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TTIP und Freihandel

Ein Beitrag von Guido Speckmann im Juni-Heft der Zeitschrift Z. *


Internationale Handelsvereinbarungen seien inzwischen zur größten Bedrohung der Demokratie geworden, heißt es im Editorial der Juni-Ausgabe von Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Diese seien heute einer der wichtigsten politischen Hebel zur Beschränkung der Regulierungskompetenz nationaler Regierungen zugunsten der »Märkte«. »D.h. zugunsten der großen transnationalen Unternehmen und Finanzinstitutionen.« Sie dienten, so heißt es weiter, dem Export eines bestimmten marktliberalen Kapitalismusmodells, in dem soziale und ökologische Schutzrechte als Beschränkung von privaten Eigentumsrechten interpretiert und sanktioniert würden.

Die Juni-Ausgabe von »Z« erscheint mit dem Schwerpunkt »TTIP und Freihandelsideologie« (sowie »August 1914 – Kriegsursachen und Kriegsschuld«). Wir dokumentieren vorab den stark gekürzten Beitrag von Guido Speckmann. Der Autor ist Politikwissenschaftler und arbeitete bis zum Sommer letzten Jahres beim Hamburger VSA-Verlag und der Zeitschrift Sozialismus. Zum Thema schrieb er auch im AttacBasisText »Die Freihandelsfalle. Transatlantische Industriepolitik ohne Bürgerbeteiligung – das TTIP« (Hamburg 2014). Derzeit volontiert er beim »neuen deutschland«.


www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/



Ein atlantisches Klassenprojekt

Attac, Gewerkschaften und Verbraucherschützer laufen Sturm gegen TTIP – doch ihre Kritik könnte zu kurz greifen

Von Guido Speckmann **


Diese Woche wird zum fünften Mal über das Handelsabkommen zwischen den USA und der EU verhandelt. Doch was steckt hinter TTIP?

Versprechen und Legitimation in der Öffentlichkeit lauten stets ähnlich: Liberalisierungsvorstöße in Gestalt von Freihandelsabkommen sollen Wachstum schaffen – und damit Jobs und Einkommen. Allerdings: Die tatsächlichen Entwicklungen sehen in der Regel anders aus – und die Verheißungen der Politiker und Wirtschaftsführer entpuppten sich nicht selten als geschickte Deklarierung von Partikular- als Allgemeininteressen. Auch derzeit sind vergleichbare Argumente zu hören, wenn es um die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union geht. Seit Juli vergangenen Jahres wird über TTIP verhandelt. Werbewirksam werden von EU-Seite die Ergebnisse einer Studie des Londoner Centre for Economic Policy Research ins Feld geführt, die eine Zunahme des europäischen Bruttoinlandsprodukts um 0,5 bis 1 Prozent prognostizieren. Dieser abstrakte Wert wird auf eine Zahl heruntergebrochen, die jeder EU-Bürger auf seine Lebenssituation beziehen kann. Mit einem jährlichen Plus von 545 Euro könne demnach ein Vierpersonenhaushalt rechnen. Und die wirtschaftsnahe Bertelsmann-Stiftung rechnet vor, dass die Beschäftigung in Deutschland bei durchschnittlicher Liberalisierung um 181 000 Jobs zunehmen könne. In den USA könnten es sogar eine Million neue Stellen sein.

Doch nicht das vermeintliche Versprechen von mehr Jobs und Wachstum steht derzeit im Zentrum der immer lauter werdenden Kritik an den TTIP-Verhandlungen. Sondern die Furcht vor der Aufweichung von sozialen und ökologischen Standards in Europa. Symbolisch hierfür stehen Chlorhühnchen, genmanipuliertes Essen und Hormonfleisch. All dies könnte mit dem Freihandelsabkommen von den USA aus nach Europa exportiert werden. Auch die Einführung von Investor-Staat-Klagerechten sowie das Verhandeln hinter verschlossenen Türen erregen die Gemüter. Die Kritik hat erste Früchte getragen, zumindest die Verhandlungen über die Schiedsgerichte mussten (vorerst) einem dreimonatigen Konsultationsverfahren weichen. Dennoch bleiben die Fragen, ob wir derzeit Zeuge eines neuen Versuchs eines »Klassenprojekts einer atlantischen Elite« sind, mit Hilfe von TTIP die neoliberalen Dogmen von Deregulierung und Sozialabbau zu verwirklichen. Oder ob das Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA gar ein neuer Anlauf ist, »die Herrschaft der mächtigsten Kapitalgruppen über den Großteil der Welt« zu zementieren und juristisch abzusichern?«, wie die auf Handelsrecht spezialisierte US-Anwältin Lori Wallach befürchtet.

