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Das Ende der Egomanie

Was wir aus dem 11. September lernen können

Von Horst-Eberhard Richter

Vortrag am 12. Sept. 2002 im Friedensbüro Salzburg

Nach dem 11. September hieß es, die Welt sei nicht mehr die gleiche wie vorher. Besser hätte es heißen sollen, wir müssen ein falsches Bild korrigieren, das wir uns von der Welt gemacht haben. Bisher stand für viele fest, dass ein Weg zu immer mehr Freiheit und Unabhängigkeit führe, nämlich die Erlangung überlegener Stärke. Nun aber wird ausgerechnet das Volk, das eine unvergleichliche wirtschaftlich, wissenschaftliche, technische und vor allem militärische Übermacht errungen hat, von einigen wenigen fast unbewaffneten Angreifern ins Herz getroffen. Man hätte eine symbolische Bedeutung darin erkennen können, dass die Anschläge in Manhattan ausgerechnet das Wahrzeichen ökonomischer Macht und in Washington das Pentagon als militärisches Führungszentrum der USA zerstört bzw. demoliert haben.

Vor aller Augen wurde demonstriert, was in kleinerem Maßstab seit Jahren in Nahost zu besichtigen ist: nämlich die Hilflosigkeit noch so gewaltiger militärischer Übermacht gegenüber einer scheinbar wehrlosen Schwäche, aus der aber eine unzerstörbare Gegengewalt durch selbstmörderische Täter wachsen kann. Eine verkannte gegenseitige Abhängigkeit macht es dem bis an die Zähne bewaffneten Israel unmöglich, sich trotz intensivsten Militäreinsatzes der palästinensischen Attentäter zu erwehren, die sich als lebende Bomben opfern.

Was sollte die Lehre aus dieser Erfahrung sein? Das hat der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber knapp und treffend nach dem 11. September in einem Brief an Präsident Bush formuliert: "Der Terrorismus ist nur die verzerrte negative Form der wechselseitigen Abhängigkeit, die wir in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen bereit sind."

Anders ausgedrückt: Wir alle sind, ob Individuen, Glaubensgemeinschaften, Ethnien oder Nationen, aneinander gebunden. Wir müssen diese Gegenseitigkeit, diese Vernetzung untereinander erkennen, um uns in gemeinsamer Verantwortung kulturell entwickeln zu können. Das ist die eigentliche Ordnung unseres Lebens, die uns vorgegeben ist. Das war vor dem 11. September so und ist danach nicht anders. Aber dieses Verständnis von unserer Befindlichkeit in der Welt ist einem Großteil der Menschen im Westen und speziell auch in den Vereinigten Staaten fremd geworden.

Das hat eine lange Vorgeschichte. Eigentlich ist es eine Krankengeschichte, die verfolgen lässt, wie das Bewusstsein von einer unlösbaren Verbundenheit aller untereinander verloren gegangen oder - genauer - aufgegeben worden ist. Hier müssen einige stichwortartige Hinweise genügen. Ausführlich habe ich mich dazu in meinem Buch "Der Gotteskomplex" geäußert.

Es gab einmal die Gewissheit vom Zusammenhang allen Lebens in einer Ordnung, die als von Gott gestiftet anerkannt war. Vor rund 900 Jahren, als die mittelalterliche Welt durch die blutigen Kreuzzüge zerrissen war, kamen arabische, jüdische und christliche Denker darauf, eine gemeinsame Vernunftreligion zu lehren, deren Kern die aristotelische Ethik bildete. Vereinfachend hieß es: Wir haben doch alle in uns eine gemeinsame Wertewelt. Der Dominikaner Albertus Magnus sprach von einem natürlichen Licht. Übrigens war es der islamische Araber Averroes, der diesen geistigen Weg durch seine Aristoteles-Forschung bahnte. Er wurde zu einem großen Anreger für den jüdischen Philosophen Maimonides und die christlichen Denker Albertus und Thomas von Aquin. Der Kern der Lehre lautete: Wir haben zwar in unseren drei monotheistischen Religionen jeweils einen speziellen Teil als Offenbarung. Aber diese Unterscheidung rührt nicht an das übereinstimmende ethische Fundament, das allen Menschen gleichsam als Naturanlage gemein ist.

