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Gleichgewicht der Moral

Über den "Krieg gegen den Terrorismus". Von Noam Chomsky*

Machen wir eine Art Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, daß ein intelligenter Marsbewohner, der die Journalistenschulen von Harvard und Columbia besucht und dort lauter anspruchsvolle Dinge gelernt hat, die er zudem noch für richtig hält, den Auftrag bekommt, über den »Krieg gegen den Terrorismus« zu berichten. Wie würde er das machen?

Wahrscheinlich würde er der Marszeitung, für die er arbeitet, zunächst ein paar Tatsachen berichten. Dazu gehört die Beobachtung, daß der Krieg gegen den Terrorismus nicht erst am 11. September 2001, sondern, unter Verwendung vergleichbarer rhetorischer Mittel, bereits zwanzig Jahre zuvor erklärt wurde. Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, kündigte die Regierung Reagan schon bald nach ihrem Amtsantritt an, daß ein solcher Krieg zu den zentralen Aufgaben der US-Außenpolitik gehöre. Zugleich verdammte sie, in den Worten des Präsidenten, die »bösartige Geißel des Terrorismus« (New York Times, 18. Oktober 1985). Hauptangriffsziel sollte der staatlich unterstützte internationale Terrorismus sein, der in der islamischen Welt und damals auch in Mittelamerika sein Unwesen trieb. Er galt als Pest, die von »verworfenen Gegnern der Zivilisation« in einer »Rückkehr zur Barbarei im Zeitalter der Moderne« verbreitet wurde (Washington Post, 26. Oktober 1984). So jedenfalls ließ sich der zu den gemäßigten Regierungskräften zählende Außenminister George Shultz vernehmen.

Die von mir zitierte Äußerung Reagans bezog sich auf den Nahen Osten des Jahres 1985. Damals wurde der internationale Terrorismus in dieser Region laut einer Umfrage von Associated Press bei Chefredakteuren zur Titelgeschichte des Jahres erklärt. Unser Marsbewohner würde also als erstes berichten, daß 2001 dieses Thema zum zweiten Mal zur Titelgeschichte des Jahres gekürt und der Krieg gegen den Terrorismus mit ganz ähnlichen Worten wie sechzehn Jahre zuvor ausgerufen wurde.

Zudem gibt es auch hinsichtlich des Führungspersonals eine augenfällige Kontinuität. Donald Rumsfeld, der jetzt die militärische Leitung des Antiterrorkriegs innehat, war unter Reagan Sonderbotschafter im Nahen Osten. Die diplomatische Komponente des Kriegs wird seit einigen Monaten von John Negroponte bei den Vereinten Nationen vertreten, der unter Reagan die US-Operationen in Honduras, dem damaligen Hauptstützpunkt im Kampf gegen den Terrorismus, beaufsichtigte.

Das Element der Macht

1985 stand der Nahe Osten im Vordergrund, gefolgt von Mittelamerika. Den dort grassierenden Terrorismus hielt George Shultz gar für so bedrohlich, daß er ihn »als Krebsgeschwür in unserer Hemisphäre« (1) bezeichnete, das man schnell ausmerzen müsse, weil es ganz offen die von Hitler in »Mein Kampf« gepredigten Ziele verfolge und schon dabei sei, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Die Gefahr war so groß, daß Präsident Reagan am Law Day 1985 den nationalen Notstand ausrief, weil »die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten in außergewöhnlicher Weise bedroht sind«. (Law Day, der 1. Mai, gilt in den meisten anderen Ländern als Tag der Arbeiterbewegung; in den USA bricht jedoch lediglich nationalistischer Taumel aus.)

Der Notstand wurde nun Jahr um Jahr erneut ausgerufen, bis das »Krebsgeschwür« beseitigt worden war. Am 14. April 1986 verkündete Außenminister Shultz: »Verhandlungen sind nur ein Euphemismus für Kapitulation, solange nicht der Schatten der Macht auf den Verhandlungstisch fällt.« Er wandte sich gegen all jene, die »utopische Rechtsmittel wie Vermittlung seitens Dritter, die Vereinten Nationen und den Weltgerichtshof anwenden wollen und dabei das Element der Macht in der Gleichung übersehen«.

Dieses Element spielten die Vereinigten Staaten damals aus: Sie unterstützten in Honduras Söldnertruppen und verhinderten den Einsatz von Rechtsmitteln, auf den der Weltgerichtshof, die Länder Lateinamerikas und natürlich das »Krebsgeschwür« selbst drängten.

Die Medien unterstützten den Kurs der Regierung und stritten sich lediglich um taktische Fragen. Es gab die übliche Diskussion zwischen Tauben und Falken. Die Position der Falken fand ihren Ausdruck in einem Leitartikel der New Republic (vom 4. April 1984), in dem die Herausgeber forderten, die USA sollten den »Latinofaschisten« auch weiterhin Militärhilfe gewähren, »egal, wie viele Leute ermordet werden«, weil Amerika »höhere Zielsetzungen hat als die Wahrung der Menschenrechte in El Salvador« oder anderswo.

