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Karten neu gemischt

Hintergrund. Die Münchner Sicherheitskonferenz, die an diesem Wochenende tagt, verhandelt strategische Verschiebungen der Weltpolitik. Die BRD will dabei kräftiger mitmischen

Von Jörg Kronauer *

Eine Konferenz der Rekorde kündigte Wolfgang Ischinger an. »Noch mehr« Teilnehmer als in den Vorjahren würden dieses Jahr zur Münchner Sicherheitskonferenz kommen, »noch mehr« Staaten würden vertreten sein, und sie reisten mit »noch mehr« hochrangigen Delegationen an, prahlte der Leiter des außen- und militärpolitischen Großevents. Rund eine Woche vor Beginn hatte der altgediente Diplomat zum Pressegespräch geladen und nannte Zahlen. 400 »Entscheidungsträger« erwarte er, sagte Ischinger, darunter Staats- und Regierungs­chefs gleich im »Dutzend«, auch fünf EU-Kommissare, zudem den NATO-Generalsekretär und 60 Spitzenvertreter von Großkonzernen wie der Deutschen Bank, der Allianz, der Deutschen Telekom und Shell. Die Bundesregierung werde vier Minister schicken, hieß es; 2012 waren es »nur« drei gewesen. Mehr, mehr, mehr: Selbst Zusammenkünfte der globalen Machteliten müssen heute offenbar mit Rekordmeldungen beworben werden, wenn sie das stumpfe Alltagsgeschrei der Mainstreammedien durchdringen sollen.

Globalpolitische Schwerpunkte

Dabei wären die Themen, die bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz auf der Tagesordnung stehen, ohnehin Anlaß genug, dem Ereignis erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Es werde natürlich um »aktuelle Krisenherde wie Mali und Syrien« gehen, teilte Konferenzleiter Ischinger vorab mit, also um die zwei jüngsten Kriege, in die der Westen auf die eine oder andere Weise verwickelt ist. Man werde zudem über die künftige Rolle der NATO sprechen, über die Bedeutung aufstrebender Mächte wie vor allem China für die globale Militärpolitik. Auch die sogenannte Schutzverantwortung (»Responsibility to protect«, R2P) stehe auf dem Programm, die den älteren Begriff der »humanitären Intervention« als Kampfbegriff zur Legitimation von Kriegen abzulösen beginnt, und last but not least behandele man die gewaltige Bedeutung des Internets für die Waffengänge der Zukunft. Den Krieg in Afghanistan ließ Ischinger unerwähnt, die aus westlicher Sicht beendeten Kriege im Irak und in Libyen ohnehin: Mögen die betroffenen Staaten auch noch so ruiniert sein – in München geht es um globale Machtpolitik, nicht um die gewaltigen Schäden, die sie anrichtet.

Drei Themenfelder, die auf der diesjährigen Sicherheitskonferenz explizit oder implizit eine bedeutende Rolle spielen, bieten wichtige Aufschlüsse über die Besonderheiten der aktuellen westlichen Außen- und Militärpolitik. Eines davon betrifft die gegenwärtigen Konflikte in der arabischen Welt, den Krieg in Syrien inklusive, und die Frage, mit wem der Westen in diesen Konflikten kooperiert. Auf der Seite der westlichen Mächte stehen heute, so erstaunlich dies nach den langen Jahren des sogenannten Antiterrorkrieges klingen mag, eine ganze Reihe durchaus unterschiedlich strukturierter islamistischer Kräfte. Nicht zufällig hebt eine Pressemitteilung der Sicherheitskonferenz eigens hervor, daß »Regierungsvertreter aus Ägypten, der Türkei und Katar« nach München anreisen würden. Katar werde gar höchstrangig »durch Premier Hamad ibn Dschasim ibn Dschabir Al Thani repräsentiert«. In Ägypten haben Islamisten, vor allem die Muslimbruderschaft, gegenwärtig eine dominante Stellung inne. Die Adalet ve Kalknma Partisi (AKP) des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist gleichfalls islamistisch orientiert. Katar schließlich ist vom saudischen Wahhabismus geprägt, der reaktionärsten Strömung des Islamismus überhaupt. Ob, wie letztes Jahr, auch ein Vertreter Saudi-Arabiens, der Kernmacht des Wahhabismus, an der Sicherheitskonferenz teilnehmen würde, war vorab nicht bekannt.

