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Chaos als Plan

Sechs Jahre nach dem 11. September: Mit dem "Krieg gegen den Terrorismus" haben die US-amerikanischen Neokonservativen ein Modell für weltweite Militäreinsätze entwickelt

Von Knut Mellenthin *

Wie immer der genaue Ablauf der Ereignisse am 11. September 2001 war, und wer immer dabei im Hintergrund Regie geführt haben könnte, eine Tatsache steht fest und ist im Rückblick auf die seither vergangenen sechs Jahre offensichtlich: Die Angriffe auf das New Yorker World Trade Center und auf das Pentagon in Washington kamen seit langem ausgearbeiteten Plänen US-amerikanischer Kriegsstrategen sehr entgegen. Mehr noch, sie stellten ideale Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Pläne her.

Bald nach dem 11. September begannen führende Neokonservative, für die Notwendigkeit eines »Weltkrieges« zu werben, der sich gegen die islamischen Länder des Nahen und Mittleren Ostens richten sollte. Eliot Cohen war vermutlich der erste, der mit seinem Leitartikel im Wall Street Journal vom 30. Oktober 2001 den Begriff »World War IV«, vierter Weltkrieg, ins Spiel brachte. »Vierter« deshalb, weil die Neocons den gewonnenen Kalten Krieg gegen die Sowjetunion als Nummer drei in der Reihe der Weltkriege mitzählen. In seinem Leitartikel stellte Eliot Cohen klar: »Der Feind in diesem Krieg ist nicht der ›Terrorismus‹, sondern der militante Islam.« – Cohen empfahl nach der inzwischen erfolgten militärischen Besetzung Afghanistans den Sturz der iranischen Regierung als nächstes Etappenziel. Davon versprach sich der Autor »entscheidende Signalwirkung« auf die gesamte moslemische Welt.

Cohens Worte haben unter Insidern Gewicht. Er ist Professor für Strategische Studien, gilt als einflußreicher Berater des Weißen Hauses und des Pentagon – und nicht zuletzt war er verantwortlich für die Herausgabe der offiziellen fünfbändigen Untersuchung der US-Luftwaffe über die Ergebnisse des Bombenkrieges gegen Irak 1991.

Ein weiterer wichtiger Theoretiker des »vierten Weltkrieges« ist Norman Podhoretz, ein in den sechziger Jahren zum Propagandisten eines aggressiven Imperialismus konvertierter ehemaliger Linker. In der Februarausgabe 2002 der jahrzehntelang von ihm geleiteten Zeitschrift Commentary erläuterte Podhoretz »How to Win World War IV«, wie man den vierten Weltkrieg gewinnt – und gegen wen er geführt werden muß. Wie Cohen vertrat auch Podhoretz von Anfang an völlig offen und explizit, daß der Gegner nicht der »Terrorismus«, sondern die islamische Welt sei. Er untermauerte diese These mit zweifelhaften Umfrageergebnissen, wonach angeblich rund 70 Prozent der Ägypter, Syrer, Palästinenser, Libanesen und sogar der Kuwaitis Bin Laden für eine Art arabischen Nationalheros hielten.

Noch vor dem Beginn des Überfalls auf den Irak am 2. März 2003 wurde eine neue »Dominotheorie« in die Welt gesetzt. Ihre ursprüngliche Version stammt aus der Zeit des Vietnamkrieges in den 60er und frühen 70er Jahren. Sie besagte, daß nach einem Sieg der »Kommunisten« in Vietnam auch die Nachbarstaaten und dann die nächsten Länder der Region wie Steine in einer Dominolinie »fallen« würden. Die neue Dominotheorie der Neocons behauptete, die »Befreiung« des Irak werde einen riesigen Motivationsschub für die iranische Opposition darstellen und innerhalb kürzester Zeit den Sturz der »Mullah-Diktatur« herbeiführen. Danach könnte sich auch die syrische Regierung, eingekeilt zwischen Israel und prowestlichen Gesellschaften in Jordanien, Irak und Iran, nicht mehr lange behaupten. Als nächstes sollte dieser Theorie zufolge auch die Herrschaft der Saudis zusammenbrechen, zumal die Besetzung Iraks mit den zweitgrößten Ölvorkommen der Welt die wirtschaftliche Bedeutung des saudiarabischen Öls verringern würde. Ein Nebeneffekt würde sein, daß die Palästinenser fast jede internationale Unterstützung verlieren würden. Die USA müßten kaum mehr tun, als die Oppositionsbewegungen im arabischen Raum schnell und großzügig zu unterstützen, behaupteten damals die Neocons.

