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Kritik an "Bundesbank-Rassist" Sarrazin aus dem In- und Ausland wächst

Zustimmung von Rechts / NPD wirbt mit Sarrazin-Thesen / LINKE will franktionsübergreifenden Antrag / junge Welt: "Sarrazin argumentiert wie die NSDAP"

Thilo Sarrazin, Bundesbankvorstand und ehemaliger Berliner Finanzsenator scheint mit seinen jüngsten Äußerungen den Bogen überspannt zu haben. Zwar gab es schon früher Kritik an seinen ausländer- und islamfeindlichen Ansichten, doch ließ man ihn weitgehend gewähren. Mit seiner rassischen Verortung der Juden ("Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen ...") hat er einhellige Empörung hervorgerufen - selbst bei Leuten wie dem (Noch-)Ministerpräsidenten Roland Koch, der bisher auch nicht gerade dafür bekannt war, dass er mit Migranten zimperlich umgegangen wäre. In der Sache allerdings weiß sich Koch mir Sarrazin nach wie vor sehr einig. Koch warnte im defacto-Sommerinterview des Hessischen Rundfunks (hr) davor, das Thema Zuwanderer auszublenden. Immerhin stecke viel Lebenserfahrung in den Berichten Sarrazins. "Ich halte nichts davon, dass das, was er sagt, in diese üblichen Politikreflexe hineingeschoben wird: Darüber darf man nicht reden! Das ist tabuisiert!", sagte Koch. Allerdings nannte Koch die Thesen des Bundesbank-Vorstandsmitglieds Sarrazin "eine sehr rückwärtsgewandte, pessimistische Beschreibung der Zustände, ohne sich eigentlich ernsthaft mit den Optionen und Chancen zur Lösung zu beschäftigen".

Am 30. August tagten der Vorstand der Bundesbank und die SPD-Führung. Ergebnis der Beratungen: Die Bundesbank verzichtet "vorerst" auf einen Antrag auf Entlassung ihres Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin. Sie distanziere sich "entschieden von den diskriminierenden Äußerungen" Sarrazins, erklärte die Bundesbank, die ein baldiges Gespräch mit dem ehemaligen Berliner Finanzsenator ankündigte. Das SPD-Präsidium beschloss dagegen in Berlin die Einleitung eines Parteiordnungsverfahrens gegen Sarrazin.

Sarrazin hingegen sieht keinen Grund für einen Austritt aus der SPD. Er werde in der "Volkspartei" SPD bleiben, so Sarrazin am Montag (30. Aug.) bei der Präsentation seines umstrittenen Buches in Berlin. Er empfahl erneut allen Kritikern, zunächst einmal sein Buch zu lesen. "Es wird dort nichts zu finden sein, was einen Parteiausschluss rechtfertigt", sagte Sarrazin.

Zudem sehe er keinen Anlass, aus dem Bundesbankvorstand zurückzutreten. "Ich sehe mich durch die Meinungsfreiheit in Deutschland gedeckt", sagte Sarrazin. Als Mitglied des Bundesbankvorstands habe er keine dienstlichen Obliegenheiten verletzt.

Wie sehr Sarrazin zum Stichwortgeber der extremen Rechten in diesem Land geworden ist, belegt eine Flugblattkampagne der neofaschistischen NPD in Sachsen [siehe Kasten].

Dokumentiert

NPD-Fraktion wirbt mit Sarrazin-Zitaten in Flugblättern

Der Website der NPD ist folgendes zu entnehmen: *

Mit seinen scharfzüngigen Formulierungen zur islamischen Gefahr hat es Thilo Sarrazin nun erstmals in ein überfremdungskritisches Flugblatt der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag geschafft. Nachdem ein durchgeknallter Kreisrat der Linken unlängst für die schöne deutsche Stadt Freiberg einen Moscheebau forderte, reagierte die NPD-Fraktion umgehend mit einer Kleinen Anfrage an die Staatsregierung und der Erstellung eines Flugblattes. In dem Flugblatt, das in diesen Tagen an viele Briefkästen in Freiberg verteilt wird, heißt es mit Sarrazin als politischem Kronzeugen u.a.:

"Dabei liegt doch genug Faktenmaterial zur islamischen Gefahr vor. Nach Angaben des 'Zentralinstituts Islam-Archiv' in Soest gab es in der BRD 1970 drei Moscheen, 1990 knapp 1.500 und 1997 schon mehr als 2.700 Moscheen und Gebetshäuser. Heute kann von mehr als 3.000 islamischen Zentren im Land der Deutschen ausgegangen werden. Daß Moscheen Brückenköpfe zur Islamisierung unserer Heimat sind, gab der heutige türkische Ministerpräsident Erdogan in seiner Zeit als Istanbuler Bürgermeister offen zu: 'Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten.'

