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Gerechtigkeit ... nicht Rache!

Zum Tod von Simon Wiesenthal: Ein Porträt des "Doyens" der internationalen Täter(aus)forschung

Der Holocaust-Überlebende und bekannteste Verfolger von NS-Verbrechern, Simon Wiesenthal, ist tot. Wiesenthal starb im Alter von 96 Jahren in Wien, wie es am 20. Sept. auf der Internetseite des von ihm gegründeten Simon-Wiesenthal-Zentrums in Los Angeles hieß. Wiesenthal sei "das Gewissen des Holocaust" gewesen und habe in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, mehr als 1100 Kriegsverbrecher aus der Zeit des Nationalsozialismus vor Gericht zu bringen.
Im Folgenden erinnern wir an Simon Wiesentahl mit einem Poträt von Anton Legerer, Jr., das 1998 in der "Jüdischen Rundschau" veröffentlicht wurde. Es befindet sich auf der Website von haGalil e.V. (www.hagalil.com/).



Biographen, Journalisten, Freunde und Gegner haben Simon Wiesenthal mit zahlreichen Etikettierungen versehen. Je nach Motivation wird Wiesenthal als "Unbequemer Zeitgenosse", "Obsessiver Wahrheitssucher", "lebene Legende", "Störfaktor" und "Provokateur" der österreichischen Innenpolitik, "Gestapo-Kollaborateur", "Personifiziertes jüdisches Gewissen", "Don Quichotte oder James Bond", "Praktischer Philosoph" oder - geläufigste und zum Synonym gewordene Beifügung - "Nazi-Jäger" bezeichnet.

Simon Wiesenthal selbst bezeichnet sich in seinen Erinnerungen als "Kriminalist", Briefe unterschreibt er als "Diplomingenieur" und mit dem Zusatz "Leiter des Dokumentationsarchivs des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes". Der am 31. Dezember 1908 in Buczacz, Galizien, damals zu Österreich-Ungarn, heute zur Ukraine gehörend, geborene Wiesenthal hatte in Prag und Lemberg Architektur studiert und sein Studium 1940 abgeschlossen, was 35 Jahre später übrigens von Bruno Kreisky angezweifelt wurde. Mittlerweile ist Dipl.-Ing. Simon Wiesenthal vielfacher Ehrendoktor. Die britische Journalistin Hella Pick, von der die jüngste Wiesenthal-Biographie stammt, hat genau mitgezählt: Anfang Dezember waren es 18 Ehrendoktorate, die Wiesenthal von Universitäten auf der ganzen Welt überreicht worden waren. Sieben der Ehrendoktorate stammen, ganz im Sinne von Simon Wiesenthals Lebens- und Arbeitsmaxime und zugleich Titel seiner 1988 publizierten Erinnerungen "Recht, nicht Rache", von rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Seinem Rechtsverständnis nach, das bekräftigte der 90jährige zuletzt vor wenigen Wochen, sollten die Naziverbrecher niemals Ruhe vor der rechtsstaatlichen Ahndung ihrer Verbrechen haben. Diesem Leitspruch blieb er auch dann treu, als die ehemaligen Alliierten während des kalten Krieges ihr Interesse an der Ahndung von Naziverbrechen verloren hatten, Israel mit seinem Aufbau und die Täterländer mit dem Vertuschen und ihrer Rückkehr zur Normalität beschäftigt waren. Wiesenthal bezeichnet den kalten Krieg denn auch als einen "Krieg mit Ost und West als Verlierer und den Naziverbrechern als Gewinnern".

Wiesenthals Leben war mehrfach in Gefahr und jedes Überleben hätte Rachegelüste und Lynchjustiz anstelle der Wiesenthal'schen Beharrung auf rechtsstaatlicher Gerichtsbarkeit verständlich und nachvollziehbar gemacht: abgesehen von den Lebensbedingungen in den mehr als einem Dutzend Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern als mittelbare Lebensbedrohung, war er von der unmittelbaren Ermordung durch Erschießung von der ukrainischen Miliz (1941) und von der deutschen SS (1944) sowie durch ein Sprengstoffattentat von Neonazis (1982) bedroht. 1962 wurde selbst das Lebens von Wiesenthals 1946 geborener und heute in Israel lebenden Tochter Paulinka bedroht.

