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"Die Transformation der NATO ist auf einem guten Weg, wenn wir den Sicherheitsbegriff breiter fassen"

Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, bei der 43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik

Im Folgenden dokumentieren wir im Rahmen unserer Berichterstattung über die 43. Münchener "Sicherheitskonferenz" (früher "Wehrkundetagung") die Rede von Verteidigungsminister Dr. Franz Josef Jung. Er sprach am Samstag, 10. Februar, im Hotel "Bayerischer Hof".



Globale Aufgaben der NATO

Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, bei der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 10. Februar 2007.*

Lieber Herr Teltschik, Exzellenzen, meine Damen und Herren!

Die veränderten Bedrohungslagen haben wir in Dokumenten des Bündnisses ebenso wie in der Europäischen Sicherheitsstrategie und in den nationalen Weißbüchern beschrieben: Internationaler Terrorismus, Proliferation, Staatszerfall und Staatsversagen. Drei Schlussfolgerungen, die wir in Deutschland mit dem Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik gezogen haben, gelten auch für die NATO in ihren globalen Aufgaben:
  • Erstens: Es kommt darauf an, den Gefährdungen für unsere Sicherheit dort zu begegnen, wo sie entstehen.
  • Zweitens: Ein umfassender, vernetzter Ansatz ist erforderlich, der neben militärischen vorrangig politische, diplomatische, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Mittel einschließt.
  • Und drittens: Mehr denn je werden zivil-militärische Einsätze zur Krisenvorbeugung oder -bewältigung im bewährten Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen erfolgen. Dafür brauchen wir noch bessere Zusammenarbeit von NATO, EU und VN.
Das sind die Kernelemente unseres Konzepts "vernetzter Sicherheit", mit dem die Bundesregierung unsere nationale sicherheitspolitische Debatte führt und die aus meiner Sicht auch für die NATO gelten.

Afghanistan führt uns vor Augen, dass wir den Kampf gegen den Terrorismus nicht allein mit militärischen Mitteln gewinnen können. Wir werden der afghanischen Regierung nur dadurch zum Erfolg verhelfen können, wenn wir einen intelligenten und auf Wirkung bei der Bevölkerung zielenden Verbund ziviler und militärischer Maßnahmen dagegensetzen. Dazu gehören militärische Operationen zur Herstellung und Bewahrung eines sicheren Umfeldes, Diplomatie und Dialog, entwicklungspolitische und wirtschaftliche Unterstützung zum Wiederaufbau lebenswichtiger Infrastruktur für die Bevölkerung, vor allem aber Hilfe zur Selbsthilfe, und Aufbau von Strukturen für eine selbsttragende Stabilität. Was wir jetzt brauchen, ist eine realistische Strategie, die sich an der tatsächlichen Lage und dem Erreichbaren orientiert. Wir müssen uns auf eine längere Präsenz einstellen, weil die Hürden auf dem Weg zu selbsttragender Stabilität groß sind. Wir brauchen freilich auch eine straffere, zielgerichtete Koordinierung der vielfältigen zivilen und militärischen Aktivitäten der Akteure des Afghanistan Compact. Wir haben in Riga Einvernehmen über die Notwendigkeit einer Änderung der Afghanistan-Strategie im Sinne eines vernetzten Ansatzes erzielt, und wir sind gerade eben beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Sevilla ein gutes Stück weitergekommen. Mein Ziel ist klar: Wir müssen militärische Anstrengungen und zivile Wiederaufbaubemühungen besser in Einklang bringen, vor allem im Süden und Osten Afghanistans. Die Allianz muss aber auch gegenüber der afghanischen Öffentlichkeit und bei der internationalen Gemeinschaft intensiver als bisher für die von ihr getroffenen Maßnahmen werben. Was heißt dies konkret? Es ist wichtig, dass wir die politisch bedeutsamen Vorhaben in den politischen Gremien der Allianz besprechen, bevor wir sie militärisch durch den COMISAF umsetzen. Es geht dabei auch um den öffentlichen Eindruck der Allianz. Der Erfolg des Bündnisses bemisst sich nicht nach Verlustzahlen beim Gegner, sondern nach erfolgreich geschützten und vorangebrachten Stabilisierungs- und Wiederaufbauprojekten und dem Maß der Unterstützung und Zustimmung der Afghanen! Denn wir sind und bleiben Unterstützer der Bevölkerung in diesem Land und dürfen nicht als Besatzungsmacht empfunden werden. Das Joint Coordination and Monitoring Board (JCMB) ist für die afghanistanweite Koordination verantwortlich. Die Arbeitsverfahren müssen effizienter werden. Es geht deshalb darum, dass die konkrete Umsetzung gesteuert wird. Und wir müssen schließlich dafür sorgen, dass dem ISAF-Hauptquartier eine wirkungsvolle zivile Stelle zugeordnet wird, die den zivilen Wiederaufbau vorantreibt. Die Bundeswehr hat mit den in der Nordregion eingeführten Verfahren gute Erfahrungen gemacht. Es gilt jedoch, die zivil-militärischen Maßnahmen insgesamt besser miteinander zu verzahnen.

