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Al-Quaida ist nicht an Allem schuld

Ägyptischer Islamismus-Experte sieht andere Terrorgruppen hinter Anschlägen in Riad und Casablanca

Solange Ossama bin Laden nicht gefasst ist, kann er für alles und jedes herhalten, was an terroristischen Aktivitäten weltweit registriert wird. Auch bei den jüngsten Attentaten in Riad (Saudi-Arabien) und Casablanca (Marokko) waren Regierungen und Medien mit Verdächtigungen und Vermutungen schnell bei der Hand. Die in Berlin erscheinende Tageszeitung "Neues Deutschland" veröffentlichte am 28. Mai einen Artikel, in dem an der Allzuständigkeit von Al-Qaida für jegliche terroristische Untat stark gezweifelt wird. Wir dokumentieren im Folgenden den Artikel, der sich auf Erkenntnisse des ägyptischen Islamismus-Experten Diaa Rashwan bezieht.


Zweifel an einschlägigen Al-Qaida-Theorien

Von Anton Holberg


Die USA sind bemüht, Osama bin Ladens Al-Qaida-Netzwerk als vermeintlichen Urheber der Terrorangriffe vom 11.September 2001 im öffentlichen Bewusstsein am Leben zu halten und aktuell für ihre Pläne gegen Iran zu instrumentalisieren.

In der arabischen Welt hingegen mehren sich gerade auch im Zusammenhang mit den verheerenden Attentaten in Saudi-Arabiens Hauptstadt Riad und in Marokkos Wirtschaftsmetropole Casablanca die Stimmen, die zu einer differenzierten Betrachtung auffordern, die naturgemäß weniger für eine politische Instrumentalisierung hergibt. So meldete Syriens Präsident Baschir Assad in einem am 25. Mai in der kuwaitischen Zeitung »Al Anba« erschienenen Interview Zweifel an, ob bin Ladens Al Qaida überhaupt – noch – in der Lage sei, derart große Operationen an so weit voneinander entfernten Orten durchzuführen.

»Wir schieben alles Al Qaida in die Schuhe«, meinte Assad, »aber was geschehen ist, ist viel gefährlicher als bin Ladens Al Qaida. Wir sprechen hier über einen bestimmten ideologischen Block. Das Problem ist ein ideologisches und nicht eines von Organisationen. Eine solche Sache kann nicht ohne eine bestimmte soziale Basis überleben.«

Dieser Ansatz wurde fast gleichzeitig in einem Artikel des ägyptischen Islamismus-Experten Diaa Rashwan in der Kairoer »Al Ahram Weekly« konkretisiert. Im Vergleich der beiden Anschläge von Riad und Casablanca stellt der Autor zunächst fest, dass beide in einem Abstand von nur wenigen Tagen stattfanden und sich ungeachtet der Zahl der einheimischen Opfer in erster Linie gegen westliche Ziele richteten. In beiden Fällen habe es eine größere Zahl von Angreifern – 15 in Riad und 14 in Casablanca – gegeben, und in beiden Fällen habe ein Teil der Angreifer mit Handfeuerwaffen den Weg für eine Gruppe von Selbstmordattentätern freigeschossen. Die Unterschiede jedoch wiesen darauf hin, dass es wohl kaum das internationale Gespenst der Al Qaida sei, das für beide Attentate verantwortlich sei.

Hinter diesem Mediengespenst verbergen sich nach Auffassung von Rashwan in Wahrheit verschiedene Kräfte, deren Zusammenhang nur ideologischer Natur sei. Die erste Ebene dieser Kräfte sei die Organisation Qaedat al-Jihad, deren Existenz erstmals im April 2002 enthüllt wurde und die offensichtlich die Nachfolgerin der 1998 gebildeten »Weltweiten Islamischen Front für den Jihad gegen Juden und Kreuzritter« sei. Diese Organisation ist vermutlich verantwortlich für die Bombenanschläge auf die USA-Botschaften in Kenia und Tansania. Die Front, die über eine klare Hierarchie und ein verbindliches Programm verfüge, habe ihre Mitgliedschaft in Afghanistan, Pakistan, Teilen Zentralasiens, Indien, der Arabischen Halbinsel und Ostafrika konzentriert. Die zweite Ebene, so der ägyptische Islamismus-Experte weiter, sei jenes diffuse Al-Qaida-Netzwerk, unter das die verschiedensten islamistische Kräfte subsumiert würden, die für den Jihad (den »heiligen Krieg«) einträten. Diese Kräfte haben an verschiedenen Ecken der Welt insbesondere israelische und US-amerikanische Ziele angegriffen. Irgendwelche Belege für organisatorische Verbindungen dieser Gruppen zu Qaedat al-Jihad gebe es jedoch nicht, und bin Laden kann deshalb keineswegs als Planer und Auftraggeber aller antiwestlichen Operationen islamistischer Terroristen bezeichnet werden.

Diaa Rashwan ist – wie auch saudische und US-amerikanische Experten – der Ansicht, dass mit größter Wahrscheinlichkeit Qaedat al-Jihad die Urheberin des jüngsten Terroranschlags in Saudi-Arabien sei. Für den in Marokko jedoch gelte das durchaus nicht. Der Anschlag in Casablanca wurde ausschließlich von Marokkanern durchgeführt. Diese gehörten einer lokalen Islamistengruppe namens Gerader Weg an. Ihre Methode und ihr Ziel rechtfertigen nach der herkömmlichen Lesart, sie unter den Begriff Al Qaida einzuordnen. Es sei jedoch sehr unwahrscheinlich, dass sie irgendwelche organisatorischen Verbindungen zu bin Ladens Organisation habe.

Vielmehr zeige die Tatsache, dass die marokkanischen Behörden im Vorjahr drei Saudis wegen eines geplanten Anschlages in der Straße von Gibraltar verhafteten, dass auch Qaedat al-Jihad eigene Militante nach Marokko schicken musste, weil sie über keine Kontakte zu einheimischen islamistischen Terroristen verfügte, die die geplante Operation hätten durchführen können. Darüber hinaus hätten Experten festgestellt, dass die in Casablanca verwendeten Sprengkörper von einer derart primitiven Bauart waren, dass auch von daher eine Beteiligung von bin Ladens Netzwerk ausgeschlossen werden könne.

Diaa Rashwan kommt auf dieser Grundlage zu einer ähnlichen Einschätzung wie der syrische Präsident Assad. Während sich dieser allerdings aus leicht erkennbaren realpolitischen Erwägungen weigert, die Anschläge mit dem Überfall der USA auf Irak in Zusammenhang zu bringen, stellt der ägyptische Experte gerade diese Verbindung her. Bezeichnenderweise habe der Anschlag in Casablanca auch spanischen Interessen gegolten, und Spanien war schließlich einer der eifrigsten Unterstützer des USA-Überfalls auf Irak.

Aus: Neues Deutschland, 28. Mai 2003


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