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Nach den Terroranschlägen: "So dünn also ist die Glasur der Zivilisation"

Rache als Raison d´ętre - Tagebucheintragungen von Günter Gaus

Günter Gaus, in früheren Zeiten einmal ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR und heute Mitherausgeber der linken Wochenzeitung "Freitag", machte sich so seine Gedanken über die Folgen der Terroranschläge von New York und Washington. Sie sind lesenswert.

Aus meinem Tagebuch vom 15. September 2001:
Im österreichischen Ferienquartier sehen wir den amerikanischen Präsidenten im Fernsehen, als er »das Böse« aus der Welt zu schaffen ankündigt und verspricht. Wäre es doch allein der prahlerische Jargon eines Demagogen gewesen. Aber George W. Bush sprach spürbar als der allerchristlichste Staatenlenker, der an der Spitze einer herkömmlich frömmelnden Nation gottgefällig sein will. Der so gläubig wie routiniert vorgetragene Anspruch, das Böse, das die imperiale Macht selbstherrlich nicht als einen Feind, sondern als das Böse schlechthin ausgemacht hat, in der Welt zu tilgen - diese Anspruch ist hybrider noch als jeder Turmbau zu Babel. Religiöse Aufwallungen als Ausdruck politischen Selbstbewusstseins gibt es in den USA öfter; mit öffentlichen Gebeten sind die Politiker schnell bei der Hand. Aber diesmal triumphiert das Alte Testament vorbehaltlos über das Neue.

Man muss nicht gläubig sein, um tief zu erschrecken vor der Sinnentleerung, vor dem selbstgerechten Niedertreten der christlichen Botschaft in Christis Namen. Auch der Atheist, der bei Sinnen geblieben ist nach dem Fall der Türme in New York, muss sich ängstigen bei dem zu Tage tretenden Abfall von der christlichen Gesittung: So dünn also ist die Glasur der Zivilisation. Selbst in den weithin laizistischen Staaten des Westens, und die USA verstehen sich nicht als einen solchen, gilt die christliche Moral als ein wesentlicher Bestandteil des westlichen Wertekanons. Sie diente zur Begründung der sittlichen Überlegenheit über den gottlosen Sozialismus; auch aus ihr wurde die Behauptung einer höheren Freiheit des Westens abgeleitet.

Nicht, dass ich den herrschenden und tonangebenden Kräften in meiner Welt darin gefolgt wäre. Aber das Unverhüllte an Präsident Bushs Preisgabe wesentlicher Gebote und Glaubenssätze der abendländischen Zivilisation ans Barbarische raubt auch einem Skeptiker den Atem. Nicht wirklich überrascht zu sein, ist kein Trost, nun es ernst wird und die Zeit der europäischen Witzeleien über den Texas-Ranger im Weißen Haus vorüber ist. Selbst wenn es überwiegend Gerede bleiben sollte, was Bush so sagt - kennzeichnend ist, auf welchem Niveau gegebenenfalls der nationale Einklang der westlichen Führungsmacht, der Hüterin unserer höchsten Werte, hergestellt wird. Wir sind nicht besser: Aber wir sind schwächer. Das Böse werden Bush und seine ihn anscheinend treibenden Ratgeber nicht aus der Welt verbannen können, aber die Vernunft und ihre Maßstäbe haben sie vorerst in den Untergrund getrieben.

Der Terror ist nicht mit den Arabern in die Welt gekommen und auch nicht mit den Amerikanern, die ihn freilich auch schon ausgeübt haben: Mag sich über die Notwendigkeit, im August 1945 eine Atombombe auf Hiroshima zu werfen, diskutieren lassen, so war die zweite Atombombe, die auf Nagasaki, der blanke Terror. Im Blick auf den Nahen Osten wird man in Anlehnung an Clausewitz sagen können, dass der Krieg, zu dem Amerika sich jetzt rüstet - ohne schon zu wissen, wo es ihn führen soll -, die Fortsetzung der Nicht-Politik mit anderen Mitteln ist. Rache wird für lange Zeit die Raison d'ętre der einzig verbliebenen Weltmacht sein. Es ist zu verstehen; es ist das Nächstliegende; es ist am Ende das Selbstmörderische.

Und wie lieben wir Land und Leute in den USA, wo wir, rechnet man alle Aufenthalte in Jahrzehnten zusammen, weit über ein Jahr kreuz und quer gereist sind.

So, wie ich uns Deutsche kenne, werden wir hinter den USA nicht zurückstehen wollen. Wehe den Ausländern in Deutschland, die von südländischer Erscheinung sind oder gar eine hell- bis mittelbraune Hautfarbe haben - nicht nur, wenn sie, häufiger nun als bisher schon, unter die Stiefel deutscher Jünglinge geraten, sondern auch wenn sie der Polizei in die Hände fallen oder Behörden ausgeliefert sind. Die Annäherung der Berliner Republik an einen Polizeistaat wird alsbald in der Sprache der Politiker Züge des quasi Gottgewollten annehmen. Meine Zukunftsängste rühren aus Erinnerungen her.

Aus: Freitag, 39, 21. September 2001

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