Zwischen Herbst 2003 und Frühjahr 2005 befand sich der US-amerikanische Versuch, eine aggressive Eroberungsstrategie als strahlenden Feldzug für weltweite Demokratie auszugeben, auf dem Höhepunkt. Der georgischen »Rosenrevolution« vom 22. bis 23. November 2003 folgten im November 2004 die »orange Revolution« in der Ukraine und im März 2005 die libanesische »Zedernrevolution«, die zum Abzug der syrischen Truppen führte und damit den Weg für eine eskalierende Destabilisierung des Landes unter Regie der USA und der NATO öffnete. Der israelische Aggressionskrieg im Sommer 2006 sollte das Werk vollenden, scheiterte aber militärisch.

Zuvor war schon im April 2005 die anfangs von der US-Regierung gefeierte »Tulpenrevolution« in Kirgisien nicht wunschgemäß verlaufen. Einen Monat später scheiterte der von den USA unterstützte Versuch einer »Revolution« in Usbekistan und führte zu einer teilweisen Abkehr des autoritären usbekischen Regimes vom Westen. In Ägypten gab die US-Regierung ihre Taktik, sich im Vorfeld der Präsidentenwahlen vom September 2005 als Beschützerin der unterdrückten Opposition darzustellen, sehr schnell und kläglich wieder auf. Die lautstark angekündigte amerikanisch-europäische Kampagne, bei der Wahl im Jahre 2006 den als »letzten Diktator Europas« beschimpften belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu stürzen, endete mit einem totalen Reinfall. Ebenfalls zu Grabe getragen werden mußte spätestens im Sommer 2005 die von Präsident George W. Bush ein Jahr zuvor feierlich ausposaunte »Greater Middle East Initia­tive«, mit der die moslemischen Völker des Nahen und Mittleren Ostens für die US-amerikanische Eroberungspolitik korrumpiert werden sollten. Von den damals verkündeten Parolen und Zielen ist buchstäblich kein Stück übriggeblieben. Sie gingen unter in dem Abschreckungseffekt, der von der westlichen Besatzungsrealität im Irak und zunehmend auch in Afghanistan ausgeht.

Revolution der Geostrategie

Dennoch wäre es falsch, aufgrund solcher Ergebnisse von einem Scheitern der neokonservativen und im weiteren Sinn überhaupt der US-amerikanischen Strategie auszugehen. Der 11. September 2001 bezeichnet, weit über die Kriege im Irak und in Afghanistan hinaus, den Beginn einer im Sinn der maßgeblichen Kräfte durchaus erfolgreichen Revolution in der militärischen Geostrategie der USA. Mit dem »Krieg gegen den Terrorismus« hat der US-Imperialismus einen politischen und ideologischen Rahmen gefunden, der – anders als der recht genau definierte und vergleichsweise beschränkte Frontverlauf des Kalten Krieges– zu jeder Zeit eine militärische Präsenz an fast jedem Ort der Welt legitimieren kann. Terroristen können sich im Prinzip überall befinden, überall und jederzeit zuschlagen. Die Bush-Doktrin erlaubt nicht nur weltweite Militäraktionen als »Selbstverteidigung«, sondern gestattet, ja erfordert geradezu ein weites Spektrum »präventiver« Maßnahmen.

Die Parole des »Krieges gegen den Terrorismus« ermöglicht breiteste internationale Konsensbildung und erlaubt kaum noch einem Staat, sich davon fernzuhalten oder gar kritische Einwände zu erheben, die über taktische Detailfragen der Umsetzung hinausgehen. Für ihre Kriege im Irak und in Afghanistan kann sich die US-Regierung, dank der anscheinend bedingungslosen Zustimmung Rußlands und Chinas, sogar auf nachträgliche, alljährlich nahezu automatisch erneuerte Mandate des UNO-Sicherheitsrats stützen und berufen.

