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Zuwanderungsgesetz "wegen seiner förmlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nichtig"

Bundesverfassungsgerichtsurteil, Minderheitenvotum und zwei Stellungnahmen im Wortlaut

Im Folgenden dokumentieren wir
  1. Auszüge aus dem denkwürdigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Normenkontrollverfahren gegen das Zustandekommen des "Zuwanderungsgesetzes" vom 18. Dezember 2002,
  2. Auszüge aus dem Minderheitenvotum zweier Richterinnen sowie
  3. zwei Stellungnahmen von NGOs, in denen das Bedauern darüber zum Ausdruck kommt, dass mit diesem Urteil das Zuwanderungsgesetz insgesamt ungültig ist.
Festzustellen ist indessen, dass das Bundesverfassungsgericht zum Inhalt des Zuwanderungsgesetzes selbst nicht Stellung genommen hat.



Auszüge aus dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2002 - 2 BvF 1/02 -

1. Der Bundesrat ist ein kollegiales Verfassungsorgan des Bundes, das aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht.

2. Die Länder wirken durch den Bundesrat nicht unmittelbar an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit, sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrates. Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten.

3. Die Stimmen eines Landes im Bundesrat werden durch seine Bundesratsmitglieder abgegeben. Das Grundgesetz erwartet die einheitliche Stimmenabgabe und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen.

4. Aus der Konzeption des Grundgesetzes für den Bundesrat folgt, dass der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden kann und damit die Voraussetzungen der Stimmführerschaft insgesamt entfallen.

5. Der die Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Das insoweit bestehende Recht zur Nachfrage entfällt allerdings, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht besteht und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten ist, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvF 1/02 -
Verkündet am 18. Dezember 2002
Wolf
Amtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Normenkontrollverfahren
über den Antrag festzustellen,
dass das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 2002 (BGBl I S. 1946) wegen seiner förmlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nichtig ist,
Antragstellerinnen: 1. Landesregierung des Saarlandes, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Saarländische Staatskanzlei, Am Ludwigsplatz 14, 66117 Saarbrücken, 2. Landesregierung von Baden-Württemberg, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Staatsministerium, Richard-Wagner-Straße 15, 70184 Stuttgart, 3. Staatsregierung des Freistaates Bayern, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Bayerische Staatskanzlei, Franz-Josef-Strauß-Ring 1, 80539 München, 4. Hessische Landesregierung, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Hessische Staatskanzlei, Bierstadter Straße 2, 65189 Wiesbaden, 5. Staatsregierung des Freistaates Sachsen, vertreten durch den Staatsminister der Justiz, Hospitalstraße 7, 01095 Dresden, 6. Landesregierung des Freistaates Thüringen, vertreten durch den Justizminister, Thüringer Ministerium der Justiz, Werner-Seelenbinder-Straße 5, 99096 Erfurt
...
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsident Hassemer, Sommer, Jentsch, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff, Lübbe-Wolff
auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2002 durch

Urteil
für Recht erkannt:

Das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 2002 (Bundesgesetzblatt I Seite 1946) ist mit Artikel 78 des Grundgesetzes unvereinbar und daher nichtig.

Gründe:
(...)
B.
Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG entscheidet das Bundesverfassungsgericht bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz auf Antrag einer Landesregierung. Gemäß § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG ist der Antrag der Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Sachsen, des Saarlandes und von Thüringen zulässig; die Antragstellerinnen halten das Zuwanderungsgesetz für mit dem Grundgesetz formell unvereinbar.

