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Rassistisches Fanal

Hintergrund. Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen war ein Höhepunkt in der Mobilisierung gegen »Asylanten« und »Ausländer«. Danach wurden das Recht auf Asyl ausgehebelt und die Lebensbedingungen von schutzbedürftigen Flüchtlingen massiv verschlechtert

Von Ulla Jelpke *

Schon vor dem Anschluß der DDR setzte sich in der »alten« Bundesrepublik Ende der 1980er Jahre in Teilen der Bevölkerung zusehends eine fremdenfeindliche Stimmung durch, die sich dann auf die neuen Bundesländer ausweitete. Anfang der 1990er Jahre kam es zu einer massiven Eskalation und zu einer Serie rassistisch motivierter Gewalttaten. An den Folgen haben Flüchtlinge in Deutschland bis heute zu leiden.

Im September 1991 begannen die Unionsparteien mit einer beispiellosen Kampagne gegen das Grundrecht auf Asyl. CDU-Generalsekretär Volker Rühe ließ eine Vorlage für Resolutionen von Kommunalparlamenten verbreiten, in denen die Städte kundtun sollten, eine weitere Aufnahme Asylsuchender nicht mehr zu verkraften. Der Slogan »Asylmißbrauch beenden« prangte auf CDU-Plakaten zu den Bremer Bürgerschaftswahlen im September 1991. Eine Anzeigenkampagne mit dem Text »Weiter massenhaft Scheinasylanten – das ist dann Sache der SPD« sollte den Druck auf die Sozialdemokraten erhöhen. Gleichzeitig stieg die Zahl der Angriffe auf Asylbewerberheime weiter an. Besonders erschreckend waren die Ausschreitungen im sächsischen Hoyerswerda, bei denen vom 17. bis 22. September 1991 eine Unterkunft von ehemaligen moçambiquanischen und vietnamesischen Vertragsarbeitern und ein Asylbewerberheim von einem rassistischen Mob angegriffen und in Brand gesetzt wurden. Danach wurden täglich aus allen Teilen der Bundesrepublik Anschläge auf Asylbewerberheime gemeldet. Der Ton der politischen Debatte verschärfte sich weiter. In den Landtagswahlkämpfen im April 1992 wurde der »Asylmißbrauch« zum alles beherrschenden Thema, die faschistische Deutsche Volksunion DVU erreichte in Schleswig-Holstein 6,3 Prozent der Wählerstimmen, die »Republikaner« in Baden-Württemberg 10,9 Prozent.

Auch die Medien trugen zur rassistischen Stimmung bei. Begriffe wie »Sturm«, »Flut« und »Welle« suggerierten den blinden Drang einer Naturgewalt, der jede Abwehr erlaubt. So hieß es in Bild wenige Tage vor den Landtagswahlen im April 1992: »Fast jede Minute ein neuer Asylant – die Flut steigt, wann sinkt das Boot?« Der Spiegel illustrierte einen Artikel mit der Überschrift »Der Krieg des dritten Jahrtausends« mit einem Schiffsanleger, auf dem sich Tausende Menschen vor einem riesigen Schiff sammeln. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung goß mit ihrer Rede von »Asyl-Touristen« Öl ins Feuer.

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Stimmung konnten sich die zumeist jugendlichen Gewalttäter, die Flüchtlinge angriffen, als Vollstrecker eines vermeintlichen »Volkswillens« sehen. Organisierte Neofaschisten sorgten dafür, daß die gezielt herbeigeredete gewaltsame »Gegenwehr« der Bevölkerung tatsächlich stattfand. Die Warnung von Politikern wie Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU) vor »Selbsthilfe« und »Selbstjustiz« und »rechtsfreien Räumen« in der ersten großen Bundestagsdebatte zur Asylpolitik am 10. Oktober 1991 wurde so zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Über die rassistisch motivierte Gewalt wurde in einer Art und Weise geredet, die diese zugleich legitimiert hat. Politiker der Unionsparteien propagierten offen völkisches Denken und schwadronierten von einem »Widerstandsrecht« der Völker gegen »Überfremdung«.

