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Rassistische Gewalt um 22 Prozent gestiegen

Kriminalstatistik 2011 vorgestellt: Innenminister Friedrich zählt Rekord politisch motivierter Straftaten *

Auch 2011 hatten die meisten politisch motivierten Straftaten einen rechtsextremen Hintergrund. Besonders eklatant ist der Anstieg der fremdenfeindliche Gewalt: Wie das Bundesinnenministerium am Freitag in seiner jährlichen Kriminalstatistik mitteilte, sind rechts motivierte Übergriffe auf Personen im vergangenen Jahr »in erschreckendem Umfang« um ca. 22,7 Prozent angestiegen. Die Zahl rechter Straftaten verzeichnete ein Plus von drei Prozent auf insgesamt 16873 Delikte. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich verwies in seiner Erklärung auf die der rechtsextremen Kriminalität »innewohnende Brutalität«. Diese offenbare sich in einer deutlich höheren Quote an Verletzten im Verhältnis der Gewalttaten aus diesem Spektrum. 60 Todesopfer rechter Gewalt verzeichnet das Innenministerium seit dem Jahr 1990. Opferberatungsprojekte deutschlandweit gehen allerdings von mindestens 150 Todesopfern im gleichen Zeitraum aus.

Insgesamt hätten als politisch motiviert definierte Straftaten 2011 einen Höchststand erreicht. Demnach wurden in Deutschland 30216 derartige Delikte gemeldet. Dies bedeute einen bundesweiten Anstieg gegenüber dem Vorjahr um 11,2. Für Gewalttaten mit politischem Hintergrund konstatierte die Behörde eine Zunahme um rund 17,9 Prozent auf 3108 Delikte. Laut dem Innenministerium ist damit der »bislang höchste Wert bei den politisch motivierten Gewalttaten« seit der Einführung des Erfassungssystems im Jahre 2001 erreicht worden.«

Friedrich verwies auch darauf, daß sich 2011 erstmals ein islamistisch motivierter Terroranschlag in Deutschland ereignete, bei dem auf dem Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten starben. Im gleichen Jahr wurden die Taten der faschistischen Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) aufgedeckt, die über mehrere Jahre hinweg mindestens zehn Menschen getötet hatten. Den Angaben des Innenministeriums zufolge stieg die Zahl der Gewalttaten im »linksextremen Spektrum« um 31,4 Prozent. (jW/Reuters/AFP)

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Mai 2012


Vernebelter Blick

Bilanz politisch motivierter Gewalt Von Ulla Jelpke **

Die jährliche Statistik über Politisch motivierte Kriminalität (PMK), die Bundesinnenminister Hans Peter Friedrich (CSU) gestern wieder vorgestellt hat, ist selbst ein Politikum. Das kann kaum überraschen. Kommunen haben kein Interesse an einer adäquaten Erfassung des faschistischen Gewaltspektrums in ihren Gemeindegrenzen; Landeskriminalämter und auch die Bundesregierung sind permanent bemüht, das Ausmaß der rechten Gewalt niedriger erscheinen zu lassen, als es ist.

Erst vor wenigen Wochen war wieder so ein Fall: Jemand hat einem anderen ein Hakenkreuz in die Frisur rasiert, damit der damit auf ein Volksfest geht – ein klarer Fall der Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen und der Beihilfe dazu. Auch die Polizei hat keinen Zweifel daran, daß die Täter von der Rechtswidrigkeit ihres Tuns wußten. Aber: Die Tat wird der »sonstigen Kriminalität« zugeordnet.

Trotz solcher Manipulationen muß selbst Friedrich einräumen: Keine politische Richtung verübt so viele Straftaten und zugleich so brutale Gewaltattacken wie die Nazis. Aber weil ihm dieser Befund nicht paßt, beginnt er sogleich damit, ihn zu relativieren: Zum einen verharmlost er die Nazigewalt, in dem er die Zahl jener Menschen, die seit 1990 wegen »undeutschen« Aussehens, Verhaltens oder Denkens von Nazis ermordet worden sind, auf 60 herunterrechnet. Medien und zivilgesellschaftliche Initiativen gehen seit langem von 150 Opfern aus. Zum anderen behauptet er, trotz dieser nicht nur von dem Nazimördertrio »NSU« gezeichneten Blutspur, es sei der islamistische Terrorismus, »von dem nach wie vor die größte Gefährdung ausgeht«.