C.
Der Normenkontrollantrag ist begründet. Das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 20. Juni 2002 - Zuwanderungsgesetz - (BGBl I S. 1946) ist mit Art. 78 GG unvereinbar und daher nichtig. Das Zuwanderungsgesetz bedarf wegen der in ihm enthaltenen Bestimmungen über das von den Behörden der Länder durchzuführende Verwaltungsverfahren gemäß Art. 84 Abs. 1 GG als Ganzes der Zustimmung des Bundesrates. Hierfür fehlt es an der gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG erforderlichen Mehrheit der Stimmen des Bundesrates. Der Bundesratspräsident durfte die Stimmenabgabe für das Land Brandenburg nicht als Zustimmung werten (I). Da es an einer Zustimmung des Landes Brandenburg fehlte, vermochte auch die Feststellung des Bundesratspräsidenten nach Aufruf der weiteren Länder, der Bundesrat habe dem Gesetz zugestimmt, keine Rechtswirkung zu entfalten (II).

I.

An einer Zustimmung des Landes Brandenburg zum Zuwanderungsgesetz fehlt es, weil bei Aufruf des Landes die Stimmen nicht einheitlich abgegeben wurden (1). Die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe Brandenburgs ist durch den weiteren Abstimmungsverlauf nicht beseitigt worden (2).

1. a) Der Bundesrat ist ein kollegiales Verfassungsorgan des Bundes, das aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG). Er wird nicht aus den Ländern gebildet. Art. 50 GG umschreibt nur die Funktion dieses Bundesverfassungsorgans: "Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit". Diese Mitwirkung erfolgt nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrates (vgl. BVerfGE 8, 104 <120>). Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten.

Die Stimmen eines Landes werden durch seine Bundesratsmitglieder abgegeben. Wer aus dem Kreis dieser Vertreter die Stimmen eines Landes abgibt, bestimmen in der Regel die Vertreter selbst oder im Vorfeld einer Bundesratssitzung die jeweilige Landesregierung. Das Grundgesetz erwartet die einheitliche Stimmenabgabe und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen.

Aus dieser Konzeption des Grundgesetzes für den Bundesrat folgt, dass der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden kann und damit die Voraussetzungen der Stimmführerschaft insgesamt entfallen. Der Bundesratspräsident nimmt somit die Stimme eines einzelnen Bundesratsmitglieds als Stimmenabgabe für das ganze Land entgegen, sofern nicht ein anderes Mitglied des jeweiligen Landes abweichend stimmt.

b) Die Stimmen eines Landes sind nach Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG einheitlich abzugeben. Die Stimmabgabe ist die Verlautbarung der Stimmen des Landes durch einen willentlichen Begebungsakt. Mehrere Stimmenabgaben der Bundesratsmitglieder eines Landes müssen übereinstimmen.

Das im Abstimmungsverfahren aufgerufene Land Brandenburg hat hier seine vier Stimmen nicht einheitlich abgegeben. Entsprechend der beantragten Abstimmungsart durch Aufruf der Länder gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 GOBR richtete der sitzungsleitende Bundesratspräsident durch seinen Schriftführer jeweils die Frage an die anwesenden Bundesratsmitglieder der einzelnen Länder, die für das jeweilige Land dessen Stimmen abgeben. Im vorliegenden Fall hat für Brandenburg zunächst das Bundesratsmitglied Ziel mit "Ja" geantwortet, unmittelbar darauffolgend das Bundesratsmitglied Schönbohm mit "Nein". Der brandenburgische Ministerpräsident Dr. Stolpe und der Minister Prof. Dr. Schelter - ebenfalls anwesende Bundesratsmitglieder - haben sich bei Aufruf des Landes nicht geäußert. Aus den eindeutigen Erklärungen der Bundesratsmitglieder Ziel und Schönbohm folgte, dass die Abgabe der Stimmen durch die Bundesratsmitglieder des Landes Brandenburg im Sinne des Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG uneinheitlich war. Dies hat der Bundesratspräsident zutreffend unmittelbar nach der Stimmenabgabe förmlich festgestellt (Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 171 C).