»Asylkompromiß«

Der unter diesem Druck zustande gekommene »Asylkompromiß« vom Dezember 1992 stand in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vom 22. bis 26. August 1992. Am Abend des 22. August stimmte die Parteispitze der SPD überraschend der von den Unionsparteien seit Ende der 80er Jahre geforderten drastischen Einschränkung des Rechts auf Asyl im Wege einer Grundgesetzänderung zu. Bis dahin hatte sich die SPD – gegen deutliche Kritik ihrer eigenen Kommunal- und Landespolitiker – lediglich auf ein Maßnahmenpaket zur Verfahrensbeschleunigung einlassen wollen.

Satz 1 des Artikels 16 Grundgesetz – »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« – blieb zwar erhalten, wurde aber durch vier nachfolgende Absätze faktisch zurückgenommen. Darin wurden »offensichtlich unbegründete« Anträge definiert, deren Antragsteller vom Recht auf Asyl und damit von einem ordnungsgemäßen Asylverfahren ausgeschlossen werden. Gemeint waren jene, die aus einem angeblich »sicheren Herkunftsstaat« kommen oder die über einen »sicheren Drittstaat« eingereist waren. Als solche gelten alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft sowie die Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention anwenden. In der Debatte wurde insbesondere vom Unionsfraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble immer wieder eine Europäisierung des Flüchtlingsschutzes gefordert. Bei angeblich »unbeachtlichen« Asylanträgen sollten die üblichen Rechtsschutzgarantien nur noch eingeschränkt gelten, damit Zurückschiebungen an der Grenze und andere Abschiebemaßnahmen selbst bei einer Klage gegen die Ablehnung des Asylantrags vollzogen werden können.

Abschreckungsregime

Schon lange vor dem »Asylkompromiß« waren die sozialen und Verfahrensrechte von Asylsuchenden eingeschränkt worden. Mit dem Haushaltsstrukturgesetz 1982 wurde die Sozialhilfe auf die »Hilfe zum Unterhalt« beschränkt und damit Hilfen in besonderen Lebenslagen ausgeschlossen. Bereits damals wurde das Sachleistungsprinzip eingeführt, zwei Jahre später dann die Möglichkeit geschaffen, die Leistungen auch in Form von Gutscheinen zu erbringen. 1987 wurde in das Asylverfahrensrecht die Möglichkeit eingeführt, Asylsuchende in Sammelunterkünften unterzubringen; dies wurde 1993 obligatorisch. 1990 vereinbarten Bund und Länder, sogenannte Zentrale Ausländerbehörden zu schaffen, um die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern zu beschleunigen. Eine Änderung des Asylverfahrensgesetzes hob 1991 den Rechtsschutz für Asylsuchende, deren Antrag als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt worden war, weitgehend auf. Dies betraf etwa Anträge von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem zerfallenden Jugoslawien oder von Roma aus Bulgarien und Rumänien – weil sie vor allgemeiner Gewalt flohen, aber »offensichtlich« nicht vor politischer Verfolgung. Mit der Grundgesetzänderung 1993 fiel auch der letzte Rest an Rechtsschutz für abgelehnte Asylsuchende. Gegen eine Ablehnung ist zwar weiterhin Widerspruch möglich, nicht aber gegen die damit einhergehende Ausreiseanordnung. Damit müssen die Asylsuchenden trotz eines laufenden Verwaltungsgerichtsverfahrens ausreisen oder werden abgeschoben. Auch eine unmittelbare Zurückweisung an der Grenze wurde möglich, wenn der Asylantrag durch die Grenzbehörden als »offensichtlich unbegründet« gewertet wird. Für die Einreise auf dem Luftweg wurde eigens das Flughafenasylverfahren geschaffen. Hat der »Asylkompromiß« es mit der Regelung von den »sicheren Drittstaaten« praktisch verunmöglicht, bei einer Einreise nach Deutschland auf dem Landweg Asyl zu erhalten, soll das Flughafenverfahren Flüchtlingen auch den Luftweg versperren. In einem Schnellverfahren wird geprüft, ob die Einreise zur Durchführung eines Asylverfahrens zugelassen wird, wenn der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat einreist oder keine gültigen Paßpapiere vorlegen kann. Eine Entscheidung ergeht binnen zwei Tagen, für einen Widerspruch hat man drei Tage Zeit, über eine Klage entscheidet das Gericht innerhalb zweier Wochen. Die extrem kurzen Fristen erschweren die Wahrnehmung effektiven Rechtsschutzes. Trotz massiv gesunkener Zugangszahlen im Flughafenasylverfahren hat die Bundesregierung aktuell den Bau einer entsprechenden Hafteinrichtung auch am neuen Berlin-Brandenburger Flughafen durchgesetzt.