Der »Krieg gegen den Terrorismus« hat für seine Betreiber darüber hinaus den Vorteil, daß er nicht irgendwann definitiv feststellbar mit der Niederlage des Gegners enden kann. Hier liegt der Hintergrund für die Äußerungen führender Neokonservativer, der »vierte Weltkrieg« werde mehrere Jahrzehnte lang dauern. In einer von scharfen sozialen Widersprüchen bestimmten Welt kann dieser Krieg per Definition überhaupt niemals zu Ende gehen. Mehr noch: Der »Krieg gegen den Terrorismus« verschärft das Problem, das er zu bekämpfen vorgibt, und exportiert es in jeden Winkel der Erde. Das Unternehmen funktioniert, empirisch vorhersehbar, nach dem Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Überall, wo sich amerikanische Truppen langfristig breitmachen und direkt in die innenpolitischen Konflikte eingreifen, ist deren Radikalisierung und Militarisierung eine fast zwangsläufige Folge.

Der mit Abstand größte Zweig der Weltwirtschaft, die Rüstungsindustrie mit allem, was an kriegsbedingten Nebengeschäften dazugehört, expandiert und steht auf Jahrzehnte hinaus vor gesichertem Absatz. Das gilt vor allem für die Vereinigten Staaten selbst, aber auch in Deutschland und anderen mit den USA verbündeten Ländern profitieren viele Unternehmen dauerhaft von dem »neuen Dreißigjährigen Krieg«. Am stärksten an dessen Fortsetzung und Ausweitung sind die Unternehmen interessiert, die nur verdienen können, solange wirklich Krieg geführt wird. Traditionelle Rüstungskonzerne können grundsätzlich auch in Friedenszeiten riesige Profite einfahren. Lebenswichtig aber ist der Krieg für den stark expandierenden Sektor der »Sicherheitsunternehmen«, die Söldner, Hilfsdienste für das kriegführende Militär oder kriegsnahe »Beratung« anbieten. Es ist daher kein Zufall, daß viele führende Neokonservative gerade mit diesem aggressivsten Teil der Militärwirtschaft persönlich eng verbunden sind.

Dreiteilung Iraks geplant

Sechs Jahre nach Ausrufung des »Krieges gegen den Terror« hat der militärische Flächenbrand bereits große Teile des Nahen und Mittleren Ostens erfaßt. Und während scheinbar eine internationale Absetzbewegung aus dem Irak stattfindet, ist sich das gesamte westliche Bündnis einig, die gemeinsame Aufstandsbekämpfung in Afghanistan umso stärker fortzusetzen, die dort stationierten Truppen zahlenmäßig aufzustocken und sich auf mindestens weitere zehn Jahre militärischer Präsenz einzustellen. Gleichzeitig verschärfen USA und EU gemeinsam die Konfrontation mit dem Iran und steuern auf einen weiteren kriegerischen Konflikt noch während der Ende 2008 auslaufenden Amtszeit von Präsident Bush zu. Die Folgen würden vollends die Region zwischen dem östlichen Mittelmeer und Zentralasien in eine Kampfzone verwandeln, in die auch die arabische Halbinsel einbezogen sein könnte.

Im Irak hat die US-amerikanisch dominierte Besatzungspolitik eine Bürgerkriegsdynamik ausgelöst, die kaum noch aufhaltbar auf eine Zersplitterung des Landes in drei oder noch mehr Teile zuzutreiben scheint. Seit Bush im Februar seine »neue Strategie« verkündete und weitere 30000 Soldaten in den Irak schickte, ist die Zahl der Binnenflüchtlinge von 500000 auf 1,1 Millionen gestiegen, wie die New York Times am 24. August berichtete. Hinzu kommt, daß im Tagesdurchschnitt etwa 3000 Menschen den Irak verlassen, wie das Blatt schon am 8. Dezember 2006 auf der Grundlage eines UN-Berichts gemeldet hatte. Seit Kriegsbeginn sind mehr als 1,6 Millionen Iraker emigriert. Viele Flüchtlinge gehören der Mittelschicht an, sind Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter. Ihr Weggang verschärft die katastrophalen Verhältnisse im Land. Die Aufnahmestaaten, hauptsächlich Syrien und Jordanien, sind an der Grenze ihrer Möglichkeiten angekommen. Insbesondere ihre Hauptstädte, Damaskus und Amman, haben jeweils mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aufgenommen.