2. Durch den sich anschließenden Abstimmungsverlauf ist die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe seitens des Landes Brandenburg nicht beseitigt und in ein einheitliches zustimmendes Votum umgewandelt worden. Der nachfolgende Abstimmungsverlauf ist nicht mehr rechtserheblich, weil er sich außerhalb der verfassungsrechtlich gebotenen Form des Abstimmungsverfahrens bewegte. In einem zum Gesetzgebungsverfahren gehörenden Abstimmungsverfahren vermag das formwidrige Verhalten das ihm vorangehende formgerechte nicht in seiner Rechtswirkung zu verändern. Der sitzungsleitende Bundesratspräsident hatte in diesem besonderen Fall kein Recht zur Nachfrage an Ministerpräsident Dr. Stolpe (a). Unterstellt man dennoch ein solches Recht, hätte die Nachfrage nicht nur an den Ministerpräsidenten, sondern zumindest auch an den Minister Schönbohm gerichtet werden müssen (b).

a) Der Bundesratspräsident durfte nach seiner Feststellung, dass das Land Brandenburg uneinheitlich abgestimmt habe, nicht das Bundesratsmitglied Dr. Stolpe fragen, wie das Land Brandenburg abstimme. Eine solche Frage bewegte sich außerhalb der mit dem Abstimmungsverfahren gewählten Form des Aufrufs nach Ländern und bedurfte deshalb der gesonderten Rechtfertigung, an der es hier fehlte.

aa) Der die Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Dies entspricht seiner Pflicht als unparteiischer Sitzungsleiter, dem die Aufgabe obliegt, den Willen des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren klar festzustellen. Art. 78 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip gebietet, den Willen der beteiligten Verfassungsorgane zurechenbar festzustellen; dies gilt für den förmlichen Gesetzesbeschluss des Bundestages ebenso wie für die Zustimmung des Bundesrates. Wann insofern von einer Unklarheit als Anlass für Rückfragen auszugehen ist, ist verfassungsgerichtlich nachprüfbar; indes steht dem sitzungsleitenden Bundesratspräsidenten insoweit eine Einschätzungsprärogative zu. Das Recht zur Nachfrage entfällt allerdings, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht besteht und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten ist, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde.

Der Wille des Landes Brandenburg zur uneinheitlichen Abstimmung lag klar zu Tage. Das Bundesratsmitglied Schönbohm hatte seine politische Position in unmissverständlicher Form in der der Abstimmung unmittelbar vorausgegangenen Plenardebatte dargelegt. Er werde dem Gesetz nicht zustimmen und er werde seine Ablehnung in Kenntnis von Art. 51 Abs. 3 GG laut und unzweideutig formulieren (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 147 C - D). Das Bundesratsmitglied Schönbohm hatte zudem auch das Ziel seines Verhaltens klar umrissen. Er wollte mit seinem "Nein" eine einheitliche Abgabe der Stimmen Brandenburgs verhindern (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 148 A - B). Es war zudem allgemein bekannt, dass die brandenburgische Landesregierung über die Abgabe der Stimmen des Landes keinen Beschluss gefasst hatte. Ein Teil der Redebeiträge in der Plenardebatte und die sorgsame rechtliche Vorbereitung der Beteiligten belegen, dass ein einheitlicher politischer Landeswille weder vor der Bundesratssitzung festgelegt war noch im Verlauf der Sitzung erwartet wurde - es bestand Klarheit über den Dissens. Die Uneinheitlichkeit wurde denn auch bei Aufruf des Landes Brandenburg erwartungsgemäß förmlich erklärt.

bb) Den Sitzungsleiter traf in diesem atypischen Fall einer vom Beginn der Abstimmung an bestehenden Klarheit über die beabsichtigte Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe lediglich die Pflicht, dies zu protokollieren. Mit der anschließenden Nachfrage an das Bundesratsmitglied Dr. Stolpe griff der Bundesratspräsident in den Verantwortungsbereich des Landes über und erweckte den Anschein, es gelte nunmehr, den "wahren Landeswillen" festzustellen oder doch noch auf eine Einheitlichkeit der Stimmenabgabe hinzuwirken. Zu einer solchen Lenkung des Abstimmungsverhaltens des Landes Brandenburg war der Bundesratspräsident unter den gegebenen Umständen nicht befugt.