Die Tauben meinten dagegen, diese Mittel würden nicht zum Erfolg führen und man müsse Nikaragua, das hauptsächliche Krebsgeschwür, auf andere Weise »den mittelamerikanischen Verhältnissen« und den »in der Region üblichen Maßstäben anpassen«. So las man es in der Washington Post (14. und 19. März 1986). Diese Verhältnisse und Maßstäbe hatten ihr Vorbild in den Terrorstaaten Guatemala und El Salvador, wo es Massaker, Folterungen und Zerstörung zuhauf gab. So sollte es auch in Nikaragua wieder zugehen.

Die Kommentare und Leitartikel in der US-amerikanischen Presse vertraten zu etwa gleichen Teilen die Position der Falken bzw. der Tauben. Es gab Ausnahmen, die jedoch statistisch Randerscheinungen blieben. Im Hinblick auf die andere »Terrorregion«, den Nahen Osten, war die Einstimmigkeit sogar noch größer.

Derselbe Krieg, andere Ziele

Der Marsbewohner würde seiner Zeitung also berichten, daß der »Krieg gegen den Terrorismus« jetzt von denselben Personen erneut verkündet wurde, wobei die Ziele sich leicht verändert haben.

Die »verworfenen Gegner der Zivilisation« von heute waren in den achtziger Jahren jene »Freiheitskämpfer«, die von der CIA bewaffnet und von Spezialeinheiten ausgebildet wurden. Genau diese Spezialeinheiten suchen jetzt nach ihnen in den Höhlen von Afghanistan.

Die »Freiheitskämpfer« von damals waren Bestandteil des »Kriegs gegen den Terror«, die ganz offen ihren eigenen Terrorkrieg führten und weiterhin führen. 1981 ermordeten sie den ägyptischen Präsidenten, Anwar Al-Sadat, und lancierten Terrorangriffe in der Sowjetunion, die so heftig waren, daß sie fast zu einem Krieg mit Pakistan geführt hätten. Allerdings hörten diese Angriffe nach dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan auf, während das zerstörte Land in die Hände von US-Protegés fiel, deren Herrschaft zu den schlimmsten Kapiteln in der Geschichte Afghanistans gehört. Sie sind, außerhalb von Kabul, bereits wieder an der Macht und treiben ihre alten Kriegsspiele, die sich, wie die Washington Post (am 22. Januar 2001) berichtete, zu einem größeren Krieg ausweiten können. All dies führt zu Schlagzeilen in der Marspresse, wobei auch die Folgen für die Zivilbevölkerung erörtert werden, die Monate nach dem Krieg immer noch Mangel leidet, weil vorhandene Nahrungsmittel nicht verteilt werden.

Die Folgen können wir nicht abschätzen und werden dazu auch nie in der Lage sein, denn es gehört zu den Prinzipien der geistigen Kultur, daß man die Verbrechen von Feinden mit größter Genauigkeit untersucht, jedoch niemals die eigenen. Insofern lassen sich immer nur Vermutungen darüber anstellen, wie viele tote Vietnamesen oder Salvadorianer oder Afghanen wir auf dem Gewissen haben.

Ketzerischer Grundsatz

Das wären, wie gesagt, die Schlagzeilen in der Marspresse. Unser Marsreporter würde aber auch einige grundlegende Vorstellungen klären wollen. Zunächst möchte er wissen, was genau Terrorismus ist, sodann, wie man adäquat auf ihn reagieren kann. Wie immer die Antwort auf diese zweite Frage ausfallen mag, so muß die angemessene Reaktion von ein paar moralischen Binsenweisheiten geleitet sein, die der Marsreporter leicht entdecken kann, denn die selbsternannten Führer des »Kriegs gegen den Terrorismus« bekräftigen, daß sie gläubige Christen sind, die das Neue Testament in Ehren halten. Insofern wissen sie wahrscheinlich auch, was die Evangelien unter einem Heuchler verstehen – ein Heuchler ist ein Mensch, der moralische Maßstäbe nur für andere, nicht aber für sich selbst gelten läßt.

Daraus schließt der Marsianer, daß eine moralische Minimalbedingung in der Anerkennung gleicher Rechte besteht: Wenn eine Handlung für uns richtig ist, dann auch für andere, und wenn andere etwas Falsches machen, wird es nicht richtig, wenn wir es tun. Das nun ist die elementarste moralische Binsenweisheit, und wenn der Marsbewohner dies erkannt hat, kann er eigentlich seine Koffer packen und auf seinen Planeten zurückkehren, weil seine Forschungen damit beendet sind. Er würde nämlich in den ganzen Kommentaren über den »Antiterrorkrieg« keine einzige Äußerung finden, die der Minimalbedingung Genüge täte. Sie müssen mir das nicht glauben, sondern können selbst den Versuch unternehmen, eine solche Äußerung aufzutreiben. Ich will auch nicht übertreiben – vielleicht finden Sie hier und da sogar etwas außerhalb des Mainstreams.

