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Was bedeutet "Untergrund"?

Das öffentliche Leben des NSU und ihrer Unterstützer

Von René Heilig *

Der Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wird in der zweiten Aprilwoche beginnen. Angeklagt sind fünf Neonazis.

Angeklagt sind Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben, Carsten Schultze. Rechnet man die beiden mutmaßlichen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hinzu, die sich angeblich am 4. November 2011 selbst gerichtet haben, so könnte man vermuten, der NSU bestand aus einer extrem kleinen Gruppe, die - so sagen die Ermittler und so legt es auch die Anklage nahe - total abgeschottet ihr mörderisches Werk vollbrachte.

Das ist der Nationalsozialistische Untergrund? Das ist das - wie es auf der angeblichen Paulchen-Panther-Bekenner-DVD heißt - »Netzwerk von Kameraden«?

Hartfrid Wolff, der für die FDP im Bundestagsuntersuchungsausschuss sitzt, fühlt sich verschaukelt. Und daher versuchte er es jüngst bei der Zeugenvernehmung des im vorläufigen Ruhestand geparkten Thüringer Verfassungsschutzchef Thomas Sippel simpel. Wolff fragte: »Was ist eigentlich Untergrund?« Sippel war verdattert - und das lag nicht nur an der späten Stunde: »Untergrund? Untergrund ist ... kein Fachbegriff.«

Auch der Generalbundesanwalt, der die sehr schwächliche Anklage gegen Zschäpe & Co. formulierte, weiß, dass die fünf Angeklagten nicht der »Untergrund« sind. Nicht anders sieht man das im Bundeskriminalamt, das in seinem Auftrag Vernehmungen durchführte, die mehr Kuschel- als Fragecharakter hatten. Beide ermitteln daher »gegen Unbekannt« weiter. Ergebnisse sind nicht bekannt.

Wie schaut das »Netzwerk der Kameraden« aus? Seit dem Auffliegen der NSU-Zelle sind 14 Monate vergangenen, da dürfte man Antworten erwarten. Das hat sich auch Wolff gedacht und fragte nach der sogenannten 100er Liste. Sippel, alias Mr. Unverbindlich, gab sich abermals überfordert. Diese gekünstelte Ausstrahlung teilt er mit anderen Verfassungsschutzkollegen.

Die Ermittler hatten zunächst eine Liste von NSU-Helfern erstellt, auf der 41 Namen verzeichnet waren. Kurz darauf erweiterte man den Kreis der Verdächtigen auf exakt 100. Auf dieser 100er Liste befinden sich neben Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe auch die zwölf ursprünglich von der Bundesanwaltschaft beschuldigten mutmaßlichen Helfer. Angeklagt sind - siehe oben - nur vier. Unter den weiteren 85 angeblichen Kontaktpersonen des Terror-Trios sind mindestens fünf langjährige V-Leute von Polizei und Verfassungsschutz, die in Kameradschaften und Blood&Honour-Gangs tonangebend waren.

Doch seriös ist die 100er Liste deshalb nicht. Auffällig ist, dass neun auf der 41er Liste Verzeichnete nicht in die 100er Liste übernommen wurden. Auf der neuen Liste sind dagegen Personen, die zwar üble Neonazis sind, mit ziemlicher Sicherheit aber nichts mit der NSU-Bande zu tun haben. Beispiel: Ein inzwischen 35-Jähriger hatte 2010 in Leipzig den Iraker Kamal Kilade umgebracht und deshalb 13 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung zugemessen bekommen. Möglich, dass der Killer mit dem NSU sympathisiert. Da er jedoch seit seinem 16. Lebensjahr in Gefängnissen heimisch war, kann er objektiv nicht zu den Unterstützern des Jenaer Trios gehört haben.

Andererseits fehlen viele, die durchaus im NSU-Dunstkreis laufen. Beispiel Steffen Richter aus Saalfeld. Mit ihm pflegt der angeklagte Ralf Wohlleben noch immer Kontakt. Sogar über Fluchtmöglichkeiten sollen sich die Beiden ausgetauscht haben. Weitere Unterstützer finden sich sicher im »Freien Netz«, das jedoch zumindest die sächsischen Behörden nur als Internet-Freundeskreis anerkennen.

»Untergrund«, so hatte Sippel zu erklären versucht, deute auf Geheimes, vielleicht auf Illegalität hin. Ist das so, kann der Begriff »Untergrund« kaum auf das Leben von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe angewandt werden. Die sind zwar Anfang 1998 abgetaucht, doch sie veränderten weder ihr Aussehen noch ihre Gewohnheiten. Sie fuhren in Urlaub - sogar mehrmals an den selben Ort. Sie hielten Kontakt zu Leuten, die bei Verfassungsschutz und Polizei als Neonazi-Aktivisten bekannt waren. Sogar deren Papiere benutzen die Terroristen. Böhnhardt soll immer wieder mit seinem roten Hyundai in Jena gewesen sein. Er würde - so eine Zeugenaussage, die der Polizei seit dem 6. Juni 2002 vorliegt - »noch genauso aussehen ..., wie 1998«. Mehr noch. Die Ermittler erfuhren, »dass alle drei Gesuchten 3 bis 4 Mal im Jahr in der Stadt seien«. Wie sorglos Mörder doch leben können, die sich im »Untergrund« befinden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 04. Februar 2013


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