Anders als in der 10. Sitzung des Bundesrates vom 19. Dezember 1949 konnte nicht angenommen werden, dass lediglich eine Irritation vorlag, die zur Herstellung eindeutiger Verhältnisse im Abstimmungsvorgang nach einer Klarstellung verlangte. In der damaligen Abstimmung hatte es keinen Anhaltspunkt dafür gegeben, dass politische Kräfte in der nordrhein-westfälischen Landesregierung im Hinblick auf die Zustimmung oder Ablehnung des Gesetzes im Bundesrat in einem unüberbrückbaren Gegensatz gestanden hätten. Aus den gesamten Umständen musste jeder folgern, dass nicht klar war, zu welcher Haltung sich das Land Nordrhein-Westfalen im Kabinett entschieden hatte (vgl. insoweit Bundesrat, Sitzungsbericht vom 23.12.1949, S. 116 B - C). Ob das Verhalten des damaligen Bundesratspräsidenten im Einzelnen den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprach, bedarf vorliegend keiner Erörterung. Jedenfalls durfte der Präsident in einem solchen Fall der nicht beabsichtigten und im Vorhinein angekündigten Uneinheitlichkeit Maßnahmen zur Klärung ergreifen, damit ein mutmaßlich einheitlicher Landeswille nicht lediglich wegen eines möglichen Irrtums ohne Wirkung blieb.

In der hier zu beurteilenden 774. Sitzung des Bundesrates lag der Fall anders. Ein einheitlicher Landeswille hatte ersichtlich nicht bestanden - im Gegenteil. Davon gingen auch alle rechtlichen Überlegungen der Beteiligten aus. Da angesichts dieser Ausgangslage auch nicht erwartet werden konnte, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen würde, war für eine Rückfrage an den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg kein Raum.

Die gezielte Rückfrage des Bundesratspräsidenten nur an den Ministerpräsidenten eines Landes ließe sich mangels Klärungsbedarfs nur rechtfertigen, wenn ein Ministerpräsident sich in der Abstimmung über die Stimmenabgabe durch die anderen Bundesratsmitglieder des Landes hätte hinwegsetzen dürfen, sei es, dass er ein Weisungsrecht im Bundesrat beanspruchen könnte, sei es, dass nur so ein drohender Verstoß gegen die Bundesverfassung hätte abgewendet werden können.

Beide Voraussetzungen waren nicht gegeben. Rangverhältnisse des Landesverfassungsrechts spielen auf der Bundesebene keine Rolle. Der Inhaber einer landesrechtlichen Richtlinienkompetenz hat keine bundesverfassungsrechtlich herausgehobene Stellung, die es ihm erlaubte, einen Abstimmungsdissens zweier anderer anwesender Mitglieder allein durch seine Willensbekundung zu überwinden. Die landesrechtliche Weisung an Bundesratsmitglieder, die das Grundgesetz im Bundesrat - anders als im Gemeinsamen Ausschuss (Art. 53a Abs. 1 Satz 3 GG) oder im Vermittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2 Satz 3 GG) - erlaubt, ist die der Landesregierung, nicht die des Inhabers der Richtlinienkompetenz. Besteht keine Weisung der Landesregierung und stimmen die ein Land und dessen Landesregierung repräsentierenden Mitglieder uneinheitlich ab, ist dies nicht verfassungswidrig. Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG verbietet es lediglich, einen gespaltenen Landeswillen im Abstimmungsergebnis des Bundesrates durch Aufteilung der Stimmen des Landes zu berücksichtigen.