Natürlich kennt man diese moralische Binsenweisheit auch im Mainstream, wo man sie als gefährliche Ketzerei begreift, gegen die unüberwindbare Barrieren errichtet werden müssen, damit sie sich nicht ausbreiten kann. Gegen eventuelle Verfechter werden bestimmte Begriffe ins Feld geführt – sie machen sich des »moralischen Relativismus« schuldig oder der »moralischen Äquivalenz«, ein Terminus, den, wie ich glaube, Jeane Kirkpatrick eingeführt hat, um die Gefahr abzuwehren, daß jemand sich untersteht, unsere eigenen Verbrechen unter die Lupe zu nehmen.

Oder man bezichtigt die Verfechter dieses »moralischen Relativismus« des »Antiamerikanismus«. Das ist ein interessanter Begriff, der vorwiegend in totalitären Staaten verwendet wurde; in der einstigen UdSSR galt »Antisowjetismus« als schlimmstes Verbrechen. Würde aber z. B. in Italien ein Buch über »Antiitalianismus« veröffentlicht, läßt sich wohl vorstellen, wie man in Mailand oder Rom darauf reagierte.

Unbrauchbare Definition

Aber nehmen wir an, daß der Marsbewohner sich von all diesen Tiraden und Schmähungen nicht beeindrucken läßt, sondern an den moralischen Binsenwahrheiten festhält und neugierig genug ist, um ein bißchen weiter zu forschen. Er wendet sich also der wichtigen Frage zu: Was ist Terrorismus?

Es gibt für ihn eine geeignete Methode, um die Antwort zu finden: Wie definieren die Personen, die dem »Terrorismus« den Krieg erklärt haben, was Terrorismus ist? Eine solche Bestimmung findet sich in US-amerikanischen Gesetzestexten und Armeehandbüchern. Sie ist sehr kurz. Terrorismus sei, so heißt es dort, die »kalkulierte Anwendung oder Androhung von Gewalt (…), um durch Einschüchterung, Zwang oder Furchteinflößung Ziele zu erreichen, die ihrem Wesen nach politisch, religiös oder ideologisch sind«. Das klingt einfach und ist, soweit ich sehen kann, angemessen. Andererseits lesen wir immer wieder, daß es ein höchst schwieriges Problem sei, Terrorismus zu definieren, und der Marsbewohner könnte sich fragen, ob das wahr ist. Darauf gibt es eine Antwort.

Die Definition ist – aus mindestens zwei Gründen – unbrauchbar. Zum einen stellt sie eine sehr enge Umschreibung der offiziellen Regierungspolitik dar, die in solchen Fällen »Konflikt niederer Intensität« oder »Gegenterror« genannt wird. Es ist weltweit üblich, Terror als Gegenterror auszugeben, und schon darum ist die offizielle Definition unbrauchbar. Der andere Grund ist sehr viel einfacher: Sie gibt die falschen Antworten auf die Frage, wer die Terroristen sind. Mithin muß die offizielle Definition aufgegeben und eine ausgeklügeltere erfunden werden, die die richtigen Antworten gibt, und das ist nicht einfach. Darum wird gesagt, es sei ein schwieriges Thema, mit dem selbst große Geister zu kämpfen hätten etc.

Glücklicherweise gibt es eine Lösung. Sie besteht darin, Terrorismus als das zu definieren, was andere gegen uns, wer immer wir sein mögen, ausüben. Das ist, soweit ich weiß, eine universelle Definition – dem Journalismus genauso geläufig wie der Wissenschaft; und es ist auch eine historisch universelle Bestimmung. Zumindest habe ich kein Land gefunden, das diese Praxis nicht betriebe. Und mit dieser nützlichen Charakterisierung des Terrorismus können wir die üblichen Folgerungen ziehen, die allerorten gezogen werden: Wir und unsere Verbündeten sind die Hauptangriffsziele des Terrorismus als einer Waffe der Schwachen.

Natürlich ist der Terrorismus im offiziellen Sinn eine Waffe der Starken, wie die meisten Waffen, per definitionem jedoch ein Mittel der Schwachen, sobald man akzeptiert hat, daß »Terrorismus« etwas ist, das gegen uns ausgeübt wird. Dann wird der Begriff zu einer auf konventioneller Übereinstimmung beruhenden Tautologie.

Genau nach dem Lehrbuch

Nehmen wir an, daß der Marsbewohner auch weiterhin derlei anscheinend universelle Konventionen ablehnt und tatsächlich die öffentlich gepredigten moralischen Binsenweisheiten und auch die offizielle US-amerikanische Definition von Terrorismus akzeptiert. Wenn er so weit geht, lassen sich sicherlich klare Beispiele für Terrorismus finden. Der 11. September 2001 ist ein besonders erschreckendes Beispiel für eine terroristische Gewalttat. Ebenso exemplarisch ist die Reaktion der Briten und Amerikaner, die Admiral Sir Michael Boyce, Leiter des britischen Verteidigungsstabs, verkündete. Die New York Times berichtete darüber in einer Titelgeschichte am 28. Oktober 2001. Boyce setzte die afghanische Bevölkerung davon in Kenntnis, daß die Vereinigten Staaten und Großbritannien ihre Angriffe gegen Afghanistan so lange fortsetzen würden, »bis das Land eine andere Führung hat«. Das ist, in Übereinstimmung mit der offiziellen Definition, eine geradezu lehrbuchmäßige Illustration für internationalen Terrorismus.

