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"Wir brauchen eine juristische Überprüfung aller Fälle"

Wikileaks gibt der Kampagne zur Schließung des US-Lagers in Guantánamo neuen Auftrieb. Ein Gespräch mit Hina Shamsi *


Hina Shamsi ist Direktorin des National Security Project bei der US-amerikanischen Bürgerrechtsvereinigung American Civil Liberties Union (ACLU).

Wie bedeutend sind Ihrer Ansicht nach die Guantánamo-Dokumente, die die Enthüllungsplattform Wikileaks vergangene Woche veröffentlicht hat?

Ich denke, daß die Veröffentlichung wertvolle Informationen für die Öffentlichkeit enthält. Die Dokumente belegen, daß die Regierung jahrelang Menschen aufgrund von falschen Informationen und aufgrund fragwürdiger Aussagen Dritter gefangengehalten, verhört und mißhandelt hat.

Man muß allerdings im Auge behalten, daß es sich um sehr einseitige Geheimdiensteinschätzungen handelt, die zahlreiche Fehler enthalten, da sie auf Erkenntnissen beruhen, die durch Folter gewonnen wurden, aus unzuverlässigen Quellen stammen oder sich als schlichtweg falsch erwiesen haben. Der beste Weg, mehr über die Hintergründe der Vorgehensweise der Regierung zu lernen, wäre es gewesen – und ist es weiterhin –, diese Informationen unter den Augen der Öffentlichkeit vor einem ordentlichen Gericht zu präsentieren.

Auch wenn die Papiere lediglich die Sichtweise der US-Exekutive darstellen, beschrieb die ­ACLU die mehr als 700 Dokumente als wichtiges Quellenmaterial. Warum?

Es ist bemerkenswert, wie weit die Regierung gegangen ist, um die langjährige Inhaftierung von Hunderten Menschen mit teilweise abstrusen Begründungen zu rechtfertigen. Das wirkliche Problem war und ist die völlige Abwesenheit der Herrschaft des Rechts in Guantánamo. Hätte die Regierung gleich zu Beginn internationales Recht beachtet, hätten von Anfang an effektive Verfahren nach der Genfer Konvention etabliert werden können, bei denen Unschuldige unterschieden worden wären von denen, die nach Kriegsrecht tatsächlich festgehalten werden durften. Da es solche geregelten Verfahren nicht gab, wartete die Regierung mit irgendwelchen Begründungen auf, um die dauernde Inhaftierung zu rechtfertigen.

Wir sehen jetzt, wie fraglich diese Rechtfertigungen sind. Exverteidigungsminister Donald Rumsfeld sagte damals, daß in Guantánamo die schlimmsten der Schlimmen inhaftiert seien. Jetzt stellt sich heraus, daß unter den Häftlingen beispielsweise ein 14jähriger Junge und ein 89jähriger Demenzkranker waren, die ausschließlich zu dem Zweck festgehalten wurden, um Erkenntnisse über ihr Umfeld zu sammeln.

Die Dokumente decken den Zeitraum von 2002 bis Januar 2009 ab. Wie hat sich die Situation in Guantánamo nach der Amtseinführung von Barack Obama geändert?

Seine Regierung hat erklärt, daß die Beurteilungen in den veröffentlichten Dokumenten nicht den aktuellen Einschätzungen von Häftlingen zugrunde gelegt werden. Wir wissen allerdings nicht, was die gegenwärtigen Kriterien für die andauernde Inhaftierung sind. Das ist sehr problematisch, da diese Verfahren im wesentlichen geheim bleiben und Entscheidungen kaum juristisch angegriffen werden können. Ebenso problematisch ist, daß auch Obamas Regierung das Recht beansprucht, selbst zu entscheiden, wer unbegrenzt weggesperrt werden kann.

Was fordert die ACLU von der US-Regierung nach Veröffentlichung der Dokumente?

Anstatt Prozesse vor Militärtribunalen zu führen oder Menschen ganz ohne Verfahren einzusperren, brauchen wir eine unabhängige und transparente juristische Überprüfung aller Fälle. Häftlinge, denen Straftaten vorgeworfen werden, sollten vor Bundesgerichten angeklagt werden und Unschuldige sollten umgehend freigelassen werden.

Glauben Sie, daß diese neue Veröffentlichung von Geheimdokumenten den Druck auf die Regierung Obamas zur Schließung des Gefangenenlagers erhöht?

Ich denke, daß die Dokumente unzweifelhaft deutlich machen, daß viele Menschen in Guantánamo aufgrund von falschen Informationen festgehalten wurden. Der US-Kongreß hat bislang alles dafür getan, eine Schließung des Gefangenenlagers zu verhindern. Die US-Regierung sollte nun alle ihr zur Verfügung stehenden Werkzeuge nutzen, um Guantánamo endlich zu schließen.

Interview: Philipp Schläger

* Aus: junge Welt, 2. Mai 2011


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