Solange kein Name gefallen ist ...
Gedanken zum 9. November – Wer ist schuld am Unwissen über die Verfolgung der Juden in der Nazizeit
Von Kurt Pätzold *
Wieder steht ein 9. November und
mit ihm ein hoch geschichtsbeladener
Tag für die Deutschen an. An
jenem Tag 1918 begann die Revolution,
mit der die Geschichte des
(zweiten) deutschen Kaiserreichs
endete und der Weg in eine bürgerliche
Republik freigemacht
wurde, die zur Hälfte Resultat der
Gegenrevolution war. Eine solche
wurde fünf Jahre, wieder an einem
9. November, von Hitler und dem
kaiserlichen General Ludendorff
erneut versucht, scheiterte aber
schon in den Straßen Münchens.
Dann ist da der 9. November
1989, für den sich der Terminus
»Mauerfall« einbürgerte, was an
einen Unfall auf einer Baustelle erinnern
kann oder auch an
einen Abriss. Tatsächlich ereignete
sich da die Aufhebung
der seit 1961 existierenden
totalen Kontrolle des Personen- und Warenverkehrs
an den Grenzen der DDR. Es begann der Abriss eines Staates,
was manchen als ein Volkssieg
gilt, anderen als das Produkt einer
Gegenrevolution.
Zwischen beiden der 9. Novembertag
1938, Tag des reichsweiten
antijüdischen Pogroms, mit
dem die seit 1933 staatlich gelenkte
und forcierte Verfolgung der Juden
in die Etappe ihrer verschärften
Vertreibung aus dem Reich
trat, um es »judenfrei« zu machen.
Wenn am 9. November 2012
eine Dringlichkeitsstufe der Erinnerung
benannt werden sollte,
dann müsste die Wahl wohl auf das
Ereignis 1938 fallen. Dies wäre
begründet durch die jüngst veröffentlichen
Resultate einer Ermittlung,
wie es die Bürger in der Bundesrepublik
heute mit dem Antisemitismus
halten, und das Fazit der
Experten, dass antisemitische
Einstellungen auf »schlichtem Unwissen
über Juden und Judentum«
basieren würden. Ist die Schule
daran schuld? Und wer oder was
genauer: die Lehrpläne, die Lehrer,
die Schulbücher oder lernunwillige
Schüler? Am einfachsten
und quellenfest lässt sich die Frage
für die Schulbuchliteratur entscheiden.
Bei deren Durchmusterung
sind zwei »Schwachstellen«
in der Darstellung der Judenverfolgung
im Nazireich vor dem
Krieg erkennbar.
Die eine betrifft die Frage, ob
dieser Antisemitismus Interessen
bediente. Die Mehrheit der Schulbuchautoren
legt zumindest den
Gedanken nahe, dass es irgendwelche
Nutznießer gegeben haben
müsse. In mehreren Darstellungen
wird »die Ausschaltung der Juden
aus dem Wirtschaftsleben« und für
1938 auch die Vertreibung »aus
den letzten Positionen der Wirtschaft
« erwähnt. Etwas kryptisch
liest sich der Satz in einem für die
Oberstufe bestimmten Buch:
»Neue systematische wirtschaftliche
Ausbeutung brachten die umfangreichen
›Arisierungen‹ jüdischer
Betriebe seit 1937.« Wer sich nicht bei der Frage aufhält, wer da
von wem nun ausgebeutet worden sein mag und noch dazu mit System, der erfährt weiter: »Firmen
wurden zwangsenteignet, unter Wert in erzwungenen
Notverkäufen an Deutsche veräußert
oder ›arischen‹ Treuhändern
überstellt.« Besonders wertvoll ist
in diesem Satz die Wendung »an
Deutsche«, als wären die Beraubten
nicht auch Deutsche gewesen.
Die sich dem konkreten Geschehen
am weitesten annähernde
Feststellung findet sich in einem
»Unterrichtswerk für Geschichte«
mit der Überschrift »Das waren
Zeiten«: »Partei, Industrie und
Handelskammern zwangen die jüdischen
Besitzer, ihre Geschäfte
und Gewerbebetriebe zu Spottpreisen
an ›Arier‹ zu verkaufen.«
Nun ließe sich diese Kühnheit freilich
mit der Feststellung einer Figur
Brechts relativieren: »Solange
kein Name gefallen ist, ist nichts
passiert.« Und auch könnte man
einwenden, ob nicht etwas für den
aktuellen Kampf gegen den Antisemitismus
hierzulande gewonnen
wäre, wenn Ross und Reiter der
»Arisierung« benannt würden. Jedenfalls
doch jene Horizonterweiterung,
die beispielsweise mit dem
Blick auf den heutigen Antisemitismus
und Organisationen, in denen
er mehr oder weniger versteckt
gepflegt wird, zu fragen: Gibt
es vielleicht Interessen, die von
diesen Zusammenschlüssen bedient
werden? Und machen die
sich auch in den hartnäckigen
Weigerungen geltend, die Neonazis
(an denen so viel Neo nicht ist)
zu illegalisieren?