Zwei Wochen zuvor hatte George W. Bush der afghanischen Bevölkerung mitgeteilt, daß der Angriff weitergehen werde, bis die gewünschten Verdächtigen ausgeliefert würden. Erinnern wir uns daran, daß der Sturz des Taliban-Regimes als Kriegsziel erst einige Wochen nach Beginn der Bombardements lanciert wurde, damit die Intellektuellen die Gerechtigkeit dieses Kriegs preisen konnten.

Auch George W. Bush verkündete einen Terrorismus gemäß dem Lehrbuch: Wir werden euch so lange bombardieren, bis ihr die von uns gesuchten Personen ausliefert. Die Taliban fragten nach Beweisen, was von der US-Regierung ebenso verachtungsvoll abgelehnt wurde wie Auslieferungsangebote, deren Ernsthaftigkeit ungeprüft blieb.

Das alles würde der Marsbewohner vermerken und, wenn er recherchefreudig ist, auch die Gründe für dieses Verhalten nebst weiteren Beispielen herausfinden. Diese Gründe sind ganz einfach: Weltmächte beugen sich keiner Autorität und akzeptieren insofern auch nicht die Forderung, Beweise vorzulegen oder um Auslieferung nachzusuchen. Aufgrund dieser Logik lehnten die USA eine Autorisierung ihrer Vorgehensweise durch den UN-Sicherheitsrat strikt ab, obwohl es nicht schwer gewesen wäre, diese zu erhalten.

Natürlich hat sich die US-Regierung dabei etwas gedacht, und in der internationalen Politik und Diplomatie gibt es sogar einen Terminus dafür: Man muß »Glaubwürdigkeit demonstrieren«. Es ließen sich auch andere Ausdrücke verwenden: Wir sind ein terroristischer Staat, also seht euch vor, falls ihr uns in die Quere kommt. Aber das hieße, »Terrorismus« gemäß der bereits erwähnten offiziellen Bedeutung zu verwenden, und das geht, wie ich gezeigt habe, nicht.

Eindeutige Fälle

Kommen wir noch einmal auf die moralische Binsenweisheit zurück. Gemäß der offiziellen, allgemein akzeptierten und als gerecht und bewunderungswürdig gepriesenen Lehre sind die Vereinigten Staaten dazu berechtigt, einen Terrorkrieg gegen die Afghanen zu führen, bis diese die gesuchten Verdächtigen ausliefern, oder, wie es der britische Admiral Sir Michael Boyce später formulierte, ihre politischen Führer auswechseln. Demzufolge müßten alle, die keine Heuchler im Sinne der Evangelien sind, den Schluß ziehen, daß Haiti das Recht zu umfangreichen terroristischen Maßnahmen gegen die USA besitzt, solange diese nicht den Mörder Emmanuel Constant ausliefern. Er führte jene Terrorgruppen an, die für den Tod von vier- bis fünftausend Haitianern verantwortlich sind, und ist bereits rechtskräftig verurteilt worden.

Die Beweise sind eindeutig, und die haitianische Regierung hat wiederholt, u. a. am 30. September 2001, als der Krieg gegen Afghanistan bereits erwogen wurde, Constants Auslieferung beantragt. Aber in diesem Fall geht es nur um ein paar tausend tote Farbige.

Vielleicht sollte Haiti Terror in den Vereinigten Staaten ausüben. Da Bombardements nicht möglich sind, könnte man auf Bioterror oder ähnliches zurückgreifen, bis die USA ihre politischen Führer auswechseln. Schließlich sind einige US-Präsidenten verantwortlich für schreckliche Verbrechen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts gegen die haitianische Bevölkerung verübt wurden.

Auch Nikaragua hätte das Recht, Maßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die dem »Terrorismus« erneut den Krieg erklärt haben. Viele von ihnen tragen Verantwortung für den terroristischen Angriff auf Nikaragua, der opferreicher war als die Ereignisse vom 11. September: Zehntausende wurden getötet und das Land verwüstet.

USA verurteilt

Auch in diesem Fall ist die Beweislage eindeutig. Der Weltgerichtshof verurteilte den internationalen Terrorismus der USA, und der UN-Sicherheitsrat forderte in einer Resolution alle Staaten auf, die internationalen Gesetze zu respektieren. Niemand wurde im einzelnen genannt, aber alle wußten, wer gemeint war. Die USA legten ihr Veto ein, Großbritannien enthielt sich. Die Generalversammlung bekräftigte die Aufforderung des Sicherheitsrats in weiteren Resolutionen, die von den USA und einigen Vasallenstaaten abgelehnt wurden. Der Weltgerichtshof forderte die USA auf, den Terrorkrieg gegen Nikaragua zu beenden und umfangreiche Reparationen zu zahlen. Die USA reagierten darauf mit der von Demokraten und Republikanern gleichermaßen getragenen Entscheidung, den Angriff sofort zu eskalieren. Wie die Medien damit umgingen, habe ich bereits beschrieben. Nikaragua wurde unter Druck gesetzt, bis das »Krebsgeschwür« zerstört war und noch darüber hinaus.