Die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes war ebenfalls Teil des Asylkompromisses. Mit ihm sollte nach der damaligen Gesetzesbegründung die Zahl der Asylbewerber durch »eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen« reduziert werden. Durch die Herausnahme aus dem Bundessozialhilfegesetz galten dessen Grundprinzipien – Sicherung eines menschenwürdigen Lebens, die Orientierung der Hilfe an den Besonderheiten des Einzelfalls – nicht mehr. Sämtliche Leistungen zum Lebensunterhalt sollten als Sachleistungen erbracht werden, abgesehen von einem Taschengeld in Höhe von 80 DM. Nur wenn die Betroffenen nicht mehr in einer Sammelunterkunft untergebracht sind, sollten auch Gutscheine ausgegeben werden können. In absoluten Ausnahmen war zudem die Auszahlung der Leistungen zulässig, die im Gesetz auf 360 DM (etwa 180 Euro) für alleinstehende Erwachsene festgelegt wurden. Das liegt über ein Drittel unter dem heutigen Hartz-IV-Satz. Eine Anpassung an gestiegene Lebenshaltungskosten ist seit 1993 nie erfolgt.

Um das Regime der Abschreckung zu vervollkommnen, wurde im Asylverfahrensgesetz die Residenzpflicht verankert. Durch sie ist der Aufenthalt eines Asylsuchenden auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem sein Wohnsitz zugewiesen wurde. Will er diesen Bezirk verlassen, muß er eine »Verlassenserlaubnis« beantragen. Pflege sozialer Beziehungen außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen und politisches Engagement werden damit massiv behindert, soweit sie mit den wenigen zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln überhaupt möglich sind.

Verschiebebahnhof Europa

Die Zahl der Asylbewerber ist von offiziell 440000 im Jahr 1992 auf 330000 ein Jahr später rasant abgesunken. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre waren es nur noch rund 100000 jährlich, 2007 erreichte sie mit knapp 21000 einen historischen Tiefstand. Die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl und das Regime der Abschreckung hatten ihre Wirkung getan. Die Drittstaatenregelung erhöhte den Druck auf die an die Bundesrepublik angrenzenden Staaten, ihre Grenzen abzuschotten. Sie wurden nun von Transitstaaten selbst zu Zielstaaten von Flüchtlingen. Gleichzeitig wurde mit dem Dubliner Übereinkommen von 1997 das System der Zurückschiebung perfektioniert: Seither sind jeweils diejenigen EU-Staaten für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, über deren Grenze der Asylsuchende in die EU eingereist ist. Mit dem »Dublin-System« hat sich die EU zu einem Verschiebebahnhof für Schutzsuchende entwickelt, Tausende werden jährlich hin- und hergeschickt.

Von einer harmonisierten Asylpraxis sind die europäischen Staaten immer noch ein gutes Stück entfernt. 1999 einigten sie sich im finnischen Tampere erstmals darauf, die Standards bei der Durchführung von Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende anzunähern. 2006 wurden die wesentlichen Richtlinien – Verfahrensrichtlinie, Aufnahmerichtlinie und Qualifikationsrichtlinie – beschlossen und in den folgenden Jahren in nationales Recht umgesetzt. Derzeit wird in den Gremien der EU über die sogenannte zweite Runde der Harmonisierung verhandelt. Während die Bundesregierung sich inzwischen verhandlungsbereit zeigt, das bislang in Deutschland gültige Arbeitsverbot für Flüchtlinge von einem Jahr auf neun Monate zu senken, verteidigt sie mit allen Mitteln die Rechtsschutzeinschränkungen im Asylverfahren. Die EU-Kommission wollte den einstweiligen Rechtsschutz auch bei Überstellungen im Dublin-Verfahren ermöglichen, das hat die Bundesregierung verhindert.