Wie kommt es, daß der Westen heute nicht selten mit islamistischen Kräften gemeinsame Sache macht? Die Grundlage für den informellen Pakt bildet zweifelsohne die enge Kooperation der westlichen Mächte mit den Diktaturen der arabischen Halbinsel. Sie ist nicht neu. Vor allem mit Saudi-Arabien gibt es eine jahrzehntelange Tradition enger Zusammenarbeit, die allerdings 2003 und in noch stärkerem Maße in den Jahren 2007/2008 ausgebaut wurde. Grund war der Machtkampf des Westens gegen Teheran. Iran erfüllt mit seinem Ressourcenreichtum und mit seiner großen, im regionalen Vergleich bestens ausgebildeten Bevölkerung alle Voraussetzungen, zur Vormacht am Persischen Golf zu werden. Im Jahr 2003 wurde das Land seinen ärgsten Rivalen, den einst etwa gleichstarken Irak los, den die US-geführte Kriegskoalition in Schutt und Asche bombte. Seither hat Teheran, rein machtpolitisch betrachtet, am Persischen Golf freie Bahn. Etwas entgegensetzen können ihm allenfalls das reiche Saudi-Arabien und der Gulf Cooperation Council, das Bündnis der sechs mit dem Westen kooperierenden Golfdiktaturen. Dementsprechend begann der Westen sehr rasch nach dem Irak-Krieg, die Golfdiktaturen noch stärker als zuvor zu unterstützen. Besonders deutlich wird dies an der massiven Zunahme von Rüstungsexporten auf die Arabische Halbinsel, die deutscherseits in ihren Anfängen bereits auf die damalige rot-grüne Bundesregierung zurückgehen. Die geplanten Lieferungen von Hunderten deutscher Kampfpanzer des Modells Leopard 2A7+ an Saudi-Arabien und Katar sind nur die berüchtigsten Beispiele dafür.

In Syrien hui, in Mali pfui

Schon bald nach dem Beginn der Rebellionen in der arabischen Welt zeigte sich, daß die außenpolitische Zusammenarbeit weitreichende innenpolitische Folgen mit sich bringt. Das beste Beispiel dafür sind die Aktivitäten des kleinen, aber schwerreichen Emirats Katar, das im Verlauf der Rebellionen besondere Aktivitäten entfaltete. Über seinen Sender Al Dschasira, aber auch mit materieller Hilfe unterstützte Katar praktisch alle Revolten jenseits der Arabischen Halbinsel, wobei besonders islamistische Kräfte davon profitierten. In Libyen, wo katarische Bomber und Spezialkräfte am NATO-Krieg teilnahmen, rüstete das Emirat vor allem islamistische Milizen aus: Sie galten als geeignete Verbündete für den Kampf gegen den vergleichsweise säkular orientierten Muammar Al-Ghaddafi, und deshalb sah der Westen wohlwollend zu. Dasselbe Schema zeigt sich inzwischen auch in Syrien, wo Katar ebenfalls vor allem Aufständische munitioniert, die einer der zahlreichen Strömungen des Islamismus angehören und daher dem Assad-Regime unversöhnlich gegenüberstehen. Daß islamistische Milizen in Libyen und Syrien heute eine so bedeutende Rolle spielen, ist in hohem Maße Katar und Saudi-Arabien geschuldet – und natürlich dem Westen, der die Aktivitäten der verbündeten Golfdiktaturen für seine eigenen Umsturzziele nutzt.

