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Demokratie auf sächsisch

Hintergrund. Auf die erfolgreiche Verhinderung der Neonaziaufmärsche in Dresden im Januar 2010 und 2011 folgten Überwachung, Repression und Behördenwillkür

Von Markus Bernhardt *

Nachdem bereits vergangenen Montag Tausende Menschen in Dresden friedlich gegen eine Demonstration von rund 1300 Neonazis protestiert haben, werden heute (18. Feb.) abermals Antifaschisten aus der gesamten Bundesrepublik in die sächsische Landeshauptstadt reisen. Daß dieses Engagement trotz aller Beteuerungen seitens der offi­ziellen Politik in der Bundesrepublik nicht ernsthaft erwünscht ist, zeigt der Umgang von Polizei, Justiz und Landesregierung mit den mittlerweile traditionellen Protesten Tausender Nazigegner im Februar 2010 und 2011. In beiden Jahren war es gelungen, mittels friedlicher Massenblockaden die Aufmarschversuche von Neofaschisten zu stoppen, die wie bereits in den Vorjahren zum Jahrestag der alliierten Luftangriffe auf die Stadt 1945 aufmarschieren wollten, um die Bombardierung für ihre Propaganda von einem gegen die Zivilbevölkerung gerichteten »Bombenholocaust« zu mißbrauchen.

Während die Antifaschisten im Februar 2010 von Tausenden Polizeibeamten, die zum Schutz der Neonazis nach Dresden abkommandiert worden waren, »nur« mit Pfefferspray und Schlagstöcken malträtiert worden waren, erreichte die gegen sie gerichtete staatliche Repression 2011 ein bis dahin unbekanntes Ausmaß. Selbst der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann sah sich genötigt, zu konstatieren, daß Sachsen das »rechtskonservativste und unfreieste Bundesland der Republik« sei und im Freistaat Dinge geschehen würden, die sich nicht einmal George Orwell habe vorstellen können.

Tatsächlich hatte das sächsische Landeskriminalamt (LKA) am 19. Februar 2011, dem Tag des geplanten Neonaziaufmarsches, Hunderttausende Datensätze von Mobiltelefonen mittels einer sogenannten Funkzellenabfrage gespeichert und dabei auch sogenannte IMSI-Catcher eingesetzt, mit deren Hilfe Telefongespräche mitgehört werden können. Insgesamt 896072 Handyverbindungsdaten soll das LKA gespeichert und daraus 257858 Rufnummern und in der Folge 40732 Namen und Adressen ermittelt haben.

Noch vor Beginn der antifaschistischen Blockaden sollen die Beamten außerdem Listen von Personen – unter anderem mit Namen von Politikern und Pfarrern – samt deren mutmaßlicher Aufenthaltsorte bei den Protesten an die Staatsanwaltschaft der sächsischen Landeshauptstadt weitergegeben haben. Während im Februar 2011 etwa 1000 Neofaschisten im Dresdner Stadtteil Plauen – unbehelligt von der Polizei – marodierend durch die Straßen ziehen und vermeintliche Linke angreifen konnten, gingen die Behörden mit brutaler Gewalt gegen friedliche Gegendemonstranten vor. Beamte hetzten Hunde auf sie, versprühten wahllos und in Unmengen Pfefferspray und prügelten mit Schlagstöcken sogar auf betagte Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) ein. Selbst mit Kameras bestückte Minihubschrauber – ursprünglich nur aus Kriegsgebieten bekannt, neuerdings aber auch bei Demonstrationen und Fußballspielen eingesetzt – kamen in der Elbmetropole zum Einsatz.

Rückendeckung von Schwarz-Gelb

Doch damit nicht genug. Noch am Abend des 19. Februar stürmte ein schwer bewaffnetes Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei das »Haus der Begegnung« in Dresden, in dem sich auch Büros der Linkspartei und eine Rechtsanwaltskanzlei befinden. Wegen des »Verdachts auf die Organisation einer Straftat und Landfriedensbruch« brachen die SEK-Beamten alle Türen des Hauses gewaltsam auf, beschlagnahmten Laptops und Handys, legten anwesende Linke-Mitarbeiter in Handschellen und nahmen sie fest. Durch die Erstürmung wurde ein Sachschaden von über 5600 Euro verursacht. Im Oktober 2011 urteilte zwar das Amtsgericht Dresden, die Razzia sei rechtswidrig gewesen, ernsthafte Konsequenzen für die Polizei blieben jedoch aus.

