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UN-Terrorliste rechtswidrig

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt die Schweiz

Von Frank Brendle *

Das Städtchen Campione d’Italia am Luganer See ist ein Wohnort der Luxusklasse. Für Youssef Mustafa Nada erwies es sich als Falle: Der italienisch-ägyptische Geschäftsmann kam sechs Jahre lang nicht aus dem Ort heraus, weil er auf der UN-Terrorliste stand. Campione d’Italia ist eine italienische Enklave, die rundherum von Schweizer Hoheitsgebiet umschlossen ist. Und die Schweiz ließ Nada weder ein- noch durchreisen, auch nachdem seine Unschuld längst erwiesen war. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof verurteilte deswegen am Mittwoch dieser Woche die Schweiz wegen mehrerer Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Nada gilt als Sympathisant der ägyptischen Muslim-Brüder, zu Gewalt hat er aber nie aufgerufen. Dennoch setzte ihn der UN-Sicherheitsrat im November 2001 auf Betreiben der USA auf eine Liste von Personen und Unternehmen, die angeblich mit den Taliban kooperieren. Fast zeitgleich begannen die Staatsanwaltschaften Italiens und der Schweiz mit Ermittlungen gegen ihn. Die Schweizer Regierung, wie auch andere in Europa, übernimmt die UN-Listen unverändert und setzt sie mit einer sogenannten Taliban-Verordnung um. Konkrete Folgen: Reiseverbot und wirtschaftliche Sanktionen. Im November 2003 teilte die Schweizer Einwanderungsbehörde Nada mit, daß ihm nicht länger gestattet sei, die Grenze zu überqueren.

Nada war daraufhin in der nur knapp einen Quadratkilometer großen Enklave eingeschlossen. Sämtliche Anträge auf Sondergenehmigungen, um sich mit seinen Anwälten zu treffen oder in medizinische Behandlung zu begeben, wurden von der Schweiz abgelehnt.

Im Mai 2005 stellte die Schweizer Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Nada als »unbegründet« ein. Auf der »Taliban-Liste« blieb er trotzdem: Die Schweiz sei verpflichtet, sich strikt an das Dokument des UN-Sanktionsausschusses zu halten, argumentierten sowohl die Regierung in Bern als auch das oberste Bundesgericht. 2008 stellte die italienische Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ebenfalls ein, aber erst 2009 nahm die UN Nada von der Liste.

Die Große Kammer des Menschenrechtsgerichtshofes warf den Schweizer Behörden nun vor, Nadas Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie den Anspruch auf Zugang zu einer effektiven Beschwerdemöglichkeit verletzt zu haben. Die Strasbourger Richter zeigten sich darüber erstaunt, daß die Schweiz den Sanktionsausschuß erst im September 2009 über den – Nada entlastenden – Ausgang des Ermittlungsverfahrens informiert hatte. Eine frühere Benachrichtigung hätte wahrscheinlich auch zu einer früheren Streichung von der Liste geführt.

Die Schweiz könne sich nicht einfach auf den verbindlichen Charakter der UN-Resolutionen berufen, sondern hätte die »spezielle geographische Situation« seines Wohnortes berücksichtigen müssen. Zudem, so die Richter, habe der Fall angesichts des Alters und Gesundheitszustandes des heute 81jährigen Nadas auch eine medizinische Seite. Die Schweiz habe es versäumt, das Sanktionsregime »weniger scharf umzusetzen«. Nada wurden 30000 Euro Entschädigung zugesprochen.

Das Schweizer Bundesamt für Justiz ließ per Presseerklärung wissen, es habe das »Urteil mit Interesse zur Kenntnis genommen« und wolle prüfen, wie künftig eine menschenrechtskonforme Anwendung der Terrorliste zu gewährleisten sei.

Das Urteil betrifft indirekt sämtliche Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, die die UN-Listen ähnlich wie die Schweiz handhaben. Aus der deutschen Politik gab es aber zunächst keine Reaktionen. Lediglich die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, forderte die Löschung der Liste. Wer sich im Kampf gegen Terror rechtswidriger Methoden bediene, mache sich unglaubwürdig.

* Aus: junge Welt, Freitag, 14. September 2012


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