In der westlichen Renaissance kam es aber dann zu dem großen Aufbegehren des Individualismus gegen kirchliche Bevormundung. Zum großen Wegweiser neben Francis Bacon wurde René Descartes, der fragte: Warum sollte ich nicht selbst durch fortschreitende Erkenntnis so vollkommen wie Gott werden können? Erst zaghaft, dann immer rasanter ist es genau auf diesem Weg vorangegangen. Der Mensch hat sich, wie Freud 1930 schrieb, immer mehr von den zuvor Gott zugeteilten Attributen Allwissenheit und Allmacht angeeignet und sich zu einer Art von Prothesengott erhoben. Freud sprach von Prothesengott in der Einzahl - als Nachbildung des monotheistischen Vorbildes. Der egoistische männliche Machtwille wurde zum neuen gesellschaftlichen Gestaltungsprinzip und führte am Ende logischerweise zu den modernen Formen des hemmungslosen Rivalisierens. Der naturwissenschaftliche Wissensdrang geriet zunehmend unter die Herrschaft eines grenzenlosen Eroberungstriebes. So ist schließlich eine Version von Fortschritt entstanden, die als Ziel nichts anderes mehr erkennen lässt als den Erfolg, den anderen im Machtkampf voraus zu sein, sei es in der Verfügung über die Machtmittel Geld, Gene, künstliche Intelligenz oder Massenvernichtungswaffen. Jedenfalls ist das Ziel gerade nicht die Förderung einer auf Gerechtigkeit beruhenden Gegenseitigkeit, sondern die Stärkung des Vorsprungs vor den anderen und die grenzenlose Beherrschung der Naturkräfte.

Die Besessenheit von einem Machtwillen, der immer nur über andere und über die Naturgewalten siegen will, hat tatsächlich etwas von der psychiatrischen Krankheit der Manie an sich. Es ist eine Form von Irrsinn, wenn der zerbrechliche, sterbliche Mensch - genauer gesagt der Mann - in seinem Streben nach Selbstvergöttlichung das Leiden aus seinem Leben verbannen will. Die einen können zwar die anderen unterdrücken, aber sie bleiben wegen der gegenseitigen unlösbaren Vernetzung von ihnen abhängig. Würden sich die Israelis im Leiden der Palästinenser und diese sich in dem den Israelis bereiteten Leiden wiedererkennen, das heißt ihrer beider Verwandtschaft in der gemeinsamen Not, könnten sie unschwer eine Verständigung und ein friedliches Zusammenleben auf ihrem kleinen Fleck Erde möglich machen. Das wäre zugleich das Modell, nach dem auch der Westen mit seiner Führungsmacht den Nährboden in den islamischen Regionen austrocknen könnte, aus denen der terroristische Hass immer neu nachwächst. Aber die Voraussetzung wäre überhaupt erst einmal, die Erniedrigung, die Entwürdigung und die Kränkung religiöser Gefühle auf der anderen Seite ernst zu nehmen - und die Herrenmoral Nietzsches zu überwinden, die länger als ein Jahrhundert die Verachtung der Schwachen und die Bekämpfung des Mitleids lehrt, das angeblich die Verlierer und die Zurückgebliebenen aus Ressentiment zur Verunsicherung der höheren Menschen erfunden haben.

In Wahrheit wächst uns gerade aus dem Mitfühlen eine Kraft zu, unsere Verantwortung für die anderen zu erkennen und zu beherzigen. Man denke an die Überschwemmungskatastrophen, die gerade Hunderttausende in Mittel- und Osteuropa um ihre Wohnungen und um ihr Hab und Gut gebracht haben. Da plötzlich standen die Menschen in großen Scharen füreinander ein. Wer irgend konnte, half mit zu retten, Wälle aus Sandsäcken zu bauen, obdachlos Gewordene zu beherbergen, Nahrungsmittel zu verteilen, usw. Man lebte nicht länger aneinander vorbei, sondern erkannte, wie sehr man aufeinander angewiesen ist in der Gegenseitigkeit von Not und Helfen.