Es ist ein offenes Geheimnis, daß die meisten muslimischen Einwanderer bildungslose Kostgänger des deutschen Sozialstaates sind. Laut der Studie 'Muslimisches Leben in Deutschland' weisen Moslems den geringsten Bildungsgrad aller Ausländergruppen auf. Die 'Frankfurter Allgemeine' schrieb am 24.06.2009: 'Unter den Türken hat die Hälfte keinen Schulabschluss (16,5%) oder nur einen Volksschulabschluss (33,5%). Ähnlich schlecht steht es um die Bildungsabschlüsse bei arabischen Zuwanderern.' Genau daran dürfte Thilo Sarrazin gedacht haben, als er die Ausnutzung unseres Sozialstaates durch orientalische Einwanderer beklagte. Der frühere Finanzsenator von Berlin, dessen Buch 'Deutschland schafft sich ab' in Kürze auf den Markt kommt, sagte: 'Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel… Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert'."


* Quelle: Website der NPD, 29. August 20ß10



Pressekommentare

Der Deutschlandfunk zitiert in seiner Presseschau einige Kommentare zu den umstrittenen Äußerungen von Thilo Sarrazin. **

Dazu schreibt DIE PRESSE aus Wien:

"Mittlerweile gleiten die Thesen des Bundesbankvorstands immer mehr ins Absurde ab: Von einem 'bestimmten Gen', das allen Juden gemeinsam sei, fantasierte er nun in einem Interview. Er zerbricht sich nicht mehr nur über schlechte Schulnoten von Migranten den Kopf, sondern auch über die Auswirkungen der Zuwanderung auf den 'Genpool der europäischen Bevölkerung'. Immerhin müssten sich darin ja Gene aus Schweden genauso befinden wie aus Griechenland und den Balkanstaaten, die lange ein Teil des Osmanischen Reichs waren oder aus Südspanien, wo einst die Mauren herrschten. Es fragt sich, was Sarrazin uns mit seinen bizarren Thesen über angebliche 'genetische Identitäten' eigentlich mitteilen will. Will er damit auch insinuieren, dass unterschiedliche Gene zu unterschiedlichen Verhaltensweisen in der Gesellschaft führen? Oder will er uns mit seinen Thesen und der Provokation vor allem eines sagen: 'Bitte, bitte kauft doch alle mein neues Buch'?, fragt DIE PRESSE aus Österreich.

Der TAGES-ANZEIGER aus Zürich meint:
"Sarrazin legte den Finger auf die Wunde: Migranten mit einer niedrigen beruflichen Qualifikation hätten reduzierte Chancen auf eine ausreichend bezahlte Arbeit. Er schlug unter anderem zwei Maßnahmen vor: Erwerbsfähige, die vom Staat finanzielle Unterstützung erhalten, leisten gemeinnützige Arbeit oder besuchen, falls nötig, Sprachkurse. Und: Kinder ab dem dritten Lebensjahr müssen den Kindergarten besuchen, wo ausschliesslich Deutsch gesprochen wird. Dies dient ihrer Integration. Das sind bedenkenswerte Überlegungen. Doch der Mann, der sie anstellt, hat seine Glaubwürdigkeit verspielt. Gestern sagte er in einem Interview 'Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen.' Sarrazin schob nach, er sei kein Rassist. Für jemanden, der auf dieser Ebene provoziert, kann man sich nicht mehr verwenden", urteilt TAGES-ANZEIGER aus der Schweiz.

"Der Bundesbank-Rassist", titelt die polnische Zeitung GAZETA WYBORCZA und notiert:
"Als die Thesen aus Sarrazins Buch bekannt wurden, gab es umgehend die Forderung nach einem Rauswurf aus dem Bundesbank- Vorstand. Doch dieses Ansinnen ist nicht neu - es wurde in ähnlicher Weise bereits im Herbst letzten Jahres geäußert, als der ehemalige Berliner Finanzsenator in einem Zeitungsinterview behauptet hatte, die türkischen Einwanderer in Deutschland seien zu nichts anderem fähig als Obst zu verkaufen und Mädchen mit Kopftüchern zu produzieren. Sarrazin selbst kümmert sich nicht um die Kritik an seinen Äußerungen. Er wiederholt seine Thesen vor jedem Journalisten, der ihm zuhört, und betont dabei, kein Rassist zu sein. In Deutschland leben 82 Millionen Menschen, davon 3 Millionen muslimische Immigranten, vor allem aus der Türkei. Es ist richtig, dass viele Türken Probleme haben, sich zu assimilieren und in den unteren Klassen der deutschen Gesellschaft leben - ohne Ausbildung und Arbeit. Sarrazin spricht Probleme an, die in der Tat existieren, überhöht sie aber maßlos", befindet die GAZETA WYBORCZA aus Warschau.