Mehr Wachstum und Jobs?

Der Abbau von protektionistischen Barrieren und die Beseitigung von Zollschranken fördere die wirtschaftlichen Aktivitäten, Freihandel schaffe Wachstum und Jobs – so lautet das Mantra der Befürworter einer neoliberalen Globalisierung. Dass Studien dieses in Zweifel ziehen, verunsichert sie nicht. Vielmehr entlarvt das Beharren auf den Freihandel diesen als ein Instrument, das die fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten einsetzen, um ihre Machtposition in der globalisierten Welt zu verteidigen und auszubauen – und die ehemaligen Kolonialstaaten in einem Zustand der Abhängigkeit zu halten. Zwar ist das ökonomische Entwicklungsniveau zwischen der EU und den USA recht ähnlich und das Niveau der Zölle sehr niedrig. Dennoch wird TTIP mit dem Versprechen auf mehr Wachstum und Jobs gerechtfertigt.

Von verschiedenen Seiten ist darauf hingewiesen worden, dass die erwähnte Londoner Studie einseitig benutzt wird. Auch die EU-Kommission greift werbewirksam wenige Zahlen heraus, so die über die Einkommenszuwächse für die Vierpersonenhaushalte. Ein genauer Blick zeigt indes, dass die Wohlfahrtsgewinne der geplanten Freihandelszone nicht sonderlich groß sind. Nicht mit einem Zuwachs von 545 Euro pro Jahr könne der Vierpersonenhaushalt rechnen, vielmehr ziehe sich diese Entwicklung bis zum Jahr 2027 hin. »Auf 14 Jahre gerechnet bedeutet dies ein Plus von drei Euro im Monat oder ein jährliches Lohnplus in Deutschland von ca. 1,5 Promille,« heißt es in dem Attac-Buch »Die Freihandelsfalle«. Des Weiteren ist nicht plausibel, warum es zu einer gleichmäßigen Verteilung des Einkommens kommen sollte.

Sehr bescheiden nimmt sich auch die vom ifo-Institut prognostizierte Auswirkung auf die Arbeitslosenquote aus. Eine Abschaffung der Zölle hätte gar keine Folgen für die strukturelle Arbeitslosigkeit in den USA und in der EU. »Wenn das Abkommen zu einer ambitionierten Absenkung nichttarifärer Barrieren führt, dann entstehen bis zu 110 000 neue Arbeitsplätze in Deutschland und insgesamt 400 000 Arbeitsplätze in der EU.« Die Beschäftigungszuwächse in den USA seien geringer. Allerdings kommt eine ambitionierte Absenkung nichttarifärer Barrieren laut ifo-Instituts einem »Binnenmarktszenario« gleich – eine äußerst unrealistische Erwartung. Das realistischere Szenario sagt dann auch nur 25 000 neue Jobs für Deutschland und ca. 69 000 für Europa voraus. Wohl gemerkt: nicht pro Jahr, sondern auf eine Dekade gerechnet. Die EU-Arbeitslosenquote würde in diesem Szenario von 6,9 auf 6,85 Prozent sinken. Die Bertelsmann-Studie, häufig angeführt, um die positiven Aspekte des Abkommens zu unterstreichen, wurde im Wesentlichen von den Wissenschaftlern des ifo-Instituts durchgeführt und kommt zu denselben – bescheidenen – Ergebnissen. Festzuhalten bleibt: Die Wachstums- und Jobversprechungen sind so gering, dass sie die möglichen Risiken bei Weitem nicht aufwiegen.