Ungeachtet der Kritik an der Aussetzung der Bürgerrechte setzten Ermittler und Strafverfolger ihre Kriminalisierungsstrategie über das gesamte Jahr 2011 fort. So schrieb eine eigens eingerichtete »Sonderkommission 19/2« der Dresdner Polizei bundesweit Busunternehmen an, die am 19. Februar 2011 Demonstranten in die Elbmetropole gefahren hatten. In dem Schreiben mit der Überschrift »Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des besonders schweren Falls des Landfriedensbruches/Ermittlungen zu Busunternehmen« wurde der falsche Eindruck erweckt, daß die Beamten gegen die Reiseveranstalter selbst ermitteln würden und diese somit zu einer Antwort verpflichtet seien. In dem Brief wurde unter anderem Auskunft darüber verlangt, wo genau die Abreisepunkte waren, welche Strecken von den Bussen an besagtem Tag zurückgelegt, wo Pausen eingelegt wurden. Außerdem wollte die Sonderkommission wissen, welche Personen die Busse gefahren hätten und wer sie angemietet habe. Die Inhaber der Betriebe sollten diesbezüglich nicht nur die Anschriften der Busfahrer und -anmieter übermitteln, sondern auch Informationen über die Zahlungsmodalitäten.

 Aller Kritik von Bürgerrechtlern und Politikern von Linken und Bündnis 90/Die Grünen zum Trotz, stellte sich der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) hinter die Polizei. Diese habe die Busunternehmen mit Wissen der örtlichen Staatsanwaltschaft angeschrieben. Die Ermittlungsbehörden, so Ulbig, hätten bei Bestehen eines Strafverdachts den »Sachverhalt zu erforschen«. Dabei gelte »der Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten« sei. »Mit dieser Zielstellung wurde die bundesweite Abfrage durchgeführt«, stellte Ulbig im Juli 2011 fest. Die Übermittlung der gewonnenen Daten an öffentliche Stellen und deren Nutzung sei zum Zwecke der Verfolgung von Straftaten zulässig und im vorliegenden Fall auch erforderlich, so der Innenminister weiter.

Auch andere Politiker von CDU und der im Freistaat mitregierenden FDP verteidigten die staatlichen Maßnahmen wie etwa die Einleitung von Ermittlungen nach Paragraph 129 des Strafgesetzbuches (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) gegen Mitglieder des bundesweiten antifaschistischen Bündnisses »Dresden stellt sich quer!«. Der Zusammenschluß zahlreicher antifaschistischer Guppen hatte die Blockaden organisiert und dabei unter anderem von Gewerkschaftsgliederungen, diversen Bundestags-, Landtags- und Europaparlamentsabgeordneten von Linkspartei, SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützt worden war.

Ebenso betrachteten die schwarz-gelben Koalitionäre des Freistaates Hausdurchsuchungen, die unter anderem bei Antifaschisten in Berlin und Baden-Württemberg sowie beim Jenaer Jugendpfarrer Lothar König durchgeführt wurden, offenbar als legitimes Mittel in ihrem Kampf gegen »Linksextremismus«. Ausgerechnet König war sogar unterstellt worden, zur Gewalt gegen Polizeibeamte aufgerufen zu haben. Es folgte außerdem – wegen angeblicher »Rädelsführerschaft« bei der Blockade des Dresdner Naziaufmarsches am 13. Februar 2010 – die Aufhebung der Immunität der Linksfraktionschefs André Hahn (Sachsen), Bodo Ramelow (Thüringen), Janine Wissler und Willy van Oyen (Hessen) sowie – vor wenigen Tagen – der Linken-Bundestagsabgeordneten Caren Lay und Michael Leutert, diesmal wegen der Proteste im Jahr 2011.

Absurde Vorwürfe

Im Fall von André Hahn wurde die Aufhebung der Immunität am 12. Oktober 2011 im sächsischen Landtag von einer besonders auffälligen Koalition durchgefochten: Sie bestand aus CDU, FDP und neofaschistischer NPD. Im Januar 2012 wurde dem Linkspartei-Politiker dann ein Strafbefehl überstellt, gegen den Hahn Einspruch einlegte. Wegen einer vermeintlichen »Störung von Aufzügen gemäß §21 Versammlungsgesetz, §25 StGB« sollte der Linken-Fraktionschef 3000 Euro Strafe zahlen, da er am 13. Februar 2010 den Neonaziaufmarsch am Bahnhof Dresden-Neustadt »vereitelt« und damit »eine grobe Störung verursacht« hätte. »Es erstaunt mich sehr, daß sich wirklich ein Richter finden ließ, der trotz der äußerst dürren Beweislage und zweifelhaften Rechtsgrundlage bereit war, diesen Strafbefehl mit den seit langem bekannten Vorwürfen der Dresdner Staatsanwaltschaft zu unterschreiben. Ich bleibe dabei: Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft sind in jeder Hinsicht absurd; wenn aber die Staatsanwaltschaft partout meint, gegen mich vorgehen zu sollen, muß das in öffentlicher Verhandlung vor Gericht ausgestritten werden, falls ein Richter bereit ist, die Anklage zuzulassen. Für den Ausgang eines solchen Verfahrens bin ich mehr als zuversichtlich, zumal ja die sächsische Justiz zum Glück nicht die letzte Instanz ist«, kommentierte Hahn jüngst den gegen seine Person gerichtete Kriminalisierungswahn der Behörden.