Einem Bericht der Nachrichtenagentur AP vom 25. August zufolge sind im Irak in diesem Jahr im Tagesdurchschnitt 62 Menschen ums Leben gekommen. Im Jahr 2006 lag die entsprechende Zahl bei 33. Darin sind die Opfer der amerikanischen »Aufstandsbekämpfung« noch nicht einmal enthalten. Sogenannte sektiererische Konflikte zwischen den religiösen, nationalen und politischen Gruppen des Landes sind zur Hauptursache von Gewalttaten geworden. Die Behauptung, daß es nach einem Abzug der Besatzungstruppen zu einem Genozid kommen könnte, ist zum wichtigsten Argument für deren zeitlich unbefristeten Verbleib im Land geworden. Darin sind sich, allen politischen Schaugefechten zum Trotz, die führenden Politiker von Republikanern und Demokraten einig.

Die Diskussion über eine Zerlegung Iraks in drei Staaten – einen kurdischen im Norden, einen schiitischen im Süden, einen sunnitischen in der Mitte samt einem Sonderstatus für das religiös völlig zersplitterte Bagdad – wird in den USA immer offener geführt. Eine solche Entwicklung würde zahlreiche schwer lösbare Grenzprobleme aufwerfen, angefangen beim Streit um das von den kurdischen Parteien beanspruchte Erdölzentrum Kirkuk, ohne das ein kurdischer Staat kaum wirtschaftlich lebensfähig wäre. In Bagdad kündigte die US-Besatzungsverwaltung schon im Frühjahr ihre Absicht an, Mauern und Sperrgürtel um einige Stadtteile zu legen. Nur der Protest der irakischen Regierung stoppte vorläufig die Durchführung dieses Plans. Im schiitischen Süden kämpfen mindestens drei Gruppen um die Vorherrschaft. Der mittlere Irak, in dem die Sunniten zahlenmäßig vorherrschen, verfügt kaum über Erdöl- und Erdgasvorkommen. Die Teilungsmodelle gehen deshalb davon aus, daß die Staatsgebilde der Kurden und der Schiiten den Sunniten eine bestimmte Zeit lang Ausgleichszahlungen leisten müßten, was aber kaum zuverlässig zu realisieren wäre. Alle Pläne zur Zerlegung Iraks sehen angesichts der komplizierten Bevölkerungsstruktur des Landes organisierte Massenumsiedlungen vor, um ethnisch und religiös relativ »reine« Gebiete zu schaffen. Die Planer berufen sich dabei auf die angeblich erfolgreichen Erfahrungen im früheren Jugoslawien, insbesondere in Bosnien-Herzegowina.

Die katastrophale Entwicklung im Irak ist nicht überraschend. Sie sollte daher nicht als Scheitern der US-amerikanischen Politik, sondern ganz im Gegenteil als deren von Anfang an gewolltes Ergebnis interpretiert werden. Daß der Sturz der autoritären, gewaltgestützten Regierung Saddam Husseins, verbunden mit der folgenden Besatzungspolitik, insbesondere der systematischen Zerschlagung von Armee, Verwaltung und sämtlichen anderen zentralen Strukturen, ein generelles Chaos und schließlich einen Kampf aller gegen alle auslösen würde, war von vornherein zu erkennen. Die New York Times berichtete am 13. Oktober 2005, daß der US-Regierung schon im Januar 2003, also noch vor Kriegsbeginn, zwei entsprechende Geheimdienstanalysen vorlagen. Sie »sagten voraus, daß eine amerikanisch geführte Invasion Iraks die Unterstützung für den politischen Islam verstärken würde und daß sie zu einer tief gespaltenen irakischen Gesellschaft mit der Tendenz zu gewalttätigen inneren Konflikten führen würde«.