b) Selbst wenn dem Bundesratspräsidenten grundsätzlich ein Nachfragerecht zugestanden hätte, hätte er es nur in der gebotenen neutralen Form ausüben dürfen. Dazu hätte erneut das Land Brandenburg aufgerufen und damit die Frage, wie das Land abstimme, an alle anwesenden Bundesratsmitglieder des Landes gerichtet werden müssen. Entschied sich der sitzungsleitende Präsident jedoch zu einer direkt an ein Mitglied gerichteten Frage, so war es unabdingbar, nach dem "Ja" des Ministerpräsidenten anschließend zumindest an Minister Schönbohm die Frage zu richten, ob er nach der Stimmabgabe des Ministerpräsidenten bei seinem "Nein" bleibe. Denn durch die Frage an Ministerpräsident Dr. Stolpe und dessen Antwort war möglicherweise Klärungsbedarf entstanden, ob Minister Schönbohm an seinem "Nein" auch in unmittelbarer Konfrontation mit seinem Ministerpräsidenten festhalte. Die Pflicht zur Frage an beide Anwesenden wurde noch durch den Zwischenruf des Bundesratsmitglieds Schönbohm verstärkt. Ungeachtet der Frage, ob ein Zwischenruf, der weder durch einen - erneuten - Aufruf des Landes noch durch ein vom Sitzungsleiter an Minister Schönbohm gerichtetes Wort die gehörige Form fand, überhaupt eine rechtserhebliche Bekundung im förmlichen Abstimmungsvorgang sein kann, durfte jedenfalls aus dem Inhalt des Zwischenrufs nicht ohne klärende Nachfrage auf eine Abänderung der Nein-Stimme in eine Ja-Stimme oder eine Anerkennung der Stimmführerschaft des Ministerpräsidenten geschlossen werden.

II.
1. Die unmittelbar nach dem im Protokoll verzeichneten Zwischenruf des Bundesratsmitglieds Schönbohm förmlich getroffene Feststellung des Bundesratspräsidenten, dass das Land Brandenburg mit "Ja" abgestimmt habe (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 171 D), war fehlerhaft, weil ein einheitliches Abstimmungsverhalten Brandenburgs nicht vorlag.

Die Abstimmung wurde nach dieser ungültigen Feststellung des Bundesratspräsidenten für das Land Brandenburg nicht wieder eröffnet. Auf Vorhaltungen aus dem Plenum formulierte der Bundesratspräsident lediglich folgende Frage: "Ich kann auch Herrn Ministerpräsidenten Stolpe nochmal fragen, ob das Land noch Klärungsbedarf hat." Dies war keine der Form der Abstimmung genügende Frage. Weder wurde das Land erneut aufgerufen noch auch nur ein einzelnes Mitglied um die Abgabe der Stimmen des Landes gebeten. Die auf die erneute bejahende Erklärung des Bundesratsmitglieds Dr. Stolpe folgende Aussage des Bundesratspräsidenten: "So, dann ist das so festgestellt" bekräftigte lediglich die zuvor getroffene förmliche Feststellung einer Zustimmung des Landes Brandenburg (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 172 C). Dass Minister Schönbohm auf die Aussage von Ministerpräsident Dr. Stolpe seinerseits nicht noch einmal das Wort ergriff, um den fortbestehenden Dissens zu bekräftigen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Minister Schönbohms Schweigen kann weder ein rechtlicher Erklärungswert zugesprochen werden, noch gibt es eine Pflicht zum ungefragten Zwischenruf.

2. Da es an einer gültigen Zustimmung des Landes Brandenburg fehlte, hatte auch die nach Aufruf der weiteren Länder erfolgende Feststellung, der Bundesrat habe dem Gesetz zugestimmt, keine Rechtswirkung.