Als im November 2001 – der Krieg in Afghanistan hatte soeben begonnen – in Nikaragua Wahlen abgehalten wurden, mischten sich die Vereinigten Staaten dort auf massive Weise ein, indem sie vor einem (in ihrem Sinne) falschen Ergebnis warnten und dafür auch den Grund angaben. Das Außenministerium erklärte, man dürfe Nikaraguas Rolle im »internationalen Terrorismus« der achtziger Jahre nicht vergessen. Gemeint war der Widerstand gegen die Angriffe, die zur Verurteilung der USA seitens der höchsten internationalen Institutionen führten.

In unserer dem Terrorismus und der Heuchelei ergebenen intellektuellen Kultur ruft das keine weiteren Kommentare hervor, aber vielleicht in der Marspresse. Auf jeden Fall kann man sehen, wie das Thema hier behandelt wurde. Oder man könnte, bei diesem unzweifelhaften Beispiel, die je eigene Lieblingstheorie vom »gerechten Krieg« erproben.

Immerhin war Nikaragua den terroristischen Angriffen der USA nicht völlig schutzlos ausgeliefert, denn es besaß eine Armee, die auf seiten der Sandinisten stand. In den anderen mittelamerikanischen Staaten gehörte die Armee zu den Terrorgruppen, die von den USA und ihren Vasallen bewaffnet und ausgebildet wurden, so daß die Greueltaten ein viel größeres Ausmaß annahmen. Aber in diesen Fällen war das Opfer nicht der Staat, und so gab es niemanden, der sich an den Weltgerichtshof oder den Sicherheitsrat wenden konnte, auch wenn deren Urteile und Resolutionen von den USA auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurden.

Der Terror in Mittelamerika hatte weitreichende Folgen. In den Vereinigten Staaten ist man – völlig zu Recht – besorgt über die Auswirkungen des Terrorangriffs vom 11. September 2001. So fragt z. B. die New York Times (am 22. Januar 2002) in einem Aufmacher auf der Titelseite nach den Menschen, die Opfer der Tragödie geworden sind. Das müßte natürlich auch für die Opfer viel schlimmerer terroristischer Verbrechen gelten, aber von denen erfährt man höchstens auf dem Mars.

So könnte man etwa versuchen, den Bericht über eine Konferenz salvadorianischer Jesuiten zu finden, die vor einigen Jahren stattfand. Diese Jesuiten hatten mit dem US-Terrorismus besonders gravierende Erfahrungen gemacht. Ihre Bemerkungen (Envío, März 1994) zur »Kultur des Terrorismus« betonen vor allem deren längerfristige Auswirkungen, wozu auch die Domestizierung der Bevölkerungsmehrheit gehört, die einsehen muß, daß es besser ist, sich den Anordnungen des führenden Terrorstaats und seiner lokalen Agenturen zu fügen, um nicht erneut den von den US-amerikanischen Tauben empfohlenen »mittelamerikanischen Verhältnissen« unterworfen zu werden. Hierzulande blieb der Bericht unerwähnt, aber vielleicht bekommt er auf dem Mars ein paar Schlagzeilen.

Begeisterte Partner

Der Marsreporter könnte noch weitere interessante Ähnlichkeiten zwischen der ersten und der zweiten Phase des Terrorkriegs bemerken. 2001 schlossen sich alle möglichen Terrorstaaten eifrig der Koalition gegen den Terrorismus an. Die Gründe dafür sind nicht schwer zu finden.

Die Russen waren begeistert, weil sie sich von den USA Unterstützung für ihre terroristischen Aktivitäten in Tschetschenien erhofften.

Noch enthusiastischer reagierte die Türkei. Sie bot als erstes Land die Entsendung von Truppen an, denn man war, wie der Premierminister erklärte, den USA für umfangreiche Waffenlieferungen dankbar – zur Zeit der Regierung Clinton kamen achtzig Prozent der türkischen Waffen aus den Vereinigten Staaten –, mittels derer man die ethnischen »Säuberungsaktionen« der neunziger Jahre durchführen konnte. Da die USA der einzige Lieferant waren, zeigte sich die Türkei ihnen gegenüber besonders verpflichtet. Natürlich galten die Aktionen gegen die kurdische Bevölkerung nicht als Terrorismus.

Ähnliche Zusammenhänge lassen sich in der ersten Phase des »Antiterrorkriegs« beobachten. So war die von mir bereits zitierte Ankündigung von Admiral Boyce eine Paraphrase von Äußerungen des bekannten israelischen Politikers Abba Eban aus dem Jahre 1981. Er rechtfertigte israelische Greueltaten im Libanon, die, wie er zugab, ziemlich schrecklich waren, aber dem Ziel dienten, »die Bevölkerung so zu beeindrucken, daß sie Druck ausüben würde, der zur Einstellung der Feindseligkeiten führen könnte« (Jerusalem Post, 16. August 1981). Auch dies ist eine lehrbuchmäßige Illustration für »internationalen Terrorismus« in der offiziellen Bedeutung des Wortes.