Ganz unbestreitbar bedeutet die Harmonisierung des Asylrechts in der EU in vielen Ländern einen Fortschritt, weil dort mit Inkrafttreten der Asylrichtlinien überhaupt erstmals ein Asylverfahren mit rechtlichen Garantien und ein Aufnahmesystem eingeführt wurden. Doch zugleich werden diese Fortschritte weitgehend bedeutungslos, wenn durch die Vorverlagerung der Abschottung in die Transitstaaten Schutzsuchende effektiv an der Wahrnehmung ihrer Rechte gehindert werden. Die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX steht sinnbildlich für dieses Abschottungsregime, in das in den kommenden Jahren noch über eine Milliarde Euro zur lückenlosen Überwachung der Außengrenzen investiert werden soll. Zudem unterlaufen die an den Außengrenzen der EU liegenden Staaten, vor allem Griechenland, aber auch Italien und Ungarn, die vorgegebenen Standards gezielt, um eine Politik der Abschreckung auch unter Verstoß gegen die Richtlinien durchführen zu können. Aus all diesen Staaten wird berichtet, daß Anträge Schutzsuchender von den Grenzpolizeien einfach ignoriert werden. Während des Asylverfahrens, aber selbst nach einer Anerkennung als Flüchtling sind die Lebensbedingungen dort so schlecht, daß die Betroffenen geradezu zu einer Weiterflucht in die west- und nordeuropäischen Staaten getrieben werden.

Kleine Verbesserungen

In Deutschland hat es nicht zuletzt durch die EU-Asylrichtlinien und durch die Rechtsprechung nationaler und europäischer Gerichte kleine Verbesserungen beim Umgang mit schutzbedürftigen Menschen gegeben. So wurde durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und durch Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts klargestellt, daß der Ausschluß vom einstweiligen Rechtsschutz in Dublin-Verfahren nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar ist. Manche Verbesserungen sind auch Ergebnis beharrlicher Arbeit von außerparlamentarischen Initiativen. So ist die Residenzpflicht für Asylbewerber weiterhin im Asylverfahrensgesetz verankert. Doch in Brandenburg und Berlin, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und selbst im mit harter Hand regierten Niedersachsen sind Regelungen in Kraft oder in Planung, nach denen Asylbewerber sich ohne Sondererlaubnis im gesamten Land bewegen dürfen. Daß die Bewegungsfreiheit für Flüchtlinge aber grundsätzlich noch unter behördlichem Erlaubnisvorbehalt steht, bleibt ein Skandal.

Von größerer Bedeutung für Asylsuchende, aber auch für Geduldete und Bürgerkriegsflüchtlinge ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 zur Verfassungswidrigkeit der abgesenkten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die Leistungen – weniger als zwei Drittel des Hartz-IV-Satzes – seien »evident unzureichend«, um eine »menschenwürdige Existenz« zu gewährleisten. Das Gericht hat eine Übergangsregelung geschaffen, nach der den etwa 80000 Betroffenen nun faktisch Leistungen auf Hartz-IV-Niveau gezahlt werden müssen. Dazu gehört ein deutlich höheres Taschengeld von 120 statt bislang 40,90 Euro. Das Sachleistungsprinzip wurde durch das Urteil nicht in Frage gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat es sogar explizit offengelassen, auf welche Weise der Staat das Existenzminimum sichert. Damit bleibt es bei diesem auf Abschreckung zielenden Sonderrechtsregime für Schutzsuchende auch im Sozialrecht.

Ungebrochener Rassismus

Die Debatte um Asyl- und Flüchtlingspolitik hat sich angesichts der gesunkenen Zahl von Asylsuchenden – im vergangenen Jahr waren es 45 711 – zwar entspannt. Das Potential für eine Wiederauflage der rassistischen Mobilisierung ist jedoch weiterhin vorhanden, wie Auftritte führender Koalitionspolitiker im Bundestag zeigen.

