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Drei Jungs aus Leeds

Die Bomben von London: Die Attentäter kamen aus dem eigenen Land und doch aus einer anderen Welt

Von Pit Wuhrer*

Was bringt vier junge Männer aus relativ normalen Verhältnissen dazu, sich in die Luft zu sprengen und über 50 Landsleute mit in den Tod zu reissen? Diese Frage beschäftigt die britische Öffentlichkeit zwei Wochen nach den Anschlägen in London fast noch mehr als die Furcht vor weiteren Attentaten, auf die Sprengstofffunde in Leeds und anderen Orten hinweisen. Zum ersten Mal überhaupt haben am 7. Juli in Britannien geborene Selbstmordattentäter zugeschlagen - und das überraschte nicht nur die Sicherheitskräfte. Schließlich waren die Anschläge von New York und Washington und später in Madrid von Leuten verübt worden, die in die USA und nach Spanien gereist waren. Am 7. Juli jedoch bestiegen die vier Attentäter völlig unspektakulär einen Zug, der sie vom Heimatort in die Hauptstadt brachte.

Und genauso unspektakulär sind ihre Biografien und die Viertel, in denen die jungen Engländer aufwuchsen: Shahzad Tanweer zum Beispiel, vor 22 Jahren in Bradford geboren, "liebte Britannien", wie sein Onkel später sagte: Er war vernarrt in Cricket, hatte an der Leeds University das Fach Sportwissenschaft absolviert, half seinem aus Pakistan immigrierten Vater bei der Arbeit in dessen Fish-and-Chip-Shop, kurvte gern mit Vaters Mercedes durch die Gegend und war - wie Hasib Hussain, 18 Jahre alt, und Mohammad Sidique Khan, 30, seine Mittäter mit asiatischer Abstammung - in dem Arbeiterviertel von Leeds, in dem er und seine Familie lebten, nicht besonders aufgefallen (über den vierten Attentäter Lindsey Germaine ist bisher nur bekannt, dass er in Jamaica geboren wurde). Shahzad Tanweer "hatte Humor, war intelligent und beliebt", sagen seine Freunde. Besonders an ihm sei nur gewesen, dass er sich (wie auch Hussain) vor kurzem in Pakistan aufgehalten hatte und in letzter Zeit häufig die Moschee besuchte.

Aber das tun viele der rund zwei Millionen Muslime im Land. Die ältere Generation dieser Gemeinschaft war zumeist in den sechziger und siebziger Jahren ins Land gekommen, hatte in Fabriken gearbeitet oder kleine Eckläden aufgemacht (Tanweers Vater hatte vor dem Fish-and-Chip-Imbiss ein Curry-Take-away und einen Metzgerladen). Sie waren wie die meisten Asiaten fleißig, schickten ihre Kinder zur Schule und auf Universitäten und versuchten, sich zu integrieren - was angesichts des Rassismus in der britischen Gesellschaft allerdings nicht ganz einfach war. Einigen gelangen beachtliche Karrieren, die asiatisch-stämmige Mittel- und Oberschicht häufte einige Reichtümer an (zum Teil auch durch die Ausbeutung der Mitglieder ihrer Community in Sweatshops). So gesehen unterschieden sich die Gemeinschaften aus den ehemaligen Kolonialgebieten Pakistan, Indien und Bangladesch kaum von den anderen Migrationscommunities - bis vor ein paar Jahren jedenfalls.

Doch dann kamen die Anschläge vom 11. September 2001 und die Attacken auf Muslime in Britannien, der von Tony Blair mitgetragene Angriff auf Afghanistan, die britische Beteiligung am Krieg gegen den Irak - all dies und der ewige Nahostkonflikt stürzte viele britische Muslime in eine Identitätskrise. Der "Krieg gegen den Terror" habe die Islamophobie im Land anwachsen lassen, viele Muslime entfremdet und das Land gespalten, sagte im Oktober 2004 Ken Macdonald, Chef der britischen Strafverfolgungsbehörden, in einem Interview mit der britischen Tageszeitung Independent. Denn dieser Krieg wurde auch in Britannien geführt: In den letzten beiden Jahren haben die tätlichen Angriffe auf Muslime um fünfzig Prozent zugenommen; die Zahl der Festnahmen junger Muslime ist im vergangenen Jahr sogar um 300 Prozent gestiegen. Und so fragten sich viele Muslime, ob sie hier überhaupt willkommen seien - und als was sie sich zu verstehen hätten: als muslimische Briten oder eher zufällig britische Muslime? Manche Organisationen wie beispielsweise die Muslim Association of Britain (MAB) entschieden sich, gegen Blairs Politik zu kämpfen, andere jedoch emigrierten in eine eigene Welt: Nicht einmal die Eltern der Attentäter ahnten etwas von der Einstellung ihrer Söhne.