Begonnen hatte Wiesenthals Tätigkeit mit dem Ende des Nationalsozialismus und der Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich, am 5. Mai 1945 durch amerikanische Truppen. Der 1,80 Meter große Simon Wiesenthal war auf kaum 50 Kilogramm abgemagert, und es wurden ihm nur geringe Überlebenschancen eingeräumt. Zudem hatte er praktisch keine Hoffnung, seine ihm 1936 angetraute Frau Cyla, der er im Herbst 1942 "arische" Ausweisdokumente beschaffen und ihr damit - wie sich im Laufe des Jahres 1945 herausstellen sollte - erfolgreich das Überleben in Warschau sichern konnte, jemals wiederzusehen. Die Kraft zum Weiterleben schöpfte er aus seiner selbst gestellten Aufgabe, eine Liste mit ihm bekannten Verbrechen und Verbrechern zusammenzustellen. Seine Replik auf Vorwürfe der Agententätigkeit Jahrzehnte später: "Meine einzigen Auftraggeber waren mein jüdisches Gewissen, meine Treue zum jüdischen Volk und das Andenken an die Toten". Bereits im Versteck in Lemberg nach seiner Flucht hatte er Erlebnisse und Berichte in einem später von den Nazis entdeckten Tagebuch festgehalten. Am 21. Mai übergibt Wiesenthal seine Liste mit 91 Namen den amerikanischen Behörden. Er beginnt, mit dem U.S. War Crimes Office zu arbeiten und wird schon im Juli vom Office of Strategic Services (OSS) mit der Suche nach einem Adolf Eichmann beauftragt. Die Suche nach dem Mastermind der Endlösung sollte ihn bis dessen Ergreifung 1960 nicht mehr loslassen. Seine Verdienste um die Auffindung und Ergreifung von Eichmann sind bis heute nicht ganz geklärt. Wiesenthal selbst sieht seine Rolle bescheidener als es die Kritik an ihm implizieren würde. Anfang Dezember betonte er in einem Vortrag, daß Eichmanns Auffinden Teamarbeit zugrunde gelegen wäre, und als sein Hauptverdienst reklamierte er, daß er "die Suche nie aufgegeben", und 1947 die von Eichmanns Frau Vera beantragte gerichtliche Todeserklärung verhindert hätte. Erste Gerüchte über den Aufenthalt Eichmanns in Argentinien habe er bereits 1953 erhalten und sowohl an den WJC als auch an die israelische Botschaft weitergegeben.

Wiesenthal befragte die jüdischen Vertriebenen (DPs) in den Flüchtlingslagern in Österreich, Italien und Deutschland und wendete als erster systematisch die Methode der "Oral History" an. Die Arbeitsziele des 1947 mit anderen Heimatlosen in Linz gegründeten "Zentrums für jüdische historische Dokumentation" waren die historische Dokumentation, die systematische Auswertung der Zeugenaussagen in selbsterlebte, selbstbeobachtete oder durch Dritte erhaltene Informationen sowie das Anlegen von Karteien der Täter und der Tatorte. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit kommt Wiesenthal in seiner Arbeit mit einem bis heute bestehenden Tabu in Berührung, der Kollaboration von Juden mit dem Naziregime. Das Dokumentationszentrum wird 1954 geschlossen, und Wiesenthal übersendet die Unterlagen, "über eine Tonne jüdische Zeitgeschichte", nach Jad Vaschem.