Der Westen läßt nicht nur Katar und Saudi-Arabien gewähren, er setzt auch sonst in der arabischen Welt auf eine engere Kooperation mit sunnitischen Islamisten. So knüpfte Berlin 2011 Arbeitskontakte zur ägyptischen Muslimbruderschaft; 2012 habe die Bundesregierung zudem ihre Zusammenarbeit mit dem islamistischen Ministerpräsidenten Tunesiens »beachtlich ausgeweitet«, berichtet Guido Steinberg, Mittelost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik. Modell ist die Türkei, deren islamistische Regierung eine (noch) relativ prowestliche Außen- mit einer konservativen, konzernfreundlichen Innenpolitik kombiniert; diese Form des Islamismus kommt im bundesdeutschen Establishment gut an. Und vor allem außenpolitisch lassen sich mit Hilfe sunnitischer Islamisten derzeit große Erfolge erzielen. Ein Beispiel bietet die Hamas. In den letzten zwei Jahren ist es gelungen, die Organisation eng an die Regierungen Katars und Ägyptens zu binden und sie damit aus ihrem Bündnis mit Iran herauszubrechen. Tatsächlich erklärte die Hamas im März 2012, sie werde bei einem Krieg gegen Iran neutral bleiben. Die sunnitischen Islamisten haben sich auch für das Vorhaben des Westens als hilfreich erwiesen, einen weiteren Verbündeten Teherans außer Gefecht zu setzen: das Assad-Regime. Es sind vor allem sunitisch-islamistische Milizen, die nicht zuletzt mit Suizidanschlägen Assad in schwere Bedrängnis bringen.

Wenn in München über den Krieg in ­Syrien diskutiert wird – unter anderem gemeinsam mit dem Premierminister Katars, dann steht zugleich das westliche De-facto-Bündnis mit islamistischen Kräften im Mittelpunkt. Freilich: Ein solches gab es bereits in den 1980er Jahren in Afghanistan. Man weiß heute, wohin es führte. Es läßt sich auch erahnen, wohin das neue Bündnis führt, wenn man die Aktivitäten etwa der Al-Nusra-Brigade in Syrien beobachtet, die in den Massenmedien inzwischen offen »Syriens Al-Qaida« genannt wird. Es läßt sich ebenfalls erahnen, wenn man den Krieg in Mali beobachtet. Dort kämpfen die französischen Streitkräfte bekanntlich gegen Islamisten, die erst seit kurzer Zeit in der Bevölkerung Fuß fassen konnten. Das gelingt ihnen allerdings in zunehmendem Maße dank ihrer engen Kontakte zur Arabischen Halbinsel. In den letzten Jahren sind Berichten zufolge Hunderte malische Koranschüler zur Ausbildung nach Saudi-Arabien, also ins Herz des Wahhabismus, eingeladen worden. Im Sommer 2012 beschwerte der französische Militärgeheimdienst sich darüber, daß die islamistischen Aufständischen in Nordmali intensiv von Katar unterstützt würden. Wieso auch nicht, könnte man fragen. Schließlich unterscheiden sie sich kaum von den islamistischen Aufständischen in Syrien, deren Aufrüstung durch Doha und Riad vom Westen gebilligt wird. Daß es Berlin oder Washington nicht darum geht, alle säkularen Kräfte auf Biegen und Brechen zu beseitigen, sondern nur diejenigen, die, wie Assad, nicht kooperieren, das muß den Emir von Doha ja nun wirklich nicht interessieren.