Motivationsschub erforderlich

Auch im Libanon hat die massive Einmischung der USA – gemeinsam mit Israel und den Europäern, vor allem Frankreich – dazu geführt, daß das Land kaum noch als einheitlicher Staat regierbar ist. Im Gegenteil, es droht nach einer rund fünfzehnjährigen Phase innenpolitischer und wirtschaftlicher Stabilisierung in den Bürgerkrieg der 70er Jahre zurückzufallen. Zentraler Hebel ist auch dort, ähnlich wie im Irak, das Ausnutzen religiöser Widersprüche und ihr gezieltes Anheizen bis zur gewaltsamen Konfrontation.

Demselben Muster folgt der US-amerikanische Versuch, die überwiegend sunnitischen Staaten der arabischen Halbinsel gegen den schiitischen Iran in Front zu bringen – und damit zugleich den religiösen Widerspruch in diesen Ländern anzuheizen und auszunutzen. Die Auflösung Saudi-Arabiens entlang religiöser Konfliktlinien war schon 2002 ein zentrales Thema im neokonservativen Diskurs. Verwiesen wurde dabei darauf, daß ein großer Teil der saudischen Ölquellen in Gebieten mit mehrheitlich schiitischer Bevölkerung liegt. Käme es dort zu Unruhen, könnten diese den USA als Vorwand für eine militärische Besetzung der Ölquellen dienen, wurde schon damals von neokonservativer Seite offen argumentiert.

Auch in Palästina hat die US-amerikanische Politik, mit Unterstützung der EU, erfolgreich zu einer Spaltung geführt. Die von Israel besetzten Gebiete sind in zwei Teile mit konkurrierenden Führungen zerfallen. Die Macht von Präsident Mahmud Abbas beruht auf kaum mehr als der engen Kooperation mit der US-Regierung, die weiter das Ziel verfolgt, einen palästinensischen Bürgerkrieg zwischen Fatah und Hamas zu provozieren und damit jede Chance auf einen lebensfähigen palästinensischen Staat endgültig zu zerstören.

In Afghanistan hat die militärische Aufstandsbekämpfung durch die USA und ihre NATO-Verbündeten ein Wiedererstarken der Taliban begünstigt. Es wird dort mehr Opium und Heroin produziert als jemals zuvor in der Geschichte des Landes. Das NATO-Protektorat Afghanistan liefert den Rohstoff für 92 Prozent des auf dem Weltmarkt gehandelten Heroins. Große Teile von Regierung und Verwaltung sind mit dem Rauschgifthandel verfilzt – und zugleich als korrupt und ineffektiv bei der Bevölkerung diskreditiert. Politisch ist der Besatzungskrieg bereits verloren. Das Bestreben, ihn militärisch noch weiter zu eskalieren, verschärft nur die Widersprüche. Über kurz oder lang ist eine Ausweitung des Krieges auf den Westen Pakistans, der als Hinterland und Ruheraum des afghanischen Aufstands dient, kaum zu vermeiden. Die Folge wäre wahrscheinlich eine schwerwiegende Destabilisierung Pakistans. Diese wiederum könnte angesichts der Tatsache, daß Pakistan als einziges islamisches Land Atomwaffen besitzt, zum Auslöser einer US-amerikanischen Militärintervention werden.

Nimmt man noch die schon sehr weit vorangeschrittenen Kriegspläne gegen Iran hinzu, so liegt auf der Hand, daß die derzeitigen militärischen Kapazitäten der USA mit einer Ausweitung des »vierten Weltkrieges« völlig überfordert wären. Andererseits haben die Vereinigten Staaten ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten noch längst nicht ausgereizt und auch für eine Verstärkung ihrer Streitkräfte große Reserven: Zu keiner Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg hatte Amerika weniger Soldaten als heute. Worauf es freilich ankäme, wäre ein neuer, dem 11. September 2001 vergleichbarer Motivationsschub. Dieser könnte am ehesten von einem ähnlichen »terroristischen« Angriff ausgehen. Die Versuchung für einschlägige amerikanische Stellen, nötigenfalls nachzuhelfen oder selbst Hand anzulegen, muß riesengroß sein.

* Aus: junge Welt, 11. September 2007


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