"Der 11. September war der Wendepunkt", sagte MAB-Sprecher Anas Altikriti auf dem Europäischen Sozialforum (ESF) in London, das die MAB mitorganisiert hatte. "Unsere Organisationen werden überwacht, wir werden kontrolliert und müssen uns die ganze Zeit für etwas rechtfertigen, das wir verurteilen." Viele würden jetzt den Kopf einziehen, sagte er. Die MAB - sie versteht sich als muslimische Organisation, aber auch als Teil der aufgeklärten Welt - hat alle großen Proteste gegen die Irakkriegspolitik mitgetragen, die Riesendemonstrationen in London, die Mahnwachen, die unzähligen Veranstaltungen. "Viele glauben, der nächste Terroranschlag sei unvermeidlich", sagte Altikriti, Dozent an der Universität von Leeds, beim Sozialforum im Oktober. "Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt, denn dann ist unsere Identität noch mehr in Gefahr." Dass die Attentäter aus Britannien selber kommen könnten, also das für die Muslime schlimmstmögliche Szenario eintreten würde, konnte Altikriti damals nicht ahnen. Die MAB hat nun wie alle anderen muslimischen Verbände, Vereinigungen und Gruppierungen im Land die Anschläge verurteilt und ihre Mitglieder aufgerufen, der Polizei bei den Ermittlungen zu helfen.

Allerdings steht für sie fest, was die meisten Politiker weiterhin beharrlich leugnen: Dass die Anschläge mit dem Irakkrieg zu tun haben. Zu diesem Ergebnis kam im Übrigen auch ein geheimer Bericht, den eine Arbeitsgruppe des Innen- und Außenministeriums verfasst hatte und den die Sunday Times drei Tage nach den Bomben auszugsweise veröffentlichte. Der Irakkrieg habe viele radikalisiert und vor allem junge Muslime entfremdet, heißt es in dem Bericht mit dem Titel Young Muslims and Extremism.

Die Behörden waren also gewarnt. Und es hat auch nicht an Überwachung gefehlt. Geholfen hat diese jedoch nicht viel - genausowenig wie die zwei Millionen Videokameras, die im ganzen Land unablässig das öffentliche Leben aufzeichnen und die nicht einmal bei der Identifizierung der Täter von großem Nutzen waren: Auf sie kam die Polizei durch den Anruf besorgter Eltern und an den Tatorten gefundene Gegenstände.

Durch die Anschläge haben alle verloren: Die britische Gesellschaft, der nun noch mehr Antiterrorgesetze aufgezwungen werden (die Regierung hat bereits erste Maßnahmen angekündigt), und die muslimische Minderheit, der jetzt noch mehr Hass entgegenschlägt (innerhalb der ersten fünf Tage kam es zu 300 rassistisch motivierten Übergriffen, in Nottingham kam ein Mann dabei um). Nur einer sitzt so fest im Sattel wie schon seit Jahren nicht. Tony Blair, der vor kurzem noch angeschlagen schien, ist nach dem G8-Gipfel, dem Olympia-Entscheid für London und den Bomben der Mann der Stunde. Blair sei heute der "führende Staatsmann in der Welt", schrieb nach den Anschlägen ein Kolumnist der ansonsten eher Blair-kritischen Tageszeitung Guardian. Der Premierminister hat auch gleich verlauten lassen, dass er an seiner Politik nichts ändern werde - also auch nicht an seiner Kriegspolitik.

* Aus: Freitag 29, 22. Juli 2005


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