Friedrich zeigt damit, wie sein notorischer Unwille, den Islam als Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu akzeptieren, ihm selbst die Sicht auf die Wirklichkeit vernebelt. Der Katholik Friedrich kann sich die Konkurrenzreligion Islam nur als das Andere, Böse, vorstellen. Dadurch erklärt sich dann wohl auch, daß sein Ministerium, zu rassistischen und muslimfeindlichen Angriffen auf Moscheen befragt, eine extrem lückenhafte Auflistung vorlegt und etliche Angriffe »übersieht«. Die Volksverhetzer von Pro NRW werden dergleichen goutieren.

Ansonsten läßt der Minister keinen statistischen Trick aus, um »Linksextremisten« als die schlimmeren Schläger darzustellen. Vor allem auf die Polizei hätten sie es abgesehen, klagt er und fordert eine Initiative zur Ächtung von Gewalt. Es käme vielleicht auf einen Versuch an: Die Partei Die Linke könnte sich einer solchen Initiative anschließen. Wenn sie auch die Polizei erfaßt, die bekanntlich immer häufiger Pfefferspray gegen friedliche Demonstranten einsetzt, besonders gern auch bei passiven Sitzblockaden, und damit die Verletztenzahlen bei Antifaschisten in die Höhe treibt. Nur zählt die halt keiner, genausowenig wie diejenigen von Wasserwerfern und Schlagstöcken Getroffenen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Mai 2012

Dokumentiuert: Die Presseerklärung des Innenministeriums

Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2011
Bundesminister Friedrich: Anlass zur Sorge – die Zahl der politisch motivierten Gewalttaten ist auf einem Höchststand (Auszüge)


Für das Jahr 2011 wurden in Deutschland insgesamt 30.216 politisch motivierte Straftaten gemeldet. Dies bedeutet bundesweit einen Anstieg gegenüber dem Jahr 2010 (27.180) um rd. 11,2 %; bezogen auf die politisch motivierten Gewalttaten ist mit insgesamt 3.108 Delikten im Vergleich zum Vorjahr (2.636) eine Zunahme um rd. 17,9 % zu verzeichnen. Damit ist seit Einführung des derzeit geltenden Definitions- und Erfassungssystems im Jahre 2001 der bislang höchste Wert bei den politisch motivierten Gewalttaten erreicht worden. Zwei Todesopfer sind zu beklagen: Am 2. März 2011 verübte ein Einzeltäter einen Schusswaffenanschlag auf US-Soldaten in einem Militärbus auf dem Gelände des Flughafens Frankfurt/Main bei dem zwei US-Soldaten getötet und zwei weitere schwer verletzt wurden.

Hierzu erklärt der Bundesminister des Innern Dr. Hans-Peter Friedrich:

"Die politisch motivierte Kriminalität in 2011 war von zwei Ereignissen geprägt, die uns noch lange in trauriger Erinnerung bleiben werden: Erstmals ist in Deutschland ein islamistisch motivierter Terroranschlag vollendet worden. Zudem wurde die rechtsterroristische Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)" aufgedeckt, die über 13 Jahre im Untergrund gelebt und in dieser Zeit mindestens zehn Menschen getötet hat."

"Auch unabhängig davon verzeichnet die Statistik für das vergangene Jahr einen Höchststand bei den politisch motivierten Gewalttaten. Sie stehen vor allem in den Bereichen der politisch motivierten Kriminalität–links und der politisch motivierten Kriminalität-Ausländer im Zusammenhang mit Demonstrationen. Damit hat sich die Befürchtung bestätigt, wonach der deutliche Rückgang der linken Gewalttaten im Jahr 2010 wohl eher eine Ausnahme von dem aus der Langzeitbetrachtung ablesbaren Trend einer seit 2005 steigenden bzw. zumindest auf hohem Niveau verharrenden linken Gewaltbereitschaft war."

"Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität-rechts haben die fremdenfeindlichen Gewalttaten mit ca. 22,7 % gegenüber dem Vorjahr in erschreckendem Umfang wieder zugenommen."