Dreiste Behörden

Obwohl eine Reihe von Parlamentariern und Journalisten, die aufgrund ihres Berufsstandes mit besonderen Rechten ausgestattet sind, nach den erfolgreichen antifaschistischen Protesten Strafanzeige wegen der ganz offensichtlich rechtswidrigen »Funkzellenüberwachung« ihrer Mobiltelefone erstatteten, setzte die Dresdner Staatsanwaltschaft ihre Strategie der Kriminalisierung entschlossen fort. So verweigerten die Behörden mehreren hundert Personen sogar Informationen darüber, ob ihre Daten gespeichert worden sind. Auf Anfragen, die bereits im Juni 2011 gestellt worden waren, antwortete die Staatsanwaltschaft der sächsischen Landeshauptstadt im Januar diesen Jahres, daß »die Frist zur Auskunftserteilung« um weitere sechs Monate verlängert worden sei, da wegen des »Umfanges und der Schwierigkeit der Ermittlungen weiterhin ein Geheimhaltungsbedürfnis besteht«. In einem an Dreistigkeit kaum mehr zu überbietenden Schreiben, teilte die Staatsanwaltschaft darüber hinaus mit, daß – damit überhaupt eine Benachrichtigung erfolgen könne – »aus datenschutzrechtlichen Gründen die Glaubhaftmachung erforderlich« sei, daß »die von Ihnen in dem Auskunftsersuchen angegebene/angegebenen Telefonnummer (n) unter Ihrem Namen registriert sind und die Staatsanwaltschaft daher berechtigt ist, Ihnen – als berechtigtem Anschlußinhaber – Auskunft zu erteilen«. »Es wird daher darum gebeten, zur Glaubhaftmachung Unterlagen einzureichen, aus der sich Telefonnummer und Name ergeben. Andernfalls kann Ihnen die erbetene Auskunft nicht erteilt werden«, so die Behörde, die zuvor rechtswidrig millionenfach Telekommunikationsdaten gespeichert hatte, in ihrem Schreiben, das mit einer Fristsetzung von 14 Tagen endet. »Sollte bis dahin keine Rückmeldung eingegangen sein, wird davon ausgegangen, daß Sie Ihr Anliegen nicht weiter verfolgen«, so der abschließende Satz der Dresdner Justizbehörde, die die für sie gültigen Fristen offenbar nach Lust und Laune definiert.

»Offensichtlich rechtswidrig«

Während der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis in einem im Auftrag der sächsischen Landesregierung erarbeiteten Gutachten zu dem Schluß kam, daß die nahezu flächendeckende Überwachung von Bürgern und Demonstranten in Dresden »angemessen« gewesen sei, übten das »Komitee für Grundrechte und Demokratie« und der »Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein« (RAV) massive Kritik an Behörden und Politik. So stellte der RAV in einer im Januar 2012 veröffentlichten Erklärung fest, daß Dresden »als Versuchslabor für das Vorgehen gegen soziale Bewegungen angesehen werden« müsse. »Die politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen um das Vorgehen der Sicherheitsbehörden und das damit entstehende Klima könnten bundesweit die rechtlichen und politischen Maßstäbe sicherheitsbehördlichen Handelns verschieben – sei es bei der Funkzellenabfrage, der Konstruktion krimineller Vereinigungen oder dem Vorgehen gegen zivilen Ungehorsam und andere Formen zivilgesellschaftlichen Protestes«, stellten die Juristen fest. Sie warfen den Strafverfolgungsbehörden vor, »bei der Verfolgung antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten gegen den ehemals größten Neonaziaufmarsch in Europa (...) systematisch zu offensichtlich rechtswidrigen Maßnahmen« gegriffen zu haben. Die Repression habe sich dabei »nicht gegen einzelne ›Gewalttäter‹« gerichtet, »sondern betrifft sämtliche Formen des Protestes gegen den Neonaziaufmarsch und die Aktionsform des zivilen Ungehorsams im Besonderen.« Und weiter: »Die zuständigen Sicherheitsbehörden und das sie unterstützende mediale und politische Spektrum spielen das Spiel der Neonazis. Den Beteiligten ist bewußt, daß sie mit ihrem Vorgehen alles dafür tun, den Neonazis wieder einen Aufmarsch zu ermöglichen. Dies gilt es zu benennen und politisch zu skandalisieren. Das Problem ist der Naziaufmarsch, nicht die Aktivitäten dagegen«, heißt es in der Erklärung des RAV.