Was für die Afghanistan-Mission gilt und dort pragmatisch verbessert werden muss, gilt auch für die Transformation des Bündnisses im Ganzen. Die Transformation der Allianz ist insgesamt auf einem guten Weg, wenn wir den Sicherheitsbegriff breiter fassen. Damit stellen wir zugleich auch sicher, dass die Allianz ihren Anspruch einlösen kann, in stärkerem Maße als bisher zur Diskussion der sicherheitsrelevanten politischen Fragen beizutragen. Wie wird die Nato der Zukunft aussehen? Dies auszuformulieren, bleibt die große Herausforderung an ein neues strategisches Konzept. Wir müssen die Lage analysieren, Gefahren benennen, Antworten auf die drängenden Fragen geben, Aufgaben definieren. Das alte Verteidigungsbündnis, das die Allianz einst war, besteht in dieser Form nicht mehr. Doch was ist an seine Stelle getreten? Eine globale Allianz wird die Nato nie werden können, denn ihr Wesenskern ist die europäisch-atlantische Gemeinschaft. Die NATO ist keine Weltpolizei. Als Bindeglied zwischen Nordamerika und Europa, den Werten der westlichen Welt und den Prinzipien der Vereinten Nationen verpflichtet, stellt sie ein einzigartiges politisches und militärisches Instrumentarium zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens bereit. Für Deutschland besteht daran kein Zweifel: Die transatlantischen Beziehungen bleiben die unverzichtbare Grundlage deutscher und europäischer gemeinsamer Sicherheit, das Bündnis bleibt der stärkste Anker der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Daraus ergeben sich Folgerungen für den Erweiterungsprozess, die Partnerschaften, das Zusammenwirken der transatlantischen mit der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und die politische sowie militärische Transformation des Bündnisses - bis hin zu den kollektiven und individuellen Fähigkeiten der NATO, der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Deren große Mehrheit gehört beiden Organisationen an und möchte die eingebrachten Ressourcen mit Recht so effizient wie möglich genutzt sehen. 21 Mitglieder der Europäischen Union sind zugleich Mitglieder der NATO!

Erweiterungsprozess: Wer die Voraussetzungen für die Vollmitgliedschaft erfüllt, für den bleibt die Tür auch künftig offen. Doch klar muss auch sein: Zuerst müssen ungelöste territoriale und ethnische Fragen beantwortet werden, bevor Vollmitgliedschaft greifen kann.

Die Allianz braucht Partner. Das Programm Partnerschaft für den Frieden hat in den 90er Jahren den Stabilitätstransfer nach Mittel- und Osteuropa ermöglicht und bietet in der Gegenwart eine wichtige Perspektive für die Staaten des Balkans und anderer Regionen.

Über den PfP–Rahmen hinaus steht bei den NATO-Partnerschaften Russland ganz vorne. Seit fast zehn Jahren pflegt die Allianz zu Russland eine besondere Partnerschaft: zunächst auf der Grundlage der Grundakte, bald darauf im Nato-Russland-Rat. Mit Russland haben wir gemeinsame Sicherheitsinteressen.

Partnerschaft ist schließlich für die Allianz auch eine Frage institutioneller Zusammenarbeit. Wir brauchen dringend eine mit Leben erfüllte strategische Partnerschaft zwischen der NATO und der EU, aber auch zwischen der NATO und den Vereinten Nationen. Dies erfordert, dass sowohl die Allianz als auch die EU ihr Verständnis von Zusammenarbeit noch weiterentwickeln. Denn die NATO kann gewiss nicht alle Probleme, die es auf der Welt gibt, allein lösen. Sie hat neben der klassischen Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung heute mehr denn je die Aufgaben Stabilitätstransfer und Krisenbewältigung auf ihrer Agenda. Dabei stellt sich das Bündnis mit beeindruckender Anpassungsfähigkeit darauf ein, in einem breiter gewordenen Aufgabenspektrum zahlreiche, nach Art und Intensität vielfältige Einsätze über größer werdende Entfernungen zeitgleich durchzuführen und über längere Zeiträume durchhalten zu können.

Auch die EU ist, wie ihre erfolgreichen Operationen auf dem Balkan und zuletzt im Kongo unter Beweis gestellt haben, auf gutem Wege. Mit Blick auf Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen verfügt sie über sehr gewichtige Kompetenzen, Fähigkeiten, Kapazitäten und zunehmende Erfahrung. Nichts liegt also näher, als NATO und EU mit ihren jeweiligen Stärken in komplementärer Weise zu nutzen - von der gemeinsamen Planung bis zur gemeinsamen Umsetzung, und in Abstimmung mit den Vereinten Nationen. Im Zusammenwirken dieser drei Organisationen auf allen Ebenen - von der stra-tegischen bis zur taktischen - liegt der Schlüssel zum Erfolg für die gegenwärtigen und zukünftigen Friedens- und Stabilisierungsmissionen.

Dies sind die entscheidenden globalen Aufgaben für die NATO. Und hierfür sollten wir gemeinsam unseren Beitrag leisten.

Quelle: Website des Bundesministers für Verteidigung: "Globale Aufgaben der NATO"; www.bmvg.de


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