Die Kampfhandlungen, auf die Eban sich bezog, fanden an der israelisch-libanesischen Grenze statt. Sie gingen zumeist von Israel aus, oftmals wurde noch nicht einmal ein Vorwand angegeben, aber die Vereinigten Staaten unterstützten dieses Vorgehen, das mithin konventionellerweise nicht zum Terrorismus und seiner Geschichte zählt. Damals bombardierte Israel den Libanon, um Rechtfertigungsgründe für eine geplante Invasion zu finden. Das gelang zwar nicht, aber die Israelis marschierten dennoch in den Libanon ein, wobei an die 18 000 Personen den Tod fanden, und hielten den Südlibanon weitere zwanzig Jahre besetzt, doch all das zählt nicht als Terrorismus, weil die USA Israel Rückendeckung gaben.

Greueltaten

Das Jahr 1985 bildete den Höhepunkt der US-amerikanischen und israelischen Greueltaten im Südlibanon. Die von Premierminister Schimon Peres ins Werk gesetzte Operation »Eiserne Faust« bestand aus zahlreichen Massakern und Deportationen, deren Opfer für die Oberkommandierenden »terroristische Dorfbewohner« waren. »Eiserne Faust« gehörte zu den Kandidaten für das schlimmste terroristische Verbrechen des Jahres 1985, also zu jenem Zeitpunkt, als der »internationale Terrorismus« weltweit Schlagzeilen machte.

Es gab noch Mitbewerber. Zu ihnen zählte das Attentat mittels einer Autobombe, die Anfang 1985 in Beirut gezündet wurde. Sie war darauf eingestellt, in dem Augenblick hochzugehen, da die Besucher einer Moschee den Gottesdienst verließen, weil eine möglichst hohe Zahl von Opfern angepeilt worden war. Einem gruseligen Bericht der Washington Post zufolge wurden achtzig Personen getötet und mehr als zweihundertundfünfzig verwundet (Washington Post Weekly, 14. März 1988). Die schwere Bombe tötete nicht nur Frauen und Mädchen, sondern sogar Säuglinge in ihren Betten. Aber das ist kein Terrorismus, weil diese Aktion von der CIA und dem britischen Geheimdienst organisiert wurde und damit als Kandidat ausfällt.

Somit bleibt noch ein Mitbewerber für den Preis, nämlich Israels Bombardierung von Tunis, bei der fünfundsiebzig Personen starben; in der israelischen Presse gab es darüber einige Berichte von guten Reportern. Die USA waren an dieser Greueltat beteiligt, weil sie ihren tunesischen Verbündeten nicht über den bevorstehenden Angriff informierten. Vielmehr setzte Außenminister George Shultz den israelischen Außenminister, Jitzhak Schamir, davon in Kenntnis, daß die USA diese Aktion mit einiger Sympathie betrachteten, zog jedoch seine Befürwortung zurück, als der UN-Sicherheitsrat das Vorgehen einmütig als bewaffnete Aggression verurteilte (die USA enthielten sich der Stimme).

Wir wollen, wie im Fall Nikaraguas, Washington und seinen Vasallen ein In dubio pro reo einräumen und davon ausgehen, daß die Bombardierung von Tunis lediglich ein Akt des internationalen Terrorismus war und nicht etwa, wie der Sicherheitsrat entschied, bewaffnete Aggression, weil wir sonst als Vergleichsmaßstab die Nürnberger Prozesse heranziehen müßten.

Diese drei Fälle sind die terroristischen Höhepunkte der zahlreichen Greueltaten des Jahres 1985. Ein paar Wochen nach der Bombardierung von Tunis kam Premierminister Schimon Peres nach Washington, um gemeinsam mit Präsident Ronald Reagan die »Geißel des Terrorismus« im Nahen Osten zu beklagen. Das rief keine Kommentare hervor, weil die Bombardierung von Tunis ja kein »Terrorismus« war. Terrorismus ist, was man uns antut. Wenn wir anderen noch Schlimmeres antun, ist das kein Terrorismus. Zumindest der Marsbewohner könnte diese Diskrepanz bemerken.

Meine absolute Lieblingsrezension bekam ich, als ich vor einigen Jahren über dieses Thema schrieb. In der Washington Post (vom 18. September 1988) widmete deren Nahostkorrespondent meinem Artikel zwei Worte; er beschrieb ihn als »breathlessly deranged« – auf atemlose Weise geistig verwirrt. Das gefällt mir. Mit der Atemlosigkeit hatte er sicherlich nicht recht, der Artikel war in eher ruhigem Tonfall verfaßt – aber »geistig verwirrt« ist richtig. Man muß wohl geistig verwirrt sein, um elementare moralische Binsenweisheiten zu akzeptieren und Tatsachen zu beschreiben, die nicht beschrieben werden sollten.

»Vergeltungsmaßnahmen«

Kehren wir zu unserem Marsreporter zurück. Er könnte sich fragen, warum im Hinblick auf den internationalen Terrorismus im Nahen Osten gerade das Jahr 1985 den Höhepunkt für die Rückkehr zur Barbarei durch die Gegner der Zivilisation darstellen soll. Er könnte sich das fragen, weil selbst die schlimmsten Beispiele für internationalen Terrorismus in dieser Region wie auch in Mittelamerika in den schwarzen Löchern des historischen Gedächtnisses verschwunden sind. Und mit ihnen viele andere, von denen manche sich erst kürzlich ereignet haben.