Ähnlich äußerte sich das »Komitee für Grundrechte und Demokratie«, welches sich gemeinsam mit Politikern von Linkspartei, SPD, Grünen und anderen Bürgerrechtlern zu einer »Untersuchungskommission 19. Februar« zusammengeschlossen hatte und gleich zu Beginn ihres Anfang Februar 2012 veröffentlichen Berichtes zu dem Ergebnis kam, daß – entgegen den polizeilichen und regierungspolitischen Darstellungen – Dresden im Februar letzten Jahres eben »nicht von Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten« seitens der Nazigegner gekennzeichnet war. Vielmehr hätten sich die antifaschistischen Demonstrationen und Massenblockaden, dadurch ausgezeichnet, daß »Zehntausende Bürgerinnen und Bürger ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ›gewaltfrei und ohne Waffen‹ in ihre Hände« genommen hätten. Harsche Kritik übten die Verfasser in dem insgesamt 65 Seiten starken Bericht ebenfalls an den sächsischen Behörden. »Der Umgang der sächsischen Behörden mit dem Versammlungsrecht sowie die Kriminalisierung von zivilgesellschaftlichem Engagement zeugt von einem vordemokratischen Zustand in diesem Bundesland«, betonte Ringo Bischoff, Bundesjugendsekretär von ver.di, im Namen der Kommission. Auch Professor Dr. Wolf-Dieter Narr vom »Komitee für Grundrechte und Demokratie« schloß sich der Kritik an den »sächsischen Verhältnissen« an und hob hervor, daß »eine der vornehmsten demokratischen Praktiken im demonstrativen Handeln« bestehe. »Wer dieses gefährdet – wie es die sächsische Regierung und ›ihre‹ Polizei getan haben – gefährdet eine der ausschlaggebenden Grundlagen der Verfassung«, so der Bürgerrechtler bei der Vorstellung des Untersuchungskommissionsberichts.

Im Sachsensumpf

Anstatt die vorgebrachten Anschuldigungen ernst zu nehmen, holte die sächsische Landesregierung aus CDU und FDP im Januar 2012 zu einem neuerlichen Schlag gegen die Grund- und Freiheitsrechte aus und änderte – ganz der staatlichen »Extremismus«-Doktrin verpflichtet – das Versammlungsrecht des Freistaates. Die rechtskonservativen Politiker hatten bereits 2010 einen gemeinsamen Entwurf zur Novellierung eines »Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge im Freistaat Sachsen« beschlossen und schon zuvor in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, »alle versammlungsrechtlichen Möglichkeiten« nutzen zu wollen, um nicht etwa den Neonazis, sondern vielmehr »Extremisten in Sachsen deutliche Grenzen zu setzen«. Dem damaligen Gesetzentwurf zufolge sollte eine Demonstration zukünftig verboten werden können, wenn sie »an einem Ort von historisch herausragender Bedeutung stattfindet, der an Menschen, die unter der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Gewaltherrschaft Opfer menschenunwürdiger Behandlung waren, Menschen, die Widerstand gegen die nationalsozialistische oder kommunistische Gewaltherrschaft geleistet haben, oder die Opfer eines Krieges erinnert«, hieß es. Im Sinn hatten die Koalitionäre dabei etwa das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, die Dresdner Frauenkirche sowie am 13. und 14. Februar Teile des Stadtgebiets der sächsischen Landeshauptstadt. Das damalige Gesetz war jedoch im April 2011 vom sächsischen Verfassungsgerichtshof wegen gravierender Formfehler für nichtig erklärt worden. Daher mußten die Regierungsfraktionen im Januar 2012 erneut über die Gesetzesverschärfung abstimmen, für die sie sodann auch wieder eine Mehrheit im Landtag erhielten.