"Die diesem Phänomenbereich generell innewohnende Brutalität zeigt sich auch an der im aktuellen Vergleich zu den anderen Phänomenbereichen deutlich höheren Quote an Verletzten beim Vergleich Zahl der Verletzten zu der Anzahl der Gewalttaten. Auch wenn insgesamt die Zahl der rechten Straftaten im vergangenen Jahr mit rd. 3% weitaus weniger als in den anderen Phänomenbereichen angestiegen ist, so dürfen wir zweierlei nie aus dem Auge verlieren: Die meisten politisch motivierten Straftaten haben seit Jahrzehnten einen rechtsextremen Hintergrund. In keinem Phänombereich sind bei einer Langzeitbetrachtung so viele Todesopfer zu beklagen: Unter Berücksichtigung der Morde des NSU und des bisherigen Ergebnisses der noch andauernden Überprüfung von Altfällen auf etwaige rechtsextreme Hintergründe sind bislang 60 Todesopfer rechter Gewalt seit dem Jahr 1990 zu verzeichnen."


Die Morde und Anschläge des "NSU" sind – entsprechend den vom Bund und den Ländern im Jahr 2001 gemeinsam beschlossenen Regularien zur statistischen Erfassung der politisch motivierten Kriminalität – bei dem Jahr erfasst worden, in dem die jeweilige Tat begangen worden ist.

"Die Erfahrungen mit der rechtsterroristischen Gruppierung "NSU" haben auch noch einmal deutlich die Grenzen der Statistik vor Augen geführt und uns bewusst gemacht: Eine zutreffende Zuordnung von Straftaten zur politisch motivierten Kriminalität gelingt nicht immer zeitnah“, erklärte der Bundesinnenminister weiter. „Auch zeigt gerade der die wenigsten Straftaten aufweisende Bereich der politisch motivierten Ausländerkriminalität, zu dem auch der islamistische Terrorismus gezählt wird, vom dem nach wie vor die größte Gefährdung ausgeht, wie wenig gerade bezogen auf kleine Phänomenbereiche die Statistik zur Einschätzung der Bedrohungslage taugen kann. Letztlich ist die Statistik nur als eines von mehreren Instrumenten zur Einschätzung der von der politisch motivierten Kriminalität insgesamt wie auch von den jeweiligen Phänomenbereichen ausgehenden Gefahren zu sehen, das vor allem zur Analyse der Motivation der Täter anhand der Themen und Angriffsziele sowie der Tatgelegenheiten dient."

(...)

Der generell in allen Phänomenbereichen zu beobachtende Straftatenanstieg gegenüber dem Vorjahr dürfte vor allem durch die sieben in 2011 durchgeführten Landtags- bzw. Bürgerschafts- oder Abgeordnetenhaus-Wahlen bedingt sein. Darauf deutet auch die in allen Phänomenbereichen festzustellende erhebliche Zunahme von einfachen Sachbeschädigungen um 31,6 % hin, die im Zusammenhang mit Wahlen zumeist im Beschmieren oder Zerstören von Wahlplakaten bestehen. Letztlich standen 5 % aller PMK-Straftaten in einem Kontext zu diesen Wahlen.

Auch hat sich das Jahr 2011 durch ein umfangreiches Demonstrationsgeschehen ausgezeichnet. Dementsprechend haben auch die Straftaten im Zusammenhang mit Demonstrationen in fast allen Phänomenbereichen – mit Ausnahme der PMK-sonstige – nicht nur gegenüber dem Vorjahr deutlich zugenommen, sondern ist mit 4.719 Fällen insgesamt sowie mit 1.319 Gewalttaten jeweils die höchste Deliktszahl bei dem Thema „Demonstrationen“ seit 2001 registriert worden.

Die Zahl der Straftaten zum Unterthema „Polizei“ ist um 14,8 % und damit zum vierten Mal in Folge deutlich gestiegen. Mit insgesamt 3.317 Fällen, von denen 1.284 Gewalttaten waren, ist insofern in 2011 ein neuer Höchstwert erreicht worden. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass insoweit auch in den Bereichen der PMK-links und der PMK-Ausländer jeweils neue Höchststände registriert wurden; trotz des gegenüber dem Vorjahr insofern eingetretenen Rückgangs in den Bereichen der PMK-rechts und PMK-sonstige wurden dort jeweils immer noch die zweithöchsten Werte seit 2001 bei diesem Unterthema erreicht.

