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"Al-Qaida setzt sich selbst unter Zugzwang"

Auch kritische Geheimdienstexperten nehmen Videobotschaft ernst. Truppenabzug aus Afghanistan könnte Terrorgefahr bannen. Ein Gespräch mit Erich Schmidt-Eenboom *

Erich Schmidt-Eenboom ist Autor zahlreicher Bücher über Geheimdienste und ihre Verbindungen zu Politik, Wirtschaft und Medien sowie Vorsitzender des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. in Weilheim

Am Freitag ist ein Video an die Öffentlichkeit gelangt, in dem ein Sprecher des Terrornetzwerks Al-Qaida mit Anschlägen in Deutschland droht, falls es bei der Bundestagswahl keine Abfuhr für Parteien gibt, die den Kriegseinsatz in Afghanistan befürworten. Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, daß es authentisch ist. Wie beurteilen Sie es?

Ich halte dieses Video für sehr authentisch und keineswegs für einen Bluff. Es wäre aber weltfremd zu glauben, diese Botschaft richte sich in erster Linie an das deutsche Volk. Sie richtet sich offensichtlich in erster Linie an die radikalislamische Szene in der Bundesrepublik, der die Gewissensbisse genommen werden sollen, falls es Tote in der Zivilbevölkerung gibt. Andererseits soll diese Klientel zunächst stillhalten, um die Profis machen zu lassen.

Erschreckend ist, daß die Drohung nicht abstrakt bleibt, sondern sehr konkret eine bestimmte Art von Terror ankündigt, nämlich Anschläge von eingereisten Hit-and-run-Teams auf weiche Ziele, also auf Großveranstaltungen oder öffentliche Verkehrsmittel -- und das in einem genau definierten Zeitraum von zwei Wochen nach der Bundestagswahl am 27. September. Al-Qaida würde an Glaubwürdigkeit verlieren, sollte sich das als leere Drohung erweisen -- und hat sich damit selbst unter Zugzwang gesetzt, zumindest den Versuch zu unternehmen.

Der Islamist Bekkay Harrach spricht in seiner Videobotschaft den deutschen Sicherheitsdiensten die Fähigkeit ab, die Bevölkerung zu schützen. Halten Sie diese Einschätzung für realistisch?

Das ist leider wirklich so. Es ist illusorisch zu glauben, daß man die Vielzahl von weichen Zielen in Deutschland auch nur annähernd schützen könnte. Die Sicherheitsdienste können nur die ihnen bekannten Islamisten, die als Schläfer in der BRD leben, unter Kontrolle halten. Was in dem Video angekündigt wird, ist aber nicht die Aktivierung von Schläfern, sondern ein Durchsickern von Mudschaheddin. Um das zu verhindern, sind die Außengrenzen der Bundesrepublik Deutschland zu offen. Die Terroristen könnten über den Balkan oder über Italien, aber zum Beispiel auch über Frankreich einsickern. Die darf man sich nicht als ungebildete Typen in Pluderhosen vorstellen. Und Al-Qaida verfügt über professionelle Paßfälscher.

Die einzige Möglichkeit, einen Terroranschlag zu verhindern, wäre also ein schnellstmöglicher Abzug deutscher Truppen aus Afghanistan?

Das fordere ich unabhängig von dieser Videobotschaft seit über zwei Jahren. Die BRD hat ihre Truppen ohne jede Exitstrategie nach Afghanistan geschickt und hätte längst einsehen müssen, auf welchem Wege sie die tatsächliche Bedrohung von Deutschland abwenden kann. In diesem Video klingt immer noch die Auffassung durch, daß Deutschland nicht so belastet sei wie andere Kolonialstaaten. Diese in der arabischen Welt bisher weit verbreitete Sichtweise ändert sich gerade. Eines der Schlüsselereignisse war wohl auch der von Deutschen verantwortete Angriff auf die Tanklastwagen in Afghanistan, bei dem es mehrere zivile Opfer gab.

Wieviel Zustimmung ist denn für solche Drohungen von den Muslimen in Deutschland zu erwarten, die dann selber nicht mehr angstfrei mit der U-Bahn fahren können -- und zusätzlich noch unter antiislamischen Ressentiments leiden?

Die friedfertigen Muslime leiden natürlich darunter. Die Radikalen werden aber durch solche Reaktionen nur noch in ihrer Sicht der Dinge bestärkt.

Ist kalkulierbar, in welche Richtung so eine Videobotschaft das Wahlverhalten der Deutschen beeinflußt?

Der Al-Qaida-Sprecher und seine Gruppierung sind sich natürlich darüber im klaren, daß sie auf die Wahlbevölkerung nicht den geringsten Einfluß nehmen können. Die eigentliche Zielgruppe ist die radikalislamische Szene in der BRD. Aber ein Terroranschlag wird natürlich zu einer Verschärfung der Sicherheitsgesetze führen, auch wenn dadurch eine Wiederholung nicht zu verhindern wäre. Sie kennen ja die politischen Reflexe.

Interview: Claudia Wangerin

* Aus: junge Welt, 21. September 2009

Siehe auch:
Friedensratschlag: "Terrordrohungen passen ins Konzept der Kriegsbefürworter"
Eine Presseerklärung aus der Friedensbewegung zu den jüngsten Videobotschaften und dem Krieg in Afghanistan


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