** Quelle: Deutschlandfunk, Presseschau, 30. August 2010; www.dradio.de


LINKE für Initiative zur Abberufung Sarrazins

Empörung nach Äußerung über jüdisches Gen ***

Die LINKE hat eine parteiübergreifende Initiative für eine Abberufung des Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin gefordert, der mit immer neuen Äußerungen über Juden und Muslime für Empörung sorgt. »Ich schlage eine parteiübergreifende Resolution vor, die Sarrazin zum Rücktritt oder Bundesbankvorstand, Bundesregierung und Bundespräsident zu seiner Abberufung auffordert«, sagte Parteivize Katja Kipping am Sonntag (29. Aug.) in Berlin.

Sarrazin hatte am Wochenende in verschiedenen Medien seine Ansichten zum Erbgut von Juden und Basken verbreitet. So sagte er in Interviews: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.« Sarrazin will heute in Berlin sein neues Buch vorstellen. Darin warnt er, dass die Deutschen zu »Fremden im eigenen Land« werden könnten.

Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, sagte, man dürfe zu solchen Thesen eines Vorstandsmitglieds der Deutschen Bundesbank nicht schweigen. Auch aus der Bundesregierung kam Kritik. Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) sagte der »Bild am Sonntag«: »Wortmeldungen, die Rassismus oder gar Antisemitismus Vorschub leisten, haben in der politischen Diskussion nichts zu suchen.« Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) sieht die Grenze »eindeutig überschritten«. Bundeskanzlerin Angela Merkel legte der Bundesbank Konsequenzen nahe. Die Bundesbank sei zwar unabhängig, »ich bin mir aber sicher, dass man auch in der Bundesbank darüber sprechen wird«.

*** Aus: Neues Deutschland, 30. August 2010


Ballast-Existenzen

Sarrazin argumentiert wie die NSDAP

Von Knut Mellenthin ****


Deutschland wird immer dümmer: Die Tatsache, daß sein heute in Berlin präsentiertes Antimoslem-Buch schon vor dem Erscheinen außerordentlich hohe Verkaufszahlen aufweist, scheint zumindest auf den ersten Blick die These von Thilo Sarrazin zu bestätigen. Rassistischer, biologistischer und pseudo-darwinistischer Blödsinn kommt an, weil er einem großen Teil der Bevölkerung und der politischen Klasse »aus dem Herzen« spricht. Zur Breitenwirkung seiner ebenso bösartigen wie zutiefst dummen Ausführungen hat die Springerpresse mit Vorabdruck in der Bild und Zwei-Seiten-Interview in der Welt am Sonntag ebenso beigetragen wie unfreiwillig leider auch seine zahlreichen Kritiker. Der Mann, der eigentlich nur noch die Ernte einfährt, wo lange vor ihm schon Henryk Broder, Geert Wilders und andere Rechtspopulisten gesät haben, legt es geradezu darauf an, größtmögliche Aufmerksamkeit durch »Provokation« zu erreichen. Aber kann man einen solchen Hetzer und Ignoranten deswegen ignorieren?

»Wenn er sich ein bißchen tischfeiner ausgedrückt hätte, hätte ich ihm in weiten Teilen zustimmen können«, bekannte Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ganz offen. Sarrazin spreche »die Integrationsprobleme« in Deutschland »zwar überspitzt« an, stimmt auch der Finanzexperte der FDP-Bundestagsfraktion, Frank Schäffler, zu, aber das müsse ja als Methode gar nicht falsch sein. Beifall auch von Necla Kelek, die sich geradezu zwanghaft einstellt, wenn irgendwo Stimmung gegen »die Moslems« gemacht wird. »Ich teile Sarrazins Sorge um Deutschland.«

Sarrazin hat ausgerechnet, daß in 90 Jahren die jährliche Geburtenzahl bei 200000 bis 250000 liegen werde und daß höchstens die Häfte davon Nachfahren der 1965 in Deutschland gelebt habenden Bevölkerung sein würden. Auf diese Weise würden sich die Deutschen selbst abschaffen. 1933 war es der Innenminister der NSDAP, Wilhelm Fricke, der sich ähnliche Sorgen machte: »Bei seiner heutigen Geburtenziffer« sei das deutsche Volk »nicht mehr imstande, sich aus eigener Kraft zu erhalten«. Die deutschen Frauen müßten um 30 Prozent höhere »Gebärleistungen« erbringen, »um den Volksbestand in der Zukunft zu sichern«.

Ebenso wie Sarrazin hatte es Hitlers Innenminister neben der abnehmenden Geburtenzahl auch »die Güte und Beschaffenheit unserer deutschen Bevölkerung« angetan. Die sah er allerdings anders als Sarrazin nicht durch Migranten – die es damals noch nicht in nennenswerter Zahl gab – und angeblich genetisch »minderintelligente« Unterschichtsangehörige gefährdet, sondern durch »Erbkranke« und »Schwachsinnige«. Wie man sich später die sogenannten Ballast-Existenzen– ein Begriff, der durchaus auch bei Sarrazin stehen könnte, wenn er nicht historisch allzu belastet wäre – vom Halse schaffte, ist bekannt. So weit würde selbstverständlich heute niemand mehr gehen.

**** Aus: junge Welt, 30. August 2010


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