Absenkung von Standards

Chlorhühnchen oder genmanipulierte Nahrungsmittel – das sind die Symbole der Angst vor der Absenkung von Standards im Sozial-, Verbraucher-, Arbeitnehmer-, Gesundheits- oder Umweltbereich. Wie ernst zu nehmen ist indes die mehrfache Versicherung von EU-Handelskommissar Karel De Gucht, ein Aufweichen der europäischen Regeln nicht zuzulassen? Einige Kommentatoren warnen zumindest vor der Konzentration auf »Chlorhühnchen« und »Hormonfleisch«. So hält die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann De Guchts Beteuerungen für glaubhaft: Die EU-Kommission müsse sich nur mit den Amerikanern einigen, dass Chlorhühnchen ausgeschlossen seien, und schon sei es spielend einfach, die Kritiker vorzuführen und mundtot zu machen. Die NGO Corporate Europe Observatory (CEO) zufolge könne es durchaus sein, dass der endgültige TTIP-Text keine unmittelbaren Zugeständnisse in Bezug auf das Gesundheitswesen oder Umweltrichtlinien enthalte. Möglich sei auch, dass sich die EU und die USA zunächst auf Standards einigten, die wenig Verhandlungsaufwand erforderten, weil sie bereits recht ähnlich seien.

An diesem Argument könnte etwas dran sein. Da die Öffentlichkeit nicht über den Inhalt der Verhandlungen informiert wird, fällt eine Beurteilung schwer. Hinzuweisen ist noch auf einen weiteren problematischen Aspekt: nämlich der mitunter erweckte Anschein, dass die USA in sämtlichen Bereichen die niedrigeren Standards hätten. Dies gilt zum Beispiel nicht für die Bankenregulierung infolge der Finanzkrise von 2008 oder für die Kriterien für Risiko-Medizinprodukte.

Geheime Verhandlungen

Gravierendster Kritikpunkt aus demokratiepolitischer Sicht ist, dass das, worüber verhandelt wird, der Öffentlichkeit und selbst Parlamentariern und Regierungen von EU-Ländern nicht bekannt ist. Demgegenüber haben mehr als 600 Berater von transnationalen Konzernen Zugang zu wichtigen Dokumenten und können Vorschläge einbringen. Zwar hat die Kritik mit der Aussetzung der Verhandlungen über die Investor-Staat-Klagen offenbar Früchte getragen. Doch Kritiker meinen, das sei ein »Pseudo-Rückzug«. Zudem wird dies konterkariert durch die klammheimliche Verabschiedung eines Gesetzes über »Rahmenbedingungen für die Regelung der finanziellen Zuständigkeit bei Investor-Staat-Streitigkeiten vor Schiedsgerichten« durch das Europaparlament kurz vor Ostern. Medienberichten zufolge soll damit ein zentraler Pfeiler von TTIP abgesegnet worden sein. Überdies soll EU-Handelskommissar De Gucht vor dem Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen EU-Mitgliedsstaaten vorbereiten – in der Hoffnung, dass ausschließlich die Kommission über das Investitionsabkommen entscheiden darf.

Im Dezember 2013 wurde von CEO ein Papier der EU-Kommission veröffentlicht, das auf einen weiteren demokratiepolitisch bedenklichen Aspekt aufmerksam machte. Es hört auf die Namen »regulatorische Kooperation« und »living agreement«. Die Umsetzung würde auf eine Außer-Kraftsetzung parlamentarischer Verfahren zugunsten großer Konzerne hinauslaufen. Auch die zunächst denkbare Ausnahme von der Angleichung der Standards bei Fleisch könnte sich langfristig durch die Anwendung dieser Prinzipien als obsolet erweisen. Denn die Kommission möchte mit diesem Abkommen die Art und Weise grundlegend verändern, wie in der EU Gesetze verabschiedet würden. Lange bevor Parlamente Vorschläge zu Gesicht bekämen, will man künftig der US-Regierung und Unternehmen großzügige Einflussmöglichkeiten gewähren.