Wenden wir uns nun der zweiten
»Schwachstelle« in den durchmusterten
Schulgeschichtsbüchern
zu. Sie betrifft das Verhältnis
der nichtjüdischen Deutschen zu
den deutschen Juden. Haben die zu
»Ariern« ernannten Deutschen an
den Verfolgungen teilgenommen,
sie begrüßt, ihnen zugestimmt
oder sie einfach desinteressiert
hingenommen? Die sogenannte
Goldhagen-Debatte zeigte Mitte
der 90er Jahre, dass ein erheblicher
Teil der Nachgeborenen in
der Bundesrepublik glaubt, wenn
er den (anonymen) Vorfahren vernichtende
Zensuren erteilt, die
richtige Haltung zum »dunkelsten
Kapitel« deutscher Geschichte
eingenommen zu haben. Hier ist
deutlich ein Interesse im Spiel, das
Befriedigung sucht und die Aufnahme
der Thesen des US-amerikanischen
Soziologen begünstigte.
In den Schulbüchern nun wird
mit Bezug auf den Pogrom geschrieben:
»Bemerkenswert ist,
wie viele ›normale‹ Deutsche sich
in den Sturmtrupps der SA an
Brutalitäten beteiligten, ohne
Schuld zu empfinden. Die große
Mehrheit tolerierte die Vorgänge
mit Schweigen.« In einem in
Mecklenburg-Vorpommern benutzten
Buch wird zum Foto mit
der Ortsaufschrift Greifenberg/
Oberbayern und dem Schild
»Juden sind hier unerwünscht«
(Gab es in den Ostseebädern keine
solchen Schilder?) den Schülern
die Aufgabe gestellt: »Schließe aus
dem Bild auf die Haltungen der
nichtjüdischen Bürger.« An anderer
Stelle heißt es »Breiter Widerspruch
der Bevölkerung gegen die
sich steigernde Entrechtung und
Ausgrenzung der Juden blieb aus.
Den wenigen Fällen von Hilfe und
Solidarität mit jüdischen Mitbürgern
standen massenhafte anonyme
Anzeigen von deutschen
›Volksgenossen‹ gegenüber, die
ihre Mitmenschen denunzierten.«
Nirgendwo eine Übersicht über die
Abgestuftheit der Verhaltensweisen
und deren Ursachen, die ideologischer,
opportunistischer und
anderer Natur waren. Und warum
eigentlich ist unter den vielen Aufgaben,
die die Verfasser stellen,
nicht jene: Vergleiche das Verhalten
deiner Urgroßeltern gegenüber
Juden mit deinen Beobachtungen
heutigen Verhaltens zu Juden,
Arabern, Afrikanern und mit den
Urteilen über Fremde in deinem
Freundes- und Bekanntenkreis.
Am Ende eines Buches für
sächsische Schüler wird geraten,
sich selbst auf die Spur zu begeben,
sich mit der Geschichte der eigenen
Familie zu befassen, Zeugnisse
in alten Fotoalben zu suchen und
zu erfragen, welches Schicksal
Verwandte durch Verwundungen,
Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung
erlitten haben. Das nun
wiederum bedient die Sicht der
Deutschen als Opfer.
Zuletzt noch: In einem vom
Verlag Volk und Welt herausgegebenen
Buch wiederum ist zu lesen,
dass in der DDR der Massenmord
an den Juden »in den Hintergrund
« gedrängt worden sei, »gegenüber
dem Unrecht an den
Kommunisten und den überfallenen
Völkern«. Das ist offenbar als
Wiedergutmachung gedacht. Denn
in einem vom einst volkseigenen
Verlag 1988 herausgegebenen
Geschichtsbuch steht deutlich,
Name und Adresse nennend: »Bei
der ›Arisierung‹ der Betriebe griffen
die Konzerne und Großbanken
kräftig zu und erwarben billig Millionen
Besitze. Flick z. B. übernahm
die Petscheck-Konzerne, die
reiche Braunkohlenvorkommen in
Mitteldeutschland und im annektierten
Sudetengebiet besaßen.«
Die Zitate stammen aus Schulbüchern
der Verlage Buchner, Westermann,
Cornelsen, Diesterweg
sowie Volk und Wissen.
Von Prof. Pätzold erschien jüngst
bei PapyRossa »Wahn und Kalkül.
Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz« (246 S., br., 15,90 €).
* Aus: neues deutschland, Samstag, 3. November 2012
Zurück zur Seite "Rassismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Antisemitismus"
Zur Deutschland-Seite
Zurück zur Homepage