Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

NSU-Prozeß ausweiten

Tausende demonstrieren in München Solidarität mit Opfern der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund«. Verfahren gegen staatliche Helfer gefordert

Von Claudia Wangerin *

In zwei Tagen beginnt vor dem Oberlandesgericht (OLG) München die Hauptverhandlung gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Aus diesem Anlaß gingen am Samstag in der bayerischen Landeshauptstadt mehrere tausend Menschen mit Parolen wie »Verfassungsschutz, NSU – den Rassisten keine Ruh« auf die Straße. Sie zeigten Solidarität mit den Opfern des Neonaziterrors und forderten eine vollständige Aufklärung der staatlichen Verwicklungen sowie die Abschaffung des Inlandsgeheimdienstes. Das Münchner Bündnis gegen Naziterror und Rassismus sprach von 7000 bis 10000 Teilnehmern.

Polizeibeamte ließen es sich nicht nehmen, bei der Auftaktkundgebung einen Flüchtling wegen Verletzung der Residenzpflicht festzunehmen. Demo-Anmelder Siegfried Benker protestierte: »Das ist nicht der Ort, wo die Polizei rassistische Sondergesetze exekutieren kann!« Wenig später konnte die Freilassung erreicht werden.

Erst am Abend vor der Demonstration war das OLG München vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verdonnert worden, mindestens drei Sitzplätze im Gerichtssaal für ausländische Journalisten freizuhalten. Wochenlang hatte das OLG auf stur geschaltet, nachdem bei der Akkreditierung nach dem »Windhundprinzip« gerade die Medien aus den Herkunftsländern der meisten NSU-Mordopfer leer ausgegangen waren.

Der Iman der muslimischen Gemeinde in Penzberg, Benjamin Idriz, dankte den Karlsruhern Richtern, bekundete in seiner Demorede aber auch, das Vertrauen in den Staat sei »tief zerstört«. Fünf von zehn NSU-Morden seien in Bayern verübt worden. Idriz: »Wir wissen, daß in Deutschland hochrangige Politiker aus ganz anderen Gründen zum Rücktritt bewegt werden. In Bayern hat noch kein einziger Politiker und kein einziger Verfassungsschutzbeamter diese Konsequenzen gezogen.«

Yvonne Boulgarides kämpfte mit den Tränen, als sie vom Mord an ihrem Ehemann Theodoros Boulgarides am 15. Juni 2005 in München sprach. Mit fester Stimme sagte sie, es könne nur ein Teil des Vertrauens in das Rechtssystem wieder hergestellt werden, wenn den Untersuchungsausschüssen alle Akten und Beweise zur Verfügung gestellt würden, die »zur lückenlosen Wahrheitsfindung« nötig seien.

Angelika Lex, Anwältin der Familie und gewählte bayerische Verfassungsrichterin, sagte bei einer Zwischenkundgebung vor dem Gericht, es gebe noch viel zu wenig Ermittlungsverfahren gegen lokale Unterstützernetzwerke des NSU und V-Leute des Verfassungsschutzes. »Es fehlen vollständig die Verfahren gegen Ermittler, gegen Polizeibeamte, gegen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, gegen Präsidenten und Abteilungsleiter von Verfassungsschutzbehörden. Verfahren, die nicht nur wegen Inkompetenz und Untätigkeit, sondern auch wegen aktiver Unterstützung geführt werden müßten«, erklärte Lex. »Auf diese Anklagebank gehören nicht fünf, sondern 50 oder noch besser 500 Personen.«

Auf der Demonstrationsroute lag auch das Mahnmal an der Oktoberfestwiese, wo 13 Menschen durch den Bombenanschlag am 26. September 1980 gestorben waren. Hier erinnerte der Journalist Ulrich Chaussy an die Ungereimtheiten der Einzeltätertheorie und die systematische Vertuschung von Spuren, die in eine andere Richtung gezeigt hatten. Die Ermittlungen müßten wieder aufgenommen werden (siehe auch jW vom 13./14. April).

* Aus: junge Welt, Montag, 15. April 2013


Das zerstörte Vertrauen

Die große antirassistische Demonstration in München zeigt, wie sehr der NSU-Prozess die Menschen bewegt

Von Rudolf Stumberger **


Vor Beginn des NSU-Prozesses haben Tausende in München an das Schicksal der Opfer erinnert. Bei einer Großdemonstration forderten sie einen konsequenten Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Der Mordprozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« soll an diesem Mittwoch beginnen. Das Gericht muss sich sputen: Karlsruhe verlangt, dass ausländische Journalisten feste Plätze bekommen. Wie, ist noch offen.

