sein Hobby, verschweigt er Frau und Eltern, in deren Haus er seine Waffen lagert. Im Internetcafé will er unter dem Pseudonym »wildman70« mit erotischen Bekanntschaften gechattet haben, während seine Frau hochschwanger zu Hause saß. Ihr erklärte er seine häufigeren Aufenthalte im Café als »beruflich bedingt«. Mit seinem einstigen Dienstherren, dem LfV, hielt er auch nach der Suspendierung Kontakt – mindestens drei Treffen fanden in der Wiesbadener Zentrale statt. Einmal war LfV-Chef Irrgang selbst anwesend, aber über die Ermittlungen gegen ihn hätten sie nicht gesprochen, so Temme – es sei »schlicht um die menschliche Seite« seines Falles gegangen. Mit seiner Vorgesetzten, Frau P., traf sich Temme konspirativ auf einer Autobahnraststätte. Die Polizei observierte die beiden, nachdem sie durch Telefonüberwachung von der Verabredung »an einem abhörsicheren Ort« Wind bekommen hatte. Trotz schwerster Vorwürfe ließ sein Amt ihn also 2006 nicht ganz fallen – und auch heute, 2012, ist er nicht allein. »Dazu darf ich nichts sagen«, so Temmes Antwort auf die Frage, warum sein einstiger Neonazi-V-Mann plötzlich, lange nach seiner Zeit beim LfV, an seiner neuen Arbeitsstelle im Regierungspräsidium Kassel aufgetaucht war. Ein unsicherer Blick des Exverfassungsschützers über die Schulter: Nein, keine Aussage zu dieser Frage, meint auch der Mann hinter ihm. Es ist der Ausschußvertreter des Landes Hessen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 13. September 2012


Staatstragende Vergeßlichkeit

Thüringens früherer Innenminister Dewes konnte sich Neonaziterror nicht vorstellen

Von Claudia Wangerin **


Die 1998 gebildete »Zentralstelle Extremismus« (ZEX) sollte dem Informationsaustausch zwischen dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz und dem Landeskriminalamt dienen. Obwohl der Anlaß ihrer Gründung die Zunahme von Neonaziaufmärschen war, sollte sie sich zusätzlich mit »Linksextremismus« befassen, Rechtsextremismus jedoch den Schwerpunkt bilden. Obwohl 1998 in Thüringen die drei Mitglieder der Terrorzelle des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) abtauchten – Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe waren diesem Zeitpunkt seit Jahren amtsbekannt – sollen in der ZEX keine wesentlichen Informationen über das Trio ausgetauscht worden sein. Im Jahr 2000 – als Mundlos und Böhnhardt nach heutigem Ermittlungsstand in Nürnberg ihren ersten Mord begingen – sei das Projekt ZEX »mehr oder weniger eingeschlafen«, sagte die SPD-Landtagsabgeordnete Dorothea Marx, die zur Zeit die Akten studiert, am Mittwoch gegenüber jW. Im Thüringer Untersuchungsausschuß zum Neonaziterror befragte sie am Dienstag den damals zuständigen Innenminister Richard Dewes (ebenfalls SPD) über die ZEX. Dessen Antwort gab einen Vorgeschmack auf den Rest der Vernehmung: Er könne sich vorstellen, warum die ZEX eingerichtet worden sei, Details darüber hinaus seien ihm jedoch nicht mehr erinnerlich, so der 64jährige. Auf Gedächtnislücken berief er sich mehrfach, so auch bei der Frage, ob es während seiner Amtszeit den Verdacht auf undichte Stellen bei der Polizei gegeben habe. Der Beginn seiner Amtszeit liege ja bereits 18 Jahre zurück, das Ende auch schon 13 Jahre. Man sei damals nicht davon ausgegangen, daß Rechtsterrorismus real möglich sei.

Wichtiger als ein gutes Langzeitgedächtnis war Dewes die formale Bildung der Verfassungsschutzmitarbeiter: Es sei ihm schlichtweg »wurscht« gewesen, was die Referatsleiter studiert hatten – Hauptsache studiert. Er habe den Thüringer Verfassungsschutz nicht, wie dessen früherer Chef Helmut Roewer zuvor ausgesagt hatte, »intelligenter« machen wollen, so Dewes. Bei der Einstellung von Akademikern sei es einfach nur darum gegangen, daß man »ein solches Amt auch nicht nur mit Dummköpfen führen« könne. Zur fraglichen Zeit waren beim Thüringer Inlandsgeheimdienst Altphilologen, Archäologen und Historiker eingestellt worden. Dewes begründete dies vor dem Ausschuß mit »Allgemeinbildung« sowie der Fähigkeit, Zeitung zu lesen und Schlußfolgerungen anzustellen. Dies sei im Bereich Auswertung wichtig. Die Beschaffung – »wie man Wanzen anbringt, wie man beobachtet« – sei eine andere Sache, sagte Dewes laut Mitschrift der Abgeordneten Katharina König (Die Linke).

Dewes beteuerte außerdem, nichts davon zu wissen, daß Helmut Roewer eine mysteriöse Quelle mit dem Decknamen »Günther« führte und mit größeren Geldbeträgen ausstattete. Dies war nach Aussage früherer Mitarbeiter in der Behörde bekannt – nur die Identität der Quelle nicht. Dewes bezeichnete es am Dienstag als »unüblich, daß ein Präsident eines Landesamtes eigene Quellen führt«.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 13. September 2012


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