Hassemer Sommer Jentsch Broß Osterloh Di Fabio Mellinghoff Lübbe-Wolff

***

In einer
"Abweichenden Meinung"
der Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff
zum Urteil des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2002
- 2 BvF 1/02 -
vertreten die beiden Richterinnen den Standpunkt, dass die Stimmabgabe von Ministerpräsident Stolpe im zweiten Abstimmungsdurchgang rechtmäßig war.
Auszüge daraus:


(... )Das Land Brandenburg war berechtigt, das im ersten Durchgang gezeigte Abstimmungsverhalten zu korrigieren (1.). Selbst wenn die Annahme der Senatsmehrheit zuträfe, dass der Bundesratspräsident im Anschluss an die erste, uneinheitliche Stimmabgabe zu einer Nachfrage nicht berechtigt war, hätte dies nicht zur Folge, dass einer korrigierenden Stimmabgabe des Landes Brandenburg im zweiten Durchgang die Wirksamkeit zu versagen wäre (2.). Der Bundesratspräsident war im Übrigen zu einer Nachfrage in der konkreten Situation sehr wohl berechtigt (3.). Auch für die Form der Nachfrage gab es gute Gründe. Im Übrigen könnten, selbst wenn man die Nachfrage der Form nach für fehlerhaft hielte, diesem Fehler nicht die Rechtsfolgen zugeschrieben werden, die die Senatsmehrheit ihm zuschreibt (4.). Im zweiten Durchgang hat das Land Brandenburg sein Korrekturrecht wirksam genutzt und einheitlich mit "Ja" gestimmt (5.).
(...)
5. Der Bundesratspräsident hat demnach mit seiner Nachfrage dem Land Brandenburg wirksam die Möglichkeit zu erneuter Stimmabgabe eröffnet. In diesem zweiten Durchgang hat das Land einheitlich abgestimmt. Der brandenburgische Ministerpräsident stimmte mit "Ja". Eine Nein-Stimme wurde nicht mehr abgegeben.

Da man sich in einem neuen, zweiten Durchgang befand, stand auch die frühere Nein-Stimme nicht mehr im Raum. Der Minister Schönbohm hat der Ja-Stimme des Ministerpräsidenten im zweiten Durchgang lediglich die Worte "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" entgegengesetzt. Die Auffassung des Bundesratsmitglieds Schönbohm war in der Tat bekannt. Auf sie kam es aber nicht an. Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG verlangt nicht, dass die Vertreter eines Landes im Bundesrat einheitlicher Auffassung sind. Das Grundgesetz stellt ausschließlich auf die Einheitlichkeit der Stimmabgabe ab. Die Einheitlichkeit der dahinter stehenden politischen Auffassungen wie überhaupt die landespolitischen und landesverfassungsrechtlichen Hintergründe der Stimmabgabe sind, wie oben (unter 4.) ausgeführt, bundesverfassungsrechtlich irrelevant. Eben deshalb ist es notwendig, zwischen Stimmabgaben und Auffassungskundgaben deutlich zu unterscheiden. Als Stimmabgabe wären im Rahmen der Abstimmung durch Länderaufruf (§ 29 Abs. 1 Sätze 2 und 3 GOBR) die Zurufe "Ja", "Nein" oder "Enthaltung" in Betracht gekommen (s. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, 1991, Rn. 7 zu § 29 GOBR). Die Äußerung "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" fiel dagegen eindeutig nicht in diese Kategorie.

Dass die Bindung von Stimmabgaben an klare, eindeutig identifizierbare Formen kein unnötiger Formalismus ist, zeigt gerade der vorliegende Fall. Ginge man von dieser Bindung ab und deutete auch unkonventionelle Äußerungen als Stimmabgabe, so wäre des Deutens kein Ende. Könnte und müsste die Äußerung "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" als Stimmabgabe interpretiert werden, so hätte der Bundesratspräsident feststellen müssen, wie die Stimme damit abgegeben war. Es wäre dann zu fragen gewesen, ob es sich um ein "Nein" oder gerade um dessen gezielte Vermeidung handelte, ob vielleicht gerade beabsichtigt war, diese Frage unentscheidbar zu halten, und so fort. Mit derartigem Interpretationsbedarf befrachtet, würden Abstimmungsverfahren funktionsunfähig. Bei Abstimmungen kann daher nur eine klare Stimmabgabe als solche gezählt werden.