Die Szene am Münchner Stachus ist bezeichnend. Mit bewegter Stimme spricht Yvonne Boulgaridis am Sonnabend zu den Tausenden Teilnehmern der Demonstration gegen Naziterror und Rassismus. Die Witwe des 2005 von der Terrorgruppe »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) ermordeten Theodoros Boulgarides ist, während sie redet, durch ein Transparent verdeckt. Sie will nicht fotografiert werden, denn die Nebenklägerin im anstehenden NSU-Prozess hat Angst vor Nazi-Attacken. Bei der Auftaktkundgebung fordern die Redner die umfassende Aufklärung der Mordserie und die Abschaffung des Verfassungsschutzes, sie wenden sich gegen Rassismus im Alltag und bei den Behörden. Die Veranstalter – ein Bündnis von mehr als 200 Gruppen – zählen an diesem Tag bis zu 10 000 Teilnehmer und sprechen von der »größten antirassistischen Demonstration in München seit 20 Jahren«.

»Wir haben uns in diesem Land wohlgefühlt, doch jetzt haben wir Angst«, sagt die 36-jährige Yurdagül. Die junge Frau mit dem Kopftuch ist eine der 20 Mitglieder der Islamischen Gemeinde aus dem oberbayerischen Penzberg, die am morgen mit dem Zug in die bayerische Landeshauptstadt gefahren sind, um an der Demonstration wenige Tage vor Beginn des NSU-Prozesses teilzunehmen. In der Hand hält sie eines der Plakate, die sich gegen den alltäglichen Rassismus richten. Andere Teilnehmer halten Pappkartons hoch mit Aufschriften wie »Für eine rassismusfreie solidarische Gesellschaft«. Später werden an der Spitze des Demonstrationszuges Dutzende von weißen Plakaten mit schwarzer Schrift mitgeführt werden. Darauf sind die Namen der mehr als 180 Menschen zu lesen, die in der Bundesrepublik seit 1990 von Neonazis getötet wurden: Doris Botts, 17.8.2001; Kamel Kilade, 24.10.2010; Roland Masch, 1.6.2002; Andre Kleinau, 27.5.2011. Und viele mehr.

Noch aber läuft in der Innenstadt die Auftaktkundgebung. »Wir fühlen mit den Familien, wir trauern mit ihnen«, sagt Benjamin Idriz, Imam der muslimischen Gemeinde Penzberg, ins Mikrofon. Und dass das Vertrauen zu den deutschen Behörden »tief zerstört« sei. Deutschland habe es nicht geschafft, die Opfer des NSU zu schützen.

Die Botschaft von Betroffenen des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße und des Brandanschlags von Mölln 1992 ist an diesem Tag: »Wir Opfer dürfen nicht mundtot gemacht werden.« Ibrahim Arslan hat den in Mölln überlebt und er bekräftigt am Münchner Stachus, wie wichtig die Solidarität mit den Opfern rassistischer Anschläge ist.

Unter den Aufrufern zur Demo sind auch viele migrantische Gruppen. Nükhet Kivran, die Vorsitzende des Münchner Ausländerbeirats, warnt vor dem institutionellen und strukturellen Rassismus als größter Gefahr, seien doch die NSU-Mordtaten »unter den Augen der Sicherheitsbehörden« geschehen. Ein Armutszeugnis für den Staat sei es, dass die Kirchen den Angehörigen der Opfer bei den Kosten für Anreise und Unterkunft zum NSU-Prozess beistehen müssten. Faru Kivran fordert schließlich die Aufstellung einer Gedenktafel für die NSU-Opfer in München.

Aus Sicht der Prozessbeobachtungsstelle NSU-Watch umfasst die vollständige Aufklärung der NSU-Verbrechen auch die Fragen, woher das Geld kommt und welche Schuld die Behörden auf sich geladen haben. Die NSU sei Teil der militanten Neonaziszene und müsse als Netzwerk gesehen werden, erklärt ein Vertreter der Initiative. Neonazis seien über V-Männer vom Verfassungsschutz aufgebaut und finanziert worden, bis diese gedacht hätten, »wir können machen was wir wollen, es passiert schon nichts«. Deshalb sei der NSU-Prozess kein normaler Mordprozess. Völlig inakzeptabel finden es die Prozessbeobachter, dass die Anklageschrift keinen Hinweis auf lokale Unterstützergruppen enthalte.

Zur scharfen Kritik am Versagen der Sicherheitsbehörden passt für viele Demonstranten an diesem Tag die Nachricht, dass die Polizei Asylbewerber, die zur Demonstration anreisen wollen, kontrolliert und einen Flüchtling verhaftet hat, weil er mit seiner Teilnahme die Residenzpflicht verletzt. »Dies hier ist nicht der Ort, rassistische Sondergesetze zu exekutieren«, kritisiert ein Bündnissprecher. Die Polizei will nicht zu den Vorwürfen sagen.