Nach der Ergreifung Eichmanns gründet Wiesenthal 1961 - von der IKG beauftragt - erneut ein Dokumentationszentrum. Nach heftigen Auseinandersetzung um die von ihm kritisierte politische Vereinnahmung der Kultusgemeinde durch die Sozialistische Partei führt er das Dokumentationszentrum ab 1963 im Rahmen des von ihm gegründeten "Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes". 1963 gelingt es Wiesenthal auch, jenen aus Wien stammenden Polizisten auszuforschen, der die versteckte Anne Frank, ihre Familie und deren Freunde verhaftet und deportiert hatte. Karl Josef Silberbauer war nach dem Krieg ab 1954 wieder in den Wiener Polizeidienst aufgenommen worden. Die Aufdeckung seiner Vergangenheit hatte die Versetzung in den Innendienst zur Folge. Wichtiger als die persönliche Bestrafung Silberbauers war aber der implizite und aufgrund neonazistischer Propaganda notwendig gewordene Beweis für die Authentizität von Anne Franks Geschichte und Tagebuch. Von den großen Naziverbrechern geht die Verhaftung des Kommandanten von Treblinka, Franz Stangl, auf Wiesenthals Recherchen zurück. Stangl wurde 1970 in Deutschland wegen Beihilfe zum Massenmord an 400.000 Menschen verurteilt und starb im Jahr darauf im Gefängnis. Als spektakulärer Fall, der die amerikanische Öffentlichkeit bewegte, gilt jener der Hermine Ryan-Braunsteiner, der Kindermörderin von Majdanek, die Wiesenthal in New York ausfindig machte, und die 1973 an Deutschland ausgeliefert und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Bei der Ausforschung der Fluchtwege hochrangiger Täter stieß Wiesenthal auf die mit dem Vatikan in Verbindung stehende Naziorganisation "Odessa". Wiesenthals Erkenntnisse wurden von Frederick Forsyth zu dem in 17 Sprachen übersetzten und verfilmten Bestseller "Die Akte Odessa" (1972) verarbeitet.

Die Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden verlief nicht immer ohne Friktionen. Wegen seiner völligen Unabhängigkeit und starken moralischen Überzeugung, die frei von parteipolitischem Kalkül oder übergeordneten strategischen weltpolitischen Überlegungen ist, fanden Wiesenthals Bemühungen unterschiedliche Aufnahme. Von einem Beispiel passiven Widerstandes weiß der Wiener Historiker Winfried Garscha zu berichten: Nach Betreten eines von ihm oftmals aufgesuchten Gerichtsgebäudes verständigte der Portier die Staatsanwälte telefonisch von Wiesenthals Anwesenheit, damit sie die nötigen Abwehrmaßnahmen treffen könnten - sie versperrten ihre Bürotüren.

Zwei ganz unterschiedliche prominente Fälle, die Wiesenthal zu seinem Anliegen gemacht hat, sind bis heute nicht restlos geklärt: Wiesenthal setzte sich für die Aufklärung des Schicksals von Raoul Wallenberg ein, der nach der Befreiung Budapests durch die Rote Armee verhaftet worden war und dessen Schicksal ungeklärt blieb. Ebenso offen ist der Ausgang der Fahndung des Naziverbrechers Alois Brunner, der bis heute in Syrien vermutet wird.

S. Wiesenthal und E. Zuroff

Efraim Zuroff besucht seinen Mentor Simon Wiesenthal, um ihn unter anderem über den Prozess gegen Dinko Sakic zu berichten. Zuroff führt Wiesenthal`s Werk weiter.

Die Bedeutung Simon Wiesenthals für die Aufarbeitung der Verbrechen während der Schoa wird in ihrer ganzen Dimension wohl erst in der rückblickenden historischen Betrachtung in einigen Jahrzehnten möglich sein. Wiesenthal neben der Ahndung von Naziverbrechen auch die heute in Kommissionen und in der Öffentlichkeit diskutierte Rückgabe von geraubten Kunstschätzen betrieben. Sein unablässiges Auftreten gegen das Vergessen, Verleugnen und Verdrängen hat weltweit Resonanz und mit der Gründung der Wiesenthal-Center 1977 in Los Angeles, später in Jerusalem und in Paris institutionalisierten Widerhall gefunden. Ehrungen wurden Wiesenthal praktisch aus der gesamten westlichen Welt zuteil, seit der Wende in den kommunistischen auch aus Mittel- und Osteuropa, zuletzt aus Bosnien-Herzegowina. Erst 1997 wurde das AMCHA-Center in Tel-Aviv nach Simon Wiesenthal benannt. Zuletzt wurde Simon Wiesenthal am 19. Dezember 1998 im Anschluß an die von ihm initiierte dreitägige Konferenz "über die Quellen des Hasses" - und in seiner krankheitsbedingten Abwesenheit - der "Europäische Preis Pro Humanitate für Gerechtigkeit" verliehen. Der heuer erstmals vergebene Preis wird von der Kultur-Fördergemeinschaft der europäischen Wirtschaft vergeben. Zugleich mit Wiesenthal erhielten der Wiener katholische Kardinal Franz König sowie der türkische Kinderarzt Ihsan Dogramaci die Preise "Pro Humanitate für Frieden" bzw. "Pro Humanitate für Toleranz". Die Verleihung stand unter der Schirmherrschaft der Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und des Europäischen Parlaments.