Eine klare Stimmabgabe des Bundesratsmitglieds Schönbohm, die das Zustandekommen des Zuwanderungsgesetzes hätte verhindern können, hat im entscheidenden zweiten Durchgang aber nicht mehr stattgefunden.

Osterloh Lübbe-Wolff


Dies zur (formal-)rechtlichen Seite der Angelegenheit. Tragisch daran ist, dass damit das ganze Zuwanderungsgesetz gekippt wurde. So unzulänglich, ja schlecht dieses Gesetz auch war, es war ein - winziger - Fortschritt gegenüber dem vorherigen Zustand. Die folgenden Stellungnahmen verschiedener Jugendverbände und von amnesty international beklagen genau diesen Sachverhalt.

Gemeinsame Erklärung von:
Benjamin von der Ahe (Bundesvorsitzender Grüne Jugend),
Niels Annen (Bundesvorsitzender Jusos in der SPD),
Carsten Burckhardt (IG BAU-Bundesjugendsekretär)
Mike Corsa (Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend)
Marc Ferder (Bundesleitung Naturfreundejugend Deutschlands),
Tina Gerts (Bundesvorsitzende Grüne Jugend),
Gaby Hagmans (Bundesvorsitzende Bund der Deutschen Katholischen Jugend)
Marten Jennerjahn (Bundesvorsitzender SJD - Die Falken),
Christian Kühbauch (Referatsleiter Abteilung Jugend, DGB-Bundesvorstand)
Stephanie Rabe (Bundesvorsitzende ver.di-Jugend),
Torsten Raedel (Bundesjugendwerk der Arbeiterwohlfahrt)
Simon Rottloff (IG BAU-Bundesjugendvorsitzender)
Dietmar Schäfers (Mitglied des IG BAU-Bundesvorstandes)
Bernd Schwimm (Bundesvorsitzender Solidaritätsjugend im RKB)

Deutschland öffnen - am Zuwanderungsgesetz festhalten!

Wir bedauern, dass das Bundesverfassungsgericht die Umsetzung des vom Bundestag beschlossenen Zuwanderungsgesetz gestoppt hat. Wir stellen jedoch fest, dass das Bundesverfassungsgericht nur das Abstimmungsverfahren im Bundesrat und nicht das Zuwanderungsgesetz als nicht verfassungskonform gewertet hat. Mit Nachdruck sprechen wir uns weiterhin für die Durchsetzung des Zuwanderungsgesetzes aus! Deutschland ist ein Einwanderungsland. In dieser Frage gibt es einen breiten gesellschaftlichen und kulturellen Konsens. Aus unserer Sicht sprechen vernünftige Gründe für eine geregelte Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland sowie eine moderne Integrationspolitik:
  • EinwanderInnen sind für uns ein Teil der Gesellschaft, sie bereichern unser öffentliches und kulturelles Leben. Einwanderung ist auch demografisch in großen Umfang dringend geboten und muss durch ein modernes Zuwanderungsrecht abgesichert werden.
  • Die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme der Immigration können nur durch klare Regelungen gelöst werden. Diese müssen über die bestehenden Gesetze hinaus Einwanderung und anschließende Einbürgerung - auch unter Hinzunahme der doppelten Staatsbürgerschaft - ermöglichen.
  • Wir wollen ein weltoffenes, großzügiges Einwanderungsrecht, dass sich insbesondere an humanitären Kriterien orientiert und geltendes internationales Recht einhält. Nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung müssen daher Berücksichtigung finden.
  • Ökonomische Probleme wie die Massenarbeitslosigkeit sind durch offensive wirtschaftspolitische Steuerung zu lösen. Wir erteilen Diskriminierung und Ausgrenzung eine klare Absage.
An vielen Punkten hätten wir uns eine stärkere Öffnung unseres Landes für EinwanderInnen und Flüchtlinge gewünscht. Das vorliegende Zuwanderungsgesetz beinhaltet bereits jetzt zahlreiche politische Zugeständnisse an die CDU/CSU. Das vorliegende Gesetz bildet somit aus unserer Sicht einen politischen Minimalkompromiss, der nicht unterschritten werden darf. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, das Zuwanderungsgesetz erneut in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen.