Pariser Renitenz

Ein zweites Themenfeld, das Wolfgang Ischinger bereits vor der Münchner Sicherheitskonferenz mehrfach anklingen ließ, betrifft die Zukunft des europäischen Militärs. Im Grundsatz zielt Berlin seit je darauf ab, die Streitkräfte der einzelnen EU-Staaten möglichst eng einander anzunähern, um aus ihnen schlagkräftige Großverbände zu formen. Kanzlerin Merkel forderte etwa im März 2007: »Wir müssen einer gemeinsamen europäischen Armee näherkommen.« Der Grund für diese Forderung liegt auf der Hand: Nur eine vereinte EU-Streitmacht wäre auf lange Sicht in der Lage, auch militärisch auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten zu gelangen und weltpolitisch mit Washington in jeder Hinsicht gleichzuziehen. Der Aufbau einer EU-Armee ist allerdings kein einfaches Unterfangen. Großbritannien beispielsweise hat starke Vorbehalte, seine Souveränität in militärischen Dingen durch die EU einschränken zu lassen. Auch mit Frankreich gibt es Streit. In einigen Bereichen – man denke da etwa an die Gründung von EADS – ist es zwar gelungen, eine überaus enge Kooperation in die Wege zu leiten. Doch während die Bundesrepublik in den 1990er Jahren ihre Forderung durchsetzen konnte, daß europäisches Militär die von Deutschland forcierte Zerschlagung Jugoslawiens militärisch begleiten müsse, weigerte sie sich etwa systematisch, europäische Streitkräfte in das französische Einflußgebiet in Afrika zu entsenden. Nach zwei kurzen Interventionen in der Demokratischen Republik Kongo, die beide pünktlichst beendet wurden, war mit EU-Einsätzen auf dem afrikanischen Kontinent rasch wieder Schluß. Sehr zum Unmut Frankreichs, das eigene militärpolitische Ziele verfolgt und sich nicht mit einer Rolle als Hilfskraft Deutschlands in Südosteuropa begnügen will.

Staatspräsident Nicolas Sarkozy schlug deshalb, als er 2007 ans Ruder kam, einen scharfen Gegenkurs ein. Er führte Frankreich in die militärischen Strukturen der NATO zurück und damit in ein Bündnis, in dem, anders als in der EU, nicht Deutschland die dominante Macht ist. Darüber hinaus habe er diesen Schritt »mit Washington und London, nicht jedoch mit Berlin verhandelt«, stellte kürzlich die Internationale Politik fest. »In Reaktion auf diese Mißachtung«, hieß es in der Zeitschrift weiter, »blockierte Deutschland die sicherheits- und verteidigungspolitische Agenda der französischen EU-Ratspräsidentschaft, die unter anderem eine Revision der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 vorsah.« Sarkozy, der sich gegen Berlin nicht durchsetzen konnte, begann nun enger mit London zu kooperieren. Als dann auch noch die Euro-Krise eskalierte und die Bundesrepublik ihren französischen Verbündeten wirtschaftlich immer weiter in die Knie zwang, da schloß Paris im November 2010 zwei umfangreiche Verteidigungsabkommen mit Großbritannien.

Neue »Entente Cordiale«?

In Berlin sei das neue Bündnis zwischen Paris und London lange Zeit nicht recht ernst genommen worden, konstatierte im August 2012 die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Poltik (DGAP) in einer ausführlichen Analyse. Es sei inzwischen aber wohl unumgänglich, »diese Einschätzung zu revidieren«. Tatsächlich gehe es in den britisch-französischen Vereinbarungen nicht nur um Schritte, die Kosten sparten, wie die gemeinsame Nutzung von Flugzeugträgern oder die gemeinsame Entwicklung von Drohnen, sondern zum Beispiel auch um den Aufbau einer britisch-französischen Eingreiftruppe, »die sowohl über ein eigenständiges Hauptquartier als auch über eigene Logistik und Unterstützungskräfte verfügen soll«. Die Interventionstruppe solle rund 6000 Soldaten aus Heer, Marine und Luftwaffe umfassen; »zu den vorgesehenen Einsätzen«, hieß es bei der DGAP, »zählen auch solche höchster Kampfintensität«. Schon im Juni 2011 habe es eine erste gemeinsame Kriegsübung mit 1 500 französischen und 450 britischen Soldaten gegeben; nur vier Monate später habe man ein zweites Manöver durchgeführt, um »das Zusammenspiel von britischen und französischen Kampfflugzeugen sowie das gemeinsame Agieren der Luft- und Landstreitkräfte beider Staaten« zu erproben.