Lediglich eine der größten Ehrungen blieb Wiesenthal trotz mehrmaliger Nominierung bisher versagt: der Friedensnobelpreis.

Wiesenthals Gegner

Der Konflikt mit Bruno Kreisky und dessen Sozialistischer Partei wurde gleich doppelt ausgetragen: 1970 machte Wiesenthal publik, daß vier der elf Regierungsmitglieder von Kreiskys Minderheitenregierung als ehemalige NSDAP-Mitglieder vorbelastet waren. Kreisky verteidigte seine Minister - und beließ sie im Amt. Vor den Nationalratswahlen 1975 übergibt Wiesenthal ein Dossier an Bundespräsident Kirchschläger, in dem er aufdeckt, daß der Parteiobmann der FPÖ, Friedrich Peter - von Kreisky als möglicher Vizekanzler nach der Wahl vorgesehen - der 1. SS Infanteriebrigade angehörte, einer Einheit der Waffen-SS, die an Erschießungen von Juden beteiligt war.

Am 9. Oktober - Kreiskys SPÖ erhielt die absolute Mehrheit, Peter war als Abgeordnete zum Nationalrat gewählt worden - informiert Wiesenthal die Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz. Kreisky und seine sozialistischen Parteifunktionäre beginnen ein Kesseltreiben gegen Wiesenthal und überlegen öffentlich seine Verfolgung bis hin zur Ausbürgerung. Kreisky beschuldigt Wiesenthal der Gestapo-Kollaboration, bezweifelt die Rechtmäßigkeit von Wiesenthals Diplom und der Erlangung seiner Staatsbürgerschaft. Bis zu seinem Tod 1990 blieb der populäre Bundeskanzler (1970-83) Wiesenthal gegenüber unversöhnlich. Das Wählerpotential ehemaliger Nationalsozialisten dankte es ihm und verhalf Kreiskys SPÖ dreimal zur absoluten Mehrheiten.

In die Schußlinie des World Jewish Congress geriet Wiesenthal im Zuge der Waldheim-Affäre 1986. Während der WJC nicht ganz ohne Berechtigung zum generellen Rundumschlag gegen die österreichische Verleugnung und Verdräng im allgemeinen sowie gegen den "Kriegsverbrecher" Kurt Waldheim im besonderen ausholte, und damit die Manifestierung latenten österreichischen Antisemitismus, etwa gegen "gewisse Kreise der Ostküste", provozierte, stellte sich Wiesenthal mit differenzierenden Aussagen vor Waldheim und vor Österreich. Wiesenthals Vorschlag, eine internationale Historikerkommission einzurichten, wird ein Jahr später angenommen und nach Abschluß der Recherchen 1988, die keine Beweise für eine persönliche schuldhafte Beteiligung Waldheims zutage bringen, fordert Wiesenthal Waldheim zum Rücktritt auf - wegen unwahrer Behauptungen. Dieser Konflikt mit dem WJC und einige weitere - zum großen Teil auf Eifersüchteleien zurückzuführende - innerjüdische Kritik wurde noch im Februar 1996 in der ARD-Sendung "Panorama" aufgegriffen, um Simon Wiesenthals Rolle bei der Ausforschung und Verfolgung von Naziverbrecher herunterzuspielen. Der damalige Leiter der Zentralstelle zur Ermittlung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Alfred Streim, verteidigte Wiesenthal kurz darauf und schrieb ihm "Hunderte erfolgreicher Hinweise auf den Aufenthaltsort von Verbrechern" zu. Wiesenthal selbst spricht von rund 1 100 Fällen, in denen er an der Auffindung von Naziverbrechern beteiligt war.

Bereits länger zurück liegen Wiesenthals "Fehde mit dem Osten" (vor allem Polen und die DDR) sowie die Auseinandersetzung mit arabischen Staaten, jeweils wegen deren - zum Teil aus antiisraelischen Motiven erfolgte - Unterstützung der Naziverbrecher. Wiesenthal wurde dafür sowohl der Gestapo-Kollaboration (dieser Vorwurf wurde später von Kreisky aufgegriffen), wie auch der Agententätigkeit für die USA und/oder Israel beschuldigt.

Anton Legerer, Jr.

Jüdische Rundschau vom Nr. 52 vom 23. Dezember 1998

Quelle: www.hagalil.com


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