Wir wissen dabei die übergroße Mehrheit des Landes und insbesondere der jungen Generation hinter uns: Gewerkschaften, Arbeitgeber, Religionsgemeinschaften und viele weitere Organisationen und Verbände stehen hinter dem Zuwanderungsgesetz, das lediglich an der Blockade der politischen Opposition scheiterte. Wir rufen daher die Union auf, ihre Blockadehaltung zu überwinden und den Weg für ein im großen Konsens der gesellschaftlichen Gruppen entstandenes Gesetz freizumachen. Wir raten dabei von Wahlkampfgetöse und populistischer Stimmungsmache ab - damit wäre die Gefahr verbunden, öffentlich Ressentiments und Vorurteile zu bestärken und zu instrumentalisieren.

Als VertreterInnen der jungen Generation setzen wir uns daher für die rasche Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes in einem - leider erforderlichen - neuerlichen Gesetzgebungsverfahren ein.


amnesty international Deutschland

PRESSEMITTEILUNGEN

Zuwanderungsgesetz / Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Deutschem Flüchtlingsrecht droht europäische Zweitklassigkeit

Entscheidung des BVG ist herber Rückschlag / Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung droht Streichung / amnesty international appelliert an Regierung und Opposition, den vorgesehenen Flüchtlingsbegriff beizubehalten / Deutschland in Europa bei Flüchtlingsdefinition isoliert

Berlin, 18. Dezember 2002 - Als herben Rückschlag für den Flüchtlingsschutz in Deutschland und in Europa bewertet amnesty international (ai) die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zur Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes. "Wir sind außerordentlich enttäuscht", erklärte Wolfgang Grenz, Flüchtlingsexperte von amnesty international. "Damit fällt das deutsche Flüchtlingsrecht wieder hinter die internationalen Standards zurück."

Das am 22. März 2002 im Bundesrat unter umstrittenen Bedingungen verabschiedete Gesetz hatte die nichtstaatliche und die geschlechtsspezifische Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff mit aufgenommen. Damit war ein entscheidendes Defizit des deutschen Asyl - und Flüchtlingsrechts in einem zentralen Punkt gegenüber dem internationalen Flüchtlingsrecht entfallen. Bei den anstehenden neuen Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition droht dieser Fortschritt rückgängig gemacht zu werden. "Ein Zuwanderungsgesetz ohne die Aufnahme nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung verlöre erheblich an Wert und erfüllte nicht die Anforderungen des internationalen Flüchtlingsrechts", sagte Wolfgang Grenz.

amnesty international appelliert deshalb an die Bundesregierung und die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, bei Gesprächen mit der CDU/CSU auf der Aufnahme nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung zu bestehen. Andernfalls würde die Bundesrepublik Deutschland auch die Bemühungen auf europäischer Ebene torpedieren, zu einem gemeinsamen Flüchtlingsbegriff zu kommen. Alle anderen vierzehn EU- Mitgliedstaaten befürworten die Einbeziehung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff.

amnesty international schlägt Bundesregierung und Koalition vor, sich auf den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller (CDU) zu beziehen. Dieser hat erklärt, dass die CDU/CSU im Flüchtlingsbereich nur Lösungen mittrage, wenn sie von der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gedeckt seien. Nach Auffassung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und nach der überwiegenden Staatenpraxis entspricht die Aufnahme nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung den Vorschriften der GFK. Somit gibt es nach Ansicht von ai kein sachlich fundiertes Argument gegen die Aufnahme nichtstaatlicher Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff.


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