Dabei war zu dieser Zeit der erste praktische »Test für die Zusammenarbeit und Komplementarität« (O-Ton DGAP) der französischen und der britischen Streitkräfte schon so gut wie vorüber: nämlich der Libyen-Krieg. Nach dessen Ende hätten die Militärs beider Länder ihre Kooperation umfassend ausgewertet, heißt es in der Analyse. Es sei mit einem weiteren Ausbau der britisch-französischen Militärzusammenarbeit zu rechnen, urteilten die Berliner Regierungsberater, die in Erinnerung an das britisch-französische Bündnis in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gar von einer neuen »Entente Cordiale« sprachen. Da entwickle sich ein Bündnis, das sich deutschem Einfluß weitgehend entziehe und Kriege europäischer Staaten auch gegen deutsche Interessen möglich mache. Und in der Tat war der Libyen-Krieg die erste große Militärinterven­tion, die Frankreich gemeinsam mit einer Reihe anderer EU-Staaten in Afrika führte, obwohl die Bundesrepublik sich gegen sie ausgesprochen hatte. Paris war es also gemeinsam mit London, und übrigens mit Unterstützung Washingtons, gelungen, die deutsche Vorherrschaft über die EU in Sachen Krieg zu brechen.

Aus deutscher Sicht war das natürlich der GAU. Die DGAP riet denn auch im August 2012, die EU-Militärkooperation unbedingt stärker voranzutreiben. Mitte November 2012 lancierten dann SWP-Experten die Idee, eine »deutsch-französische Luftwaffe« zu gründen. Zur selben Zeit kamen Regierungsvertreter Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Spaniens und Polens zusammen, um gemeinsam den Ausbau der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) der EU voranzutreiben. Großbritannien ließ man außen vor – ein klares Signal gegen die französisch-britische Militärkooperation. Wolfgang Ischinger hat sich in Vorbereitung auf die Münchner Sicherheitskonferenz ebenfalls für eine engere EU-Militärkooperation ausgesprochen: »Das Europa der Sicherheit und Verteidigung muß kommen und wird kommen«, schrieb er in einer knappen Stellungnahme; man müsse »dabei möglichst alle relevanten Akteure« einbeziehen. Letzteres bezog sich allerdings auch auf Großbritannien, dessen EU-Austritt, wie Ischinger in einer weiteren Stellungnahme erklärte, unbedingt vermieden werden müsse: Starke EU-Streitkräfte seien »ohne starke Beteiligung des Vereinigten Königreichs undenkbar«, schrieb er, und damit gab er die in Berlin vorherrschende Meinung wieder. Die Münchner Sicherheitskonferenz hat unlängst eigens eine neue Konferenzserie gestartet, die unter dem Titel »The Future of European Defence« die EU-Militärkooperation rasch forcieren soll. Noch für dieses Frühjahr ist ein erstes Treffen angekündigt. Vorbereitet worden ist es im Dezember mit einem »Roundtable« in Berlin.