Seit vielen Jahren besteht das Problem der Kettenduldungen in Deutschland. Flüchtlinge, deren Anträge auf Schutz abgelehnt wurden, die aber aus humanitären oder praktischen Gründen nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können, erhalten statt einer Aufenthaltserlaubnis über Jahre hinweg nur eine sogenannte Duldung. Damit einher gehen zahlreiche Beschränkungen beim Zugang zu Bildung, Ausbildung und zum Arbeitsmarkt; die Betroffenen können keine Integrationskurse besuchen, fallen unter das Asylbewerberleistungsgesetz und dürfen ohne Erlaubnis ihr zugewiesenes Bundesland nicht verlassen. Diese Ausgrenzung dient dazu, die Betroffenen zur »freiwilligen« Ausreise zu bewegen. Derzeit betrifft dies 85000 Menschen, von denen die Hälfte schon länger als sechs Jahre in Deutschland lebt. 23000 Geduldete sind unter 18 Jahre alt, viele von ihnen in Deutschland geboren und aufgewachsen. Die Linke fordert im Bundestag immer wieder, eine großzügige Bleiberechtsregelung zu beschließen, nach spätestens fünf Jahren Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und auf die in allen bisher beschlossenen Bleiberechtsregelungen enthaltene Forderung der »eigenständigen Lebensunterhaltssicherung« zu verzichten. Schließlich haben Menschen mit einem derart unsicheren Aufenthaltsstatus und jahrelangem Arbeitsverbot keine reale Chance auf einen gutbezahlten Arbeitsplatz.

Die Koalition lehnt diese Vorschläge regelmäßig ab und wirft der Linken vor, einer ungezügelten und unkontrollierten Einwanderung das Wort zu reden. So behauptete der Leiter der AG Innen- und Rechtspolitik der FDP-Bundestagsfraktion, Hartfrid Wolff, am 27. Oktober 2011: »Wer einem schrankenlosen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende Ablehnung der Bevölkerung gegen Zuwanderung.« Die Linksfraktion wolle »die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozialsysteme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert«. Wolff vertritt übrigens seine Fraktion im Untersuchungsausschuß des Bundestages zur Mordserie des neofaschistischen »Nationalsozialistischen Untergrunds« an acht türkischen und einem griechischen Gewerbetreibenden.

Opfer als Täter

Ähnlich einschlägig äußert sich auch immer wieder der Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Bundestagsinnenausschuß, Reinhard Grindel. Zu einem Antrag der Linksfraktion, in der diese eine stärkere Solidarität der EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen, ein Ende des Dublin-Systems und die Abschaffung von FRONTEX forderte, rekurrierte er im Februar 2011 ganz offen auf die wesentlichen Schlagworte der Asyldebatte von Anfang der 90er Jahre: »Ihr Antrag hätte zur Folge, daß im Grunde jeder Mensch aus aller Welt frei bestimmen könnte, in Deutschland zu leben. Wir hätten eine dramatische Zuwanderung von Hunderttausenden von Ausländern in jedem Jahr. Das würde jede Integrationsbemühung zum Scheitern verurteilen. Es würde wahrscheinlich auch Ausländerfeindlichkeit schüren. Sie würden damit die Kommunen vor erhebliche Unterbringungsprobleme stellen. Es würden wieder Sporthallen umgewandelt werden müssen zu großen Sammelunterkünften, von den vielen Milliarden, die das kosten würde, einmal ganz abgesehen. Das ist alles eine völlig unverantwortliche Politik (...). Mit dem absurden Vorschlag, die EU-Rückführungsrichtlinie wieder abzuschaffen, sorgt Die Linke dafür, daß wir weder Menschen, die jahrelang nur Sozialleistungen kassiert haben, noch verurteilte Straftäter in ihre Heimat zurückführen können.« Zusammengefaßt also: Wenn Ausländerfeindlichkeit grassiert und in Gewalt umschlägt, ist das nicht dem verbreiteten Rassismus in der Bevölkerung und den sogenannten Eliten, sondern allein der großen Zahl an Ausländern geschuldet. Die Opfer werden zu Tätern erklärt – das ist die gleiche rassistische Logik wie Anfang der 1990er Jahre.

CDU/CSU haben mehrfach gezeigt, daß sie für eigene Wahlerfolge bereit sind, rassistische Stimmungen in der Bevölkerung bewußt zu schüren. Dies war der Fall etwa bei den Kampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft von Roland Koch in Hessen 1999 oder »Kinder statt Inder« von Jürgen Rüttgers in NRW 2000. Von antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen ist also weiter Wachsamkeit gefordert. Und nicht vergessen darf man, daß auch die SPD, als es darauf angekommen wäre, vor der rassistischen Gewalt kapituliert und das Asylrecht preisgegeben hatte.

* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke

Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. August 2012


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