Privatjustiz für Multis

Warum die Aufregung über die sogenannten Investor-Staat-Klagerechte berechtigt ist, beschreibt ein kanadischer Regierungsbeamter. Fünf Jahre nach Inkrafttreten des ebenfalls Investorenschutzklauseln beinhaltenden NAFTA-Freihandelsabkommens zwischen Mexiko, Kanada und den USA sagte er: »Bei beinahe jeder neuen umweltpolitischen Maßnahme gab es von Kanzleien aus New York und Washington Briefe an die kanadische Regierung. Da ging es um chemische Reinigung, Medikamente, Pestizide, Patentrecht. Nahezu jede neue Initiative wurde ins Visier genommen, und die meisten haben nie das Licht der Welt erblickt.«

Das heißt, dass Konzerne gegen nationalstaatliche Regelungen – seien es umwelt-, sozial-, gesundheits- oder wirtschaftspolitische – klagen können, weil diese ihre Aussichten auf Gewinne verringern. Der sogenannte Schutz vor indirekten Enteignungen kann jegliche staatliche Regulierung meinen, die die Profite der global agierenden Konzerne schmälern könnte – aber der Mehrheit der Bevölkerungen zugute kommt. Zurzeit gibt es ungefähr 3000 Investitionsschutzabkommen, die Unternehmen Klagerechte einräumen – und zwar vor einem weitgehend abgeschotteten Rechtssystem. In der Regel laufen die Verfahren vor internationalen Schiedsgerichten, die aus drei von den Streitparteien selbst ernannten Privatpersonen bestehen. Die zumeist hinter verschlossenen Türen gefällten Schiedssprüche lassen keine Revision zu und sind bindend. Bis Ende 2012 gab es mindestens 514 Investor-Staat-Klagen, schätzt Pia Eberhardt von CEO. 244 Verfahren seien abgeschlossen, wovon 42 Prozent zugunsten des Staates ausgingen und rund 31 Prozent im Sinne des Investors entschieden wurden. 27 Prozent endeten mit einem Vergleich, dessen Einzelheiten vertraulich blieben. (Inzwischen haben deshalb Staaten wie Südafrika und Indonesien begonnen, Pro-Investoren-Abkommen zu kündigen.) Eberhardt und Peter Fuchs bewerten Investitionsabkommen daher als Teil eines »neuen Konstitutionalismus – also als politisch-rechtliche Strukturen, die den Neoliberalismus und bestehende Eigentumsverhältnisse durch die Einschränkung staatlicher Interventionen demokratischer Kontrollmöglichkeiten quasi konstitutionell absichern.«

Fazit: In den vergangenen Jahrzehnten gab es bereits internationale Liberalisierungs- und Deregulierungsvorstöße. Manche scheiterten: Kaum hatten indes Protestbewegungen einen Kopf der neoliberalen Globalisierung in Gestalt von MAI oder ACTA abgeschlagen, wuchs ein neuer nach. Sollte auch der TTIP-Versuch scheitern, im Geheimen verhandeln 50 Staaten seit 2012 über einen weiteren Vertrag: der Name TISA (Trade in Services Agreement). Nach einem Scheitern der TTIP-Verhandlungen sieht es derzeit (noch) nicht aus, eine Verzögerung ist aber durchaus denkbar. Ohnehin könnte die erste Schlacht bereits verloren sein. Denn das europäisch-kanadische Handelsabkommen (CETA) könnte die negativen Auswirkungen des TTIP-Pakts vorwegnehmen. Insofern könnte sich der Fokus auf EU-USA-Abkommen als problematisch erweisen, wenngleich die Kritik wichtig bleibt. Doch müsste sie stärker ergänzt werden durch eine Kritik jeglicher Freihandels- und Liberalisierungsbemühungen sowie der Implementierung von Investor-Staat-Klagerechten. Denn eines steht fest: Die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft ist in der Tat ein weiterer Versuch, die Herrschaft der mächtigsten atlantischen Kapitalgruppen über den Großteil der Welt zu zementieren und juristisch abzusichern – mit der Absicht, die sozialen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zurückzunehmen.

** Aus: neues deutschland, Montag, 19. Mai 2014


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