Zum Ende der Auftaktkundgebung ruft die Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz Esther Bejarano zum Widerstand gegen den Nazismus auf: »Wir, die letzten Überlebenden, sagen: Nie mehr schweigen, nie mehr wegsehen!«

Die anschließende Demonstration zum Münchner Marienplatz ist nicht nur eine der größten seit Jahren in der Stadt, sondern mit einer Strecke von 6,5 Kilometern auch eine der längsten. Wie bei einem Kreuzweg passiert der Zug dabei die Stätten neonazistischer Gewalt und behördlicher Verantwortung. Erste Station ist das Mahnmal zum Oktoberfestattentat vom 26. Oktober 1980. Ein Mitglied der »Wehrsportgruppe Hoffmann« hatte hier damals eine Bombe gezündet und damit 13 Menschen getötet. Der Journalist Ulrich Chaussy erinnert an dieser Stelle an die »Tradition« der Ermittlungsbehörden, bei neonazistischen Anschlägen immer einen »Einzeltäter« zu präsentieren. Ob beim Dutschke-Attentat 1968, beim Oktoberfest oder jetzt bei der NSU – stets werde ein Netzwerk verleugnet. Es sei Zeit, so Chaussy, »dass die Richter diesem Mummenschanz ein Ende bereiten«. Auch die Ermittlungen zum Oktoberfestattentat müssten wieder aufgenommen werden.

Zweite Station der Demo-Route ist der Stiglmaier-Platz in der Nähe des von der Polizei abgeriegelten Justizzentrums an der Nymphenburger Straße, wo der NSU-Prozess ab Mittwoch stattfinden wird. »Der Prozess sei eine Chance, das Vertrauen wieder herzustellen«, sagt Angelika Lex bei der dortigen Kundgebung. Die Rechtsanwältin und Richterin beim Bayerischen Verfassungsgericht wird Yvonne Boulgaridis als Nebenklägerin vertreten. Lex fürchtet, dass das Gericht den politischen Dimensionen des Verfahrens nicht gewachsen ist. »Ihm fehlt es an Sensibilität.« Auf die Anklagebank gehörten nicht fünf, sondern 500 Personen. Es gebe noch immer viel zu wenige Ermittlungen auf lokaler Ebene.

In der Nacht wird das Schaufenster des Bayerischen Flüchtlingsrats eingeschlagen – genau an der Stelle, an der das Plakat mit dem Aufruf zur Demo gegen Naziterror hing. Der Flüchtlingsrat vermutet, dass sich Neonazis nach der erfolgreichen antifaschistischen Demonstration rächen wollten. Das Büro war nicht zum ersten Mal Ziel von Rechtsextremen. Vor einer Woche wurden mitten an einem Arbeitstag Plakate in den Schaufenstern mit neonazistischer Propaganda überklebt. »Anschläge wie diese bestätigen die Wichtigkeit unserer Arbeit«, sagt Alexander Thal vom Flüchtlingsrat.

** Aus: neues deutschland, Montag, 15. April 2013

DOKUMENTIERT: "Für lückenlose Wahrheitsfindung"

Rede von Yvonne Boulgarides, Witwe des 2005 in München von NSU-Terroristen ermordeten Theodoros Boulgarides, auf der Demonstration am Samstag in der bayerischen Landeshauptstadt:

Der 15. Juni 2005 war ein gravierender und schrecklicher Einschnitt in das Leben meiner Kinder und das meine. Mein Ehemann und der Vater unserer beiden Kinder, Theo Boulgarides, wurde Opfer der damals so titulierten »Dönermorde«. Die daraus resultierenden Konsequenzen, die unsägliche Trauer hier zu beschreiben, würde wohl den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen.

Als man die Opfer verdächtigte, in kriminelle Strukturen verwickelt zu sein, erfüllte uns dies mit absoluter Fassungslosigkeit, Zweifeln und Schamgefühlen. Heute, fast acht Jahre später, bleibt nur noch die Fassungslosigkeit über den Hergang dieser widerwärtigen Verbrechen und die für uns immer noch rätselhaft unzulängliche Aufklärung.

Diese Morde und Anschläge sind nicht mehr nur eine Frage des Rechtsextremismus, sondern auch der Rechtsstaatlichkeit. Ich wünschte, alle autorisierten Stellen würden mit Nachdruck dafür sorgen, daß die zur lückenlosen Wahrheitsfindung benötigten Akten und Beweise zur Verfügung gestellt werden. Nur so können die meines Erachtens engagiert arbeitenden Mitglieder der Untersuchungsausschüsse, insbesondere des Bundestages, ihre Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluß führen. Wir sind der Meinung, nur so ist es möglich, einen Teil des Vertrauens in unser Rechtssystem wieder herzustellen. Dies gilt nicht nur für unsere ausländischen, sondern auch deutschen Mitbürger.

Um die Frage der Daseinsberechtigung des Verfassungsschutzes zu klären, bedarf es sicher kompetenterer Menschen als mich. Vielleicht mag es ein wenig naiv klingen: Aber geht es nicht letztlich auch um die Hinterfragung von Ehre, Ehrlichkeit, Rechtsempfinden und dem Schutz der Verfassung? Müßte ich ein Statement abgeben, dann am liebsten mit einem Zitat von Albert Einstein: »Wichtig ist es, daß man nicht aufhört zu fragen«. In der Hoffnung, daß wir alle irgendwann ehrliche Antworten erhalten, möchte ich mich herzlich bei Ihnen bedanken.

(Aus: jW, 15.04.2013)




Zurück zur Seite "Rassismus, Neonazismus, Antifaschismus"

Zurück zur Homepage