Im Einzelnen entfielen mit rd. 70,3 % (Vorjahr: rd. 49,3 %) die weitaus meisten dieser Fälle auf den Bereich der PMK-links (2011: 2.332, 2010: 1.424); es folgen die Bereiche der PMK-rechts mit rd. 17,8 % (2011: 591; 2010: 864), der PMK-sonstige mit 8,3 % (2011: 274; 2010: 527) und der PMAK mit 3,6 % (2011: 120, 2010: 74)

Als häufigste Deliktsart fielen nach wie vor die Propagandadelikte mit einem Anteil von rd. 42,3 % (Vorjahr 47,1 %) am Gesamtstraftatenaufkommen auf; im Bereich der PMK-rechts machten sie mit rd. 68,0 % mehr als zwei Drittel der gesamten Straftaten aus. Sachbeschädigungen folgen mit einem Anteil von 23,5 % (Vorjahr 19,8 %); im Bereich der PMK-links stellen sie mit rd. 46,6 % der Fälle den am häufigsten verwirklichten Tatbestand dar.

Innerhalb der Gewaltdelikte nahmen die Körperverletzungen in jedem der Phänomenbereiche den größten Anteil ein. (...)

Dabei richteten sich 635 der Körperverletzungsdelikte (Vorjahr 572) und damit 34,4 % der Fälle (Vorjahr 32,6 %) gegen Polizeikräfte; in 73,4 % der Fälle (Vorjahr 78,7 %) bestand ein Zusammenhang zu Demonstrationslagen. Mehr als drei Viertel der Körperverletzungen gegenüber Polizeibeamten (498 Fälle) sind dem Bereich der PMK-links zugeordnet worden.

In 347 Fällen wiesen die Körperverletzungen einen fremdenfeindlichen Hintergrund auf; davon entfielen 97,4 % (= 338 Fälle) auf den Bereich der PMK-rechts.

Im Jahr 2011 wurden insgesamt elf Tötungsdelikte verzeichnet (2010: 14). Neben dem bereits genannten vollendeten Tötungsdelikt mit zwei Todesopfern im Bereich PMAK sind zehn versuchte Tötungsdelikte gemeldet worden: Fünf dieser Versuche sind der PMK-rechts, drei der PMK-links und zwei der PMAK zugeordnet worden.

Mit insgesamt 2.314 Personen (Vorjahr: 1.955) hat die Zahl der durch politisch motivierte Gewalttaten körperlich verletzten Personen um 18,4 % zugenommen. Rd. 48,6 % (= 1.124; Vorjahr: 43,7 % = 855) waren Opfer linker Gewalt und rd. 37,7 % (= 824; Vorjahr: 42,1 % = 824) Opfer rechter Gewalt.

Die fremdenfeindlichen Straftaten im Jahr 2011 haben insgesamt um 16,7 % (2011: 2.528;2010: 2.166) zugenommen; bezogen auf die Gewalttaten ist mit rd. 21,1 % (2011: 373; 2010: 308) der Anstieg überproportional im Vergleich zur Entwicklung der politisch motivierten Gewaltkriminalität.

Hingegen ist bei dem antisemitischen Straftatenaufkommen nach einem erneuten Rückgang um - 2,3 % (2011: 1.239; 2010: 1.268) das zweite Jahr in Folge der niedrigste Stand seit 2001 registriert worden. Der Rückgang bei den antisemitischen Gewalttaten beträgt - 21,6 % (2011: 29; 2010: 37); insofern wurden die zweitniedrigsten Werte seit 2001 erreicht.

Die Aufklärungsquote liegt sowohl bei den Straftaten insgesamt mit 38,7 % als auch bei den Gewalttaten mit 55,6 % unter der des Vorjahres (40,8 % bzw. 62,1 %).

Quelle: Website des Bundesinnenministeriums; www.bmi.bund.de




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