Einige Fälle von 1985 sind jedoch noch gut in Erinnerung. Der offizielle Preis gebührt der Entführung der »Achille Lauro« und dem Mord an dem körperlich behinderten Amerikaner Leon Klinghoffer.(2) Das war zweifellos, wie wir alle noch wissen, eine schreckliche Untat. Allerdings bezeichneten deren Urheber sie als Vergeltung für die Bombardierung von Tunis, die ein weitaus dramatischerer Fall von internationalem Terrorismus war, aber wir haben diese Rechtfertigung mit der ihr gebührenden Verachtung zurückgewiesen.

Und all jene, die sich nicht als Feiglinge und Heuchler begreifen, werden diese grundsätzliche Haltung gegenüber allen anderen gewaltsamen Vergeltungsakten einnehmen, zu denen auch der Krieg in Afghanistan gehört, der mit der unzweideutigen Erwartung begonnen wurde, daß er Millionen Menschen in den Hungertod führen könne. Wir werden das, wie ich sagte, aus prinzipiellen Erwägungen heraus nie erfahren.

Oder denken wir an mindere Gewalttaten, wie die gegenwärtigen Vergeltungsmaßnahmen in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten, die, wie immer, mit Billigung der USA durchgeführt werden und darum nicht als Terrorismus gelten. Der Marsbewohner würde sicherlich auf der Titelseite berichten, daß die USA gerade jetzt den »Krieg gegen den Terror« als Vorwand benutzen, um den Terrorismus ihres führenden Vasallenstaats zu protegieren oder gar zu eskalieren.

Die jüngste Phase dieses Terrorismus begann am 1. Oktober 2000, gleich nach Beginn der zweiten Intifada. Israelische Helikopter griffen unbewaffnete Palästinenser mit Marschflugkörpern an, wobei Dutzende getötet und verwundet wurden. Von Selbstverteidigung war nicht einmal als Vorwand die Rede. (Nebenbei gesagt: »Israelische Helikopter« sind US-amerikanische Helikopter mit israelischen Piloten, die eine entsprechende Ausbildung genossen haben.)

Präsident Clinton reagierte sofort auf diese Gewalttaten. Schon am 3. Oktober, also zwei Tage später, sorgte er dafür, daß Israel die umfangreichste Lieferung an Helikoptern innerhalb eines Jahrzehnts erhalten sollte. Dazu kamen noch Ersatzteile für Apache-Militärhubschrauber, die im September geliefert worden waren. Die Presse kollaborierte, indem sie die Berichterstattung verweigerte – verweigerte, nicht etwa versäumte, denn die Details waren ihr sehr wohl bekannt.

Im Dezember 2001 hätten die Marszeitungen sicherlich Washingtons Intervention zur weiteren Beschleunigung des Terrorkreislaufs im Nahen Osten auf die Titelseiten gesetzt. Am 14. Dezember legten die USA ihr Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats ein, in der die Umsetzung der Mitchell-Vorschläge und die Entsendung internationaler Beobachter für die Deeskalation der Gewalttätigkeiten gefordert wurde. Die Resolution ging dann an die Generalversammlung, wo sie ebenfalls von den USA und Israel angefochten wurde. Auch hierüber gab es in den US-Medien keine Zeile.

Eine Woche zuvor hatte es in Genf eine Konferenz der Signatarstaaten der Vierten Genfer Konvention gegeben, die zur Durchsetzung dieser Konvention vertraglich verpflichtet sind. Sie war bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen worden, um die Kriegsverbrechen der Nazis gerichtlich verfolgen zu können. Die Vierte Konvention verbietet praktisch alles, was die USA und Israel in den besetzten Gebieten unternehmen. Dazu gehören auch die Siedlungen, die mit US-amerikanischer Wirtschaftshilfe errichtet und ausgedehnt wurden. Diese Unterstützungsmaßnahmen wurden unter Clinton und Barak während der Verhandlungen von Camp David noch erweitert. Nur Israel weist die Vorwürfe, gegen die Genfer Konvention zu verstoßen, zurück.

Als das Thema im Oktober 2000 im UN-Sicherheitsrat zur Sprache kam, enthielten sich die USA der Stimme. Offensichtlich wollten sie nicht mit der Verletzung grundlegender Prinzipien des internationalen Rechts in Verbindung gebracht werden, schon gar nicht angesichts der Umstände, unter denen dieser Verstoß stattfand. Deshalb verurteilte der Sicherheitsrat mit vierzehn gegen null Stimmen Israel zur Einhaltung der Konvention. Vor Clinton hatten die USA zusammen mit anderen Mitgliedern des Sicherheitsrats gegen die »flagrante Verletzung« der Konvention durch Israel gestimmt. Die Enthaltung paßt zu Clintons Praxis, die internationale Gesetzgebung und frühere UN-Resolutionen praktisch zu annullieren.