Zusätzlich zur massiven Beschneidung des Versammlungsrechts gingen konservative Politiker und Medien massiv gegen Kritiker des vorherrschenden sächsischen Demokratieverständnisses vor. Eines der prominentesten Opfer wurde – neben Wolfgang Wippermann und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse – der sächsische SPD-Landtagsabgeordnete Karl Nolle. Dieser hatte im Oktober 2011 im Interview mit der jungen Welt konstatiert, daß »der Rechtsstaat in Sachsen auf dünnen Beinen« stehe. »Rechtsstaat und Verfassung scheinen bei Teilen der Staatsanwaltschaft und Polizei völlig aus dem Ruder gelaufen zu sein«, so Nolle, der zudem darauf verwies, daß einige hundert Neonazis am 13. Februar 2010 unter direkter Polizeibeobachtung im Neustädter Bahnhof »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« skandiert hätten, ohne daß dies für die Staatsanwaltschaft ein Grund gewesen sei, Ermittlungen einzuleiten. »Im Vergleich zu Sachsen ist Bayern ein Hort des Liberalismus.« Es sei »einmalig in der Bundesrepublik, in welcher Weise das schwarz verfilzte Land seit 20 Jahren von der herrschenden CDU-Partei- und Staatsführung mit ihrem schwarzen Gesangsbuch durchorganisiert« worden sei. »Das ist der eigentliche Sachsensumpf, in dem Teile der Justiz bei der Verfolgung von Regierungskriminalität, Untreue, Korruption und Amtsmißbrauch wie eine institutionalisierte Strafvereitelungsbehörde wirken«, so Nolle.

Nolles deutliche Worte riefen selbstredend umgehend seine zahlreichen politischen Gegner auf den Plan. Einer, der sich besonders aufspielte, war der FDP-Landtagsabgeordnete Benjamin Karabinski. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im sächsischen Landtag war bereits zuvor, im Oktober 2011, aufgefallen, als er eine mediale Hetzkampagne gegen das antifaschistische Bündnis »Dresden nazifrei!« weiter anheizte, welches ein öffentliches Blockadetraining in der Elbmetropole durchführen wollte. Die Ankündigung, legale und ordnungsgemäß angemeldete Versammlungen durch Blockaden zu verhindern, stelle einen »Aufruf zum Rechts- und letztlich zum Verfassungsbruch« dar, fabulierte der Innenpolitiker. Zudem warf er »den Akteuren, die hinter ›Dresden nazifrei!‹ stecken«, vor, »weiter hemmungslos ihren Weg der Eskalation« zu beschreiten. Diese würden offenkundig in Kauf nehmen, daß »die Gewaltexzesse im kommenden Februar die vergangenen noch übertreffen«. Karabinski unterstellte den Antifaschisten außerdem, »Dresden und die Dresdner in Geiselhaft für ihren ideologischen Großkampftag im Februar« nehmen zu wollen. »Unter dem moralischen Deckmäntelchen des Antifaschismus nehmen aber auch Linkspartei, SPD und Grüne billigend in Kauf, daß Dresden zum Tummelplatz und Aufmarschgebiet gewaltbereiter Autonomer aus ganz Deutschland wird. Anders ist ihr gemeinsames Engagement unter anderem mit Extremisten und Spinnern von DKP, MLPD oder Antifa im sogenannten Bündnis ›Dresden nazifrei!‹ nicht mehr zu erklären«, giftete der Landtagsabgeordnete.

Karabinski erklärte in der rechten Postille Junge Freiheit die Hatz auf den SPD-Politiker Nolle für eröffnet und bezichtigte ausgerechnet den engagierten Antifaschisten, nicht nur den Freistaat und seine »rechtsstaatlichen Institutionen«, sondern »letztlich auch alle Bürger Sachsens« zu diffamieren. Daraufhin stieg auch der sächsische CDU-Innenpolitiker Christian Hartmann – ebenfalls in der Internetausgabe der Jungen Freiheit – in die inszenierte Debatte ein. »Polizei und Justiz haben die ihnen durch Verfassung und Gesetz übertragenen Aufgaben pflichtgemäß im Interesse und zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger erfüllt«, behauptete der CDU-Politiker und forderte – ausgerechnet in dem Rechtsaußenblatt –, bei der Bewertung der Justizschelte nicht zu vergessen, wer die Kritik an den sächsischen Behörden in welcher Zeitung geäußert habe. Lorenz Haase, Sprecher der Dresdner Staatsanwaltschaft, stimmte in den Chor ein. Nolles Aussagen seien »absurd« und zeugten von »Unkenntnis grundlegender Prinzipien der Aufgaben und der Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft«, äußerte er ebenfalls gegenüber der Jungen Freiheit. Der Oberstaatsanwalt wies zudem den Vorwurf zurück, seine Behörde kriminalisiere friedliche Demonstranten. Dies, obwohl selbst der juristische Dienst des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit den Dresdner Vorgängen von rechtswidrigen Verfolgungsmaßnahmen gesprochen hatte.

* Aus: junge Welt, 18. Februar 2012


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