Vom Atlantik zum Pazifik

Die Dringlichkeit, die der Aufbau einer EU-Armee aus deutscher Sicht besitzt, hat allerdings auch mit dem dritten Themenfeld zu tun, das auf der Münchner Sicherheitskonferenz, aber nicht nur dort, immer eine Rolle spielt: die Abwendung der US-Außenpolitik vom Atlantik und ihre Hinwendung zum Pazifik, will sagen: zum Machtkampf gegen die Volksrepublik China. Die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton hat im November 2011 ganz offiziell »Amerikas pazifisches Jahrhundert« ausgerufen. Seitdem ist die neue Schwerpunktsetzung Washingtons in aller Munde. Und sie hat Folgen. Da die Vereinigten Staaten auch ihre Streitkräfte stärker nach Asien verlagern, schrumpfen ihre militärischen Spielräume in anderen Weltgegenden; der Rückzug aus dem Irak trägt dem ebenso Rechnung wie der (Teil-)Rückzug aus Afghanistan. Daß die USA im Libyen-Krieg stärker in den Hintergrund zu treten suchten, hat ebenso mit ihrem neuen globalen Schwerpunkt zu tun wie die Tatsache, daß sie in Mali nur unterstützend eingreifen: Einen neuen Krieg, der die Umorientierung der US-Streitkräfte in Richtung Asien störte, suchen sie tunlichst zu vermeiden.

Mit der Thematik befaßte sich eine Diskussionsveranstaltung, zu der Wolfgang Ischinger am 21. Januar ausdrücklich zur Vorbereitung auf »wichtige Themen der Sicherheitskonferenz« in die bayrische Landesvertretung in Berlin eingeladen hatte. An der Diskussion beteiligte sich unter anderem der stellvertretende NATO-Generalsekretär Alexander Vershbow, ein US-Amerikaner, der, wie es auf der Website der Münchner Konferenz heißt, »angesichts der Wetterlage eigens mit dem Zug aus Brüssel angereist war«, um »das veränderte amerikanische Rollenverständnis« darzulegen. Demnach beanspruchten die Vereinigten Staaten heute »nicht prinzipiell die Führung in westlichen militärischen Operationen«. Den neuen Schwerpunkt Asien/Pazifik klar im Blick, erläuterte Vershbow: »Die USA und die NATO können nicht überall sein.« Die Regierung in Washington wünsche daher »in Zukunft eine noch stärkere Lastenteilung«, ganz besonders »in der europäischen Nachbarschaft«. Soll heißen: Die Kriege, die im Interesse des Westens liegen, werden auch in Zukunft geführt. Sofern es keine Kriege in Asien sind, werden die Staaten der EU dabei jedoch eine größere Rolle spielen. Eine EU-Armee wäre selbstverständlich hilfreich dafür.

Daß unabhängig von der Frage, wie es um die europäische Militärintegration steht, die deutschen Streitkräfte in Zukunft wohl tatsächlich noch häufiger als bisher eingesetzt werden, das hat Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière immer wieder klargestellt. Zuletzt ließ er sich im Dezember in einer Bundeswehr-Publikation mit der Aussage zitieren, die Bundesrepublik werde bereits »mittelfristig (…) mehr Anfragen« nach einer Kriegsteilnahme bekommen als bisher. Bereits im Mai 2011 hatte er in seiner Regierungserklärung zur Bundeswehrreform mitgeteilt, künftig müßten bis zu 10000 deutsche Soldaten gleichzeitig eingesetzt werden können. Damit werde es möglich sein, zwei »große« und bis zu sechs »kleine« Interventionen parallel stemmen zu können. Der Krieg in Mali, an dem sich die Bundesrepublik übrigens auch beteiligt, um einen französisch-britischen Alleingang wie in Libyen zu verhindern und die Kontrolle über die Militäroperationen der EU-Staaten wiederzugewinnen, ist ein Beispiel für eine aus deutscher Sicht eher »kleine« Intervention – in einem Gebiet, in dem wegen seiner relativen Nähe zu Europa im Rahmen der innerwestlichen Arbeitsteilung deutsche Operationen in Zukunft häufiger gefragt sein dürften.

* Jörg Kronauer ist Sozialwissenschaftler, freier Journalist und Redakteur bei german-foreign-policy.com. Am 17. Januar schrieb er an dieser Stelle über die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

Aus: junge Welt, Samstag, 02. Februar 2013



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