Den Medien zufolge sind die Araber der Auffassung, daß die Konvention für die von Israel besetzten Gebiete gelte. Das ist nicht falsch, aber zuwenig – die Araber sind dieser Auffassung und alle anderen Nationen ebenfalls. Das Treffen vom 5. Dezember 2001, auf dem sämtliche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union anwesend waren, bestätigte die Gültigkeit der Genfer Konvention für die besetzten Gebiete und die Illegalität der Siedlungspolitik; Israel (und damit indirekt die USA) wurde aufgefordert, das internationale Recht zu beachten. Das Treffen scheiterte, weil die USA es boykottierten. Auch in diesem Fall war die Berichterstattung in den USA gleich Null.

Dadurch wurde der Terrorismus im Nahen Osten erneut angeheizt, und die Medien trugen dazu das ihrige bei.

Antworten auf den Terrorismus

Nehmen wir schließlich an, daß wir uns – wie der Marsreporter – von der offiziellen Definition des Terrorismus verabschieden. Wir akzeptieren die moralischen Binsenweisheiten. Nur wenn uns das gelingt, können wir uns aufrichtig der Frage stellen, wie mit terroristischen Verbrechen umzugehen ist.

Man könnte dem Vorbild der gesetzestreuen Staaten, also dem Beispiel Nikaraguas, folgen. Aber das wäre zum Scheitern verurteilt, weil die Welt nicht vom Gesetz beherrscht wird, sondern von der Gewalt. Vielleicht müßte dieses Vorgehen im Hinblick auf die USA nicht scheitern, aber ich habe in der umfangreichen Berichterstattung über die Vorgänge der letzten Monate dazu keinen einzigen Satz gelesen. Also ist das wohl ausgeschlossen.

Eine andere Antwort gaben Bush und Boyce, aber wir verwerfen sie sofort, weil niemand glaubt, daß Haiti oder Nikaragua oder Kuba oder andere Staaten das Recht haben, gegen die USA und ihre Vasallen oder andere reiche und mächtige Staaten mit terroristischer Gewalt vorzugehen.

Eine vernünftigere Antwort gaben andere Quellen, darunter der Vatikan und der herausragende britische Historiker Michael Howard (Foreign Affairs, Jan.–Feb. 2002). Dieser Gelehrte verfügt über alles, was zur Glaubwürdigkeit gehört: Er hat viel Prestige und ist ein großer Bewunderer des britischen Empires und mehr noch von dessen Nachfolger in Sachen Weltherrschaft, weshalb man ihn auch nicht des moralischen Relativismus oder ähnlicher Verbrechen bezichtigen kann.

Im Hinblick auf den 11. September empfahl Howard eine Polizeioperation gegen eine kriminelle Verschwörung, deren Mitglieder verfolgt und vor einen internationalen Gerichtshof gebracht werden sollten, wo sie einen fairen Prozeß und, im Falle eines Schuldspruchs, ein angemessenes Urteil zu erwarten hätten. Darüber wurde anderenorts natürlich nicht nachgedacht, aber es scheint mir vernünftig zu sein, denn dieses Verfahren ließe sich auch bei anderen Verbrechen oder noch schlimmeren terroristischen Gewalttaten anwenden, z. B. hinsichtlich des terroristischen Angriffs der USA auf Nikaragua. Auch das wird nicht erwogen, aber aus ganz anderen Gründen.

Die Aufrichtigkeit stellt uns also vor ein Dilemma. Die einfache Antwort ist die der konventionellen Heuchelei. Die andere Option vertritt unser Reporter vom Mars, der ehrlich an die Grundsätze glaubt, die wir mit so großartiger Selbstgerechtigkeit verkünden. Diese Option läßt sich sehr viel schwieriger durchsetzen, doch ist das unerläßlich, wenn der Welt noch größere Katastrophen erspart bleiben sollen.

Fußnoten

1 Vgl. dazu die Essays von Jack Spence und Eldon Kenworthy in Thomas Walker (Hg.), Reagan vs. the Sandinistas (Boulder: Westview, 1987).

2 Das italienische Kreuzfahrtschiff wurde mit 450 Passagieren im Oktober 1985 von der Palästinensischen Befreiungsfront entführt und Leon Klinghoffer im Rollstuhl über Bord geworfen

* Noam Chomsky, Jahrgang 1928, seit 1961 Professor am Massachusetts Institute of Technology, ist Mitglied der American Academy of Art and Sciences und der National Academy of Science.
Der vorliegende Text wurd in zwei Teilen am 3. und 4. September 2004 in der Tageszeitung "junge Welt" publiziert. Der Text beruht auf einem Vortrag, den Chomsky im Januar 2002 in New York gehalten hat und dessen ausgearbeitete Fassung in diesen Tagen erstmals in deutscher Sprache erscheint – und zwar in dem von Ronald Thoden im Kai Homilius Verlag, Berlin, herausgegebenen Buch "Terror und Staat. Der 11. September – Hintergründe und Folgen: Kriege, Terror, Folter, Medien".


Ronald Thoden (Hg.): Terror und Staat. Der 11. September – Hintergründe und Folgen: Kriege, Terror, Folter, Medien.
Kai Homilius Verlag, Berlin 2004, 336 S., 18 Euro., ISBN 3-89706-882-6


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