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Das Kopftuch oder die Möglichkeiten antirassistischer Erziehung

Ein Kommentar von Sabine Schiffer

Es ist schon paradox: Da wollen wir die Musliminnen befreien und die wollen gar nicht. Da geht doch eine hin und klagt darauf, ihr Kopftuch tragen zu dürfen. Ist es nicht das Symbol weiblicher Unterdrückung schlechthin? Inzwischen ist die Bedeutung dieses Stückchens Stoff dermaßen überfrachtet, dass auch richterliche Entscheidungen ihm kaum neutral gegenüberstehen können. Inzwischen hat das Tuch so viele Bedeutungen angenommen, dass die Karlsruher Richter vor einem klärenden Grundsatzurteil anlässlich der Klage Fereshta Ludins zurückgeschreckt sind, obwohl sie es irgendwann werden fällen müssen. Es ist aber auch nicht leicht, sich an seinen eigenen Maßstäben messen zu lassen. Viel leichter ist es da in die EU-anwartende Türkei zu blicken, die ein solches Kopftuch in keinem öffentlichen Amt oder gar Gebäude dulden würde. Dabei übersieht man leicht, dass es sich hierbei um einen laizistischen Staat handelt, was die Bundesrepublik nicht ist. Somit hinkt der Vergleich und sagt lediglich aus, dass man religiöse Symbole - wozu das Kopftuch degradiert wurde - aus staatlichen Institutionen heraushalten kann.

Eine solche Entscheidung setzt eine sachliche Diskussion voraus, die alle religiösen Symbole umfasst, aber genau diese ist hier nicht zu erwarten. Denn das Kopftuch hat schon eine lange Karriere hinter sich. Vor allem seit der Machtübernahme Khomeinis im Iran 1979 ist es nicht mehr nur auf dem Kopf, sondern in aller Munde. An seiner Beschaffenheit machen wir den Grad der Freiheit fest, den seine Trägerinnen angeblich genießen. Als Symbol für die Unterdrückung der muslimischen Frau durch den Islam, vertritt es gleichzeitig noch die Repression, die man dem Islam allgemein zutraut. Der Zunahme an Symbolen wie Kopftuch und Bart steht eine zunehmend stereotype Wahrnehmung gegenüber, die sich seit dem 11. September für wahr erklärt zu haben scheint: Äußere Zeichen des Islams als offensichtliche Zeichen der Ablehnung westlicher Kultur- und Demokratieverständnisse. Nun gibt es solche Ablehnung ja tatsächlich, aber nicht unbedingt äußerlich erkennbar - und wie kann man der Verallgemeinerungsfalle entgehen? Aus der Psychologie ist bekannt, dass Ablehnung die radikalen Kräfte stärkt. Die Anstrengungen derjenigen, die sich um eine realistische Einordnung des Islams in Europa bemühen, werden damit torpediert.

Dabei ist die Symbolüberfrachtung des Kopftuchs durchaus hausgemacht. Frau Ludin selber betont immer wieder ihre religiöse Selbstfindung und die Symbolhaftigkeit ihres Kopftuchtragens. Dabei würde der Hinweis auf die kulturelle Eigenheit schon ausreichen, die persönliche Schamgrenze betreffend Oder würden wir etwa in Kulturen, die sich nackt präsentieren, ohne oder mit wenig Bekleidung leben und arbeiten - um uns der Umgebung anzupassen? Würde die persönliche Schamgrenze im Vordergrund der Diskussion stehen, wäre selbige eine ganz andere. Jetzt müssen wir uns mit religiöser Toleranz auseinander setzen und zwar auf beiden Seiten. Eine bundeseinheitliche Regelung ist dabei notwendig, weil dies die Frage der Trennung von Religion und Staat betrifft. Darum werden die Gesetzesversuche der Länder auch wieder beim Bundesverfassungsgericht landen, weil sie das Grundgesetz selbst betreffen. Schön, wenn die Verfassungsrichter diese Arbeit gleich erledigt hätten und nicht erst rassistischen Polemikern ein Forum öffentlichen Konflikt-Schürens geboten hätten.

Wie real ist die Gefahr? Gibt es wirklich eine Überfremdung? Wird sich hier nicht unsere Geschichte dahingehend wiederholen, dass man sich irgendwann wundert, wie man vor 3% der Bevölkerung solche Angst haben konnte? Die Möglichkeit besteht, dass irrationale Ängste eine sachliche Auseinandersetzung erschweren. Ein Beispiel dafür liefert die Frage nach dem Frauenbild, das wir unseren Kindern doch nicht vermitteln wollen - dabei soll eine kopftuchtragende Frau diametral unseren emanzipatorischen Rollenvorstellungen gegenüber stehen. Welches Bild vermittelt aber eine Lehrerin mit Kopftuch, die doch durch ihren Beruf eindeutig demonstriert, dass sie eine studierte und damit - allgemein hin anerkannt - eine emanzipierte Frau ist? Spielt uns hier vielleicht eine andere Angst einen Streich - die vor dem Zusammenbruch unserer Klischeevorstellungen?

Die Aufforderung, das Gefahrenpotenzial für Schüler abzuschätzen, zeugt von einer tief sitzenden Angst, die wir etwa bei der Diskussion um Mediengewalt vermissen. Wird doch bezüglich der Problematik von Gewaltdarstellungen immer noch darüber gestritten, ob sie destruktiv und gefährlich für unsere Kinder sind und will auch niemand das Wort ,Verbot' in diesem Kontext auch nur in den Mund nehmen, so scheint diese Fragestellung bezüglich des Kopftuchs angebracht zu sein. Dabei würde ein Blick in die Rassismusforschung schnell zeigen, wo es lang gehen muss.

Antirassistische Erziehung ist dann am erfolgreichsten, wenn in der Umgebung des Kindes alle Lebensformen unkommentiert - also unmarkiert - vorkommen, einfach vorhanden und damit normal sind. Dies gilt für Hautfarben ebenso wir für andere Merkmale, die wir Erwachsenen gelernt haben als "(sehr) anders" wahrzunehmen: Behinderungen, religiöse Merkmale, Kleidung, Augen- und Körperformen usw. Die Umwelt ist aber nicht so idealtypisch wie sich die Pädagogen das wünschen würden. Zur Kompensation kann man Medien heranziehen, in denen die genannten Personengruppen vorkommen - Bilderbücher, Fernsehsendungen usw. - hier können Medien eine sehr positive Rolle spielen. Wichtig ist dabei nur, dass alles einfach vorkommt und nicht besonders herausgestellt wird. Also ein Rollstuhlfahrer im Zoo ebenso wie der Dicke. Schwarze, Asiaten, Merkmalsträger verschiedenster Religionen, Jungen und Mädchen in allen Lebenssituationen und nicht in stereotypen Kontexten. Noch besser, wenn die Lebensumwelt des Kindes diese Realitäten bietet - und zwar schon so früh wie möglich, dann werden Unterschiede einfach angenommen, sie werden nicht thematisiert oder gar als kurios empfunden.

"Mama, die Lisa hat mich gehauen!" "Wer ist Lisa?" "Die mit dem grünen T-Shirt", sagt der 4-Jährige Jonas. Die Mutter sucht und findet Lisa nicht in der Kindergartengruppe. Dann kommt Jonas und zerrt ein schwarzes Mädchen mit sich. "Da ist sie." Und in der Tat, sie hat ein grünes T-Shirt an. Jetzt sieht die Mutter das auch. Diese reale Geschichte ist eine von vielen, die zeigt, wie der selbstverständliche Umgang mit verschiedenen Hautfarben dieses Merkmal des menschlichen Äußeren als ,nicht relevant' einstufen lässt, ebenso wie Schuhgröße oder Nasenform. Umgekehrt ist es möglich, Kategorien zu etablieren. Teilt man die Kinder immer in Blonde und Dunkelhaarige ein, dann meinen die Kinder sehr bald, dass die Haarfarbe ein relevantes Unterscheidungskriterium menschlicher Eigenschaften ist.

Nun stellen wir uns vor, es gäbe eine oder einige Lehrerinnen mit Kopftuch an der Schule. Oder besser noch im Kindergarten. Solange es nicht thematisiert wird, kommt es dann einfach vor, ist für die Kinder normal, fällt ihnen nicht weiter auf. Dies wäre der Idealfall antirassistischer Erziehung. Alles, was traditionsgemäß markiert ist, einfach vorkommen lassen. Natürlich reicht es auch aus, wenn kopftuchtragende Frauen einfach so in der Umgebung vorkommen - unkommentiert und ganz normal. Eine Gefahr für unsere Kinder ist aber der polemische Umgang um dieses Stück Stoff bzw. seiner Trägerinnen. Die derzeit stattfindende Markierung wird bei den Kindern schnell eine besondere Wahrnehmung für eine Kopftuchträgerin erwecken. Schade!

Bezüglich der muslimischen Frauen, die Kopftuch tragen, würde ich mir wünschen, dass man ihnen genauso wenig Kleidungsvorschriften macht, wie anderen Mitbürgern. Dennoch sollte auch bestimmt werden, dass das Vermummungsverbot freilich weiterhin gilt und es Grenzen der Kleidungsfreiheit für alle gibt. Diesem ins Polemische abdriftende Bedrohungsszenario radikaler Feministinnen, die vor der Burqa in Deutschland warnen, ist damit von vornherein der Boden entzogen.

Natürlich darf eine Kultur selbst bestimmen, wie tolerant sie sein mag bzw. was sie als Grenze ihrer Toleranz definiert - so auch die unsere. Orientieren wir und am Beispiel Frankreichs, das den Laizismus vorschreibt? Oder eher an England, das nicht nur kopftuchtragende Lehrerinnen, sondern auch Polizistinnen und Polizisten - turbantragende Six - hat? Der Maßstab für Bestimmungen muss der eigene sein und diesen gilt es nun festzulegen. Dabei hoffe ich auf besonnene Diskutanten, die hinter den Symbolen die Menschen zu sehen vermögen. Eine Kultur, die ihrer selbst sicher ist, braucht sich nicht zu fürchten. Die derzeitige Diskussion sagt also vor allem etwas über uns selbst aus.


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