Und dann kamen auch Gedanken auf: Ist dies nicht eine Lehre für uns, die Egomanie unseres Bemächtigungswillens im Rivalisieren gegeneinander und in der Naturbeherrschung zu revidieren? Warum brauchen wir erst Naturkatastrophen, um zu entdecken, welche gemeinschaftsstiftende Kräfte in uns angelegt sind und wie gefährlich unser Größenwahn ist zu glauben, dass die Natur uns gehöre und wir nicht vielmehr ihr gehören? Es ist der gemeinsame egomanische Wahn, der die Einsicht darüber verwehrt, dass die Fülle neuer Naturkatastrophen nicht unverschuldet über uns hereinbricht, dass vielmehr die menschengemachte Klimaveränderung eine unleugbare Rolle spielt.

Dabei fällt der Blick dann wieder auf die einzige verbliebene Supermacht, die sich - ähnlich wie bei einer Reihe anderer internationaler Verpflichtungen - einer unerlässlichen Klimaschutz-Konvention entzieht. Die Führungsnation des Westens, die ihre Prinzipien und ihren Way of Life zum allgemeinen Wohl weltweit verbreiten will, macht sich zum Negativbeispiel für die Verleugnung unserer gegenseitigen Abhängigkeiten und unserer gemeinsamen Umweltverantwortung.

Man kann diese Egomanie auch als die Krankheit, nicht leiden zu wollen, bezeichnen. Wenn man nicht leiden will, muss man hassen. Der 11. September brachte Unglück über viele Tausende. Eine Welle des Mitfühlens erfasste weltweit Millionen. Für einen Moment lebte das Gefühl einer großen internationalen Zusammengehörigkeit auf. Die Leute strömten wieder in die Kirchen. Es gab eine Gemeinsamkeit im Trauern und Mittrauern. Die Flut der Hilfsangebote an die Amerikaner floss wesentlich aus echter Anteilnahme und nicht etwa aus der Erwartung, sogleich für ein unabsehbares kriegerisches Abenteuer in Dienst genommen zu werden.

Ich erinnere mich noch genau an eine kleine Kontroverse mit dem von mir verehrten Egon Bahr, der voll von der Überzeugung durchdrungen war, die schockierten Amerikaner würden nun endlich ihr Angewiesensein auf eine echte Partnerschaft mit den Europäern begreifen und sich vom Kurs der Eigenmächtigkeit abkehren. Aber die herbeigeeilten europäischen Helfer fanden keinen leidgeprüften Patienten, sondern einen trotzigen Kriegsherrn vor, der sie nur für die Verstärkung seines militärischen Potentials zum Kampf gegen das Böse beanspruchte. Wenige tausend Al Qaida-Verschworene wurden für den Präsidenten zum Anlass, eine gewaltige Kriegsmaschine anzuwerfen und den an sich schon gigantischen Militärhaushalt um 120 Milliarden Dollar auf 451 Milliarden aufzustocken. Er rief zu einem gleich mehrjährigen Feldzug auf, also zu einem Unternehmen, das weit über das Ziel der von der UNO gebilligten Selbstverteidigung hinausgehen würde.

Der zuvor im eigenen Land noch mit viel Skepsis eingeschätzte Präsident erntete, wie einst sein Vater bei dessen Golfkrieg, auf der Stelle begeisterte patriotische Zustimmung. Plötzlich war er, so wie er sich auch selbst sah, der zur Ausrottung des Bösen himmlisch Berufene. Keinesfalls durfte der 11. September als Mahnzeichen für die eigene Verletzbarkeit gedeutet, vielmehr sollte diese durch Ausrottung des Terrorismus und einen weltweiten Überwachungsapparat endgültig eliminiert werden. Schon das Übermaß des kriegerischen Aufwandes und das Pathos einer militanten Heilsrhetorik machten aber das Mitschwingen einer tiefen Verunsicherung deutlich. Es ging um mehr als um Vergeltung, vielmehr zugleich um überkompensatorische Abwehr unterdrückter Ohnmachtsängste. Denn natürlich drängte sich die Ahnung auf, dass die stärksten Waffen, selbst ein perfektes Raketenabwehrsystem nebst einem an die bürgerlichen Freiheitsrechte rührenden Polizeiapparat nicht ausreichen würden, das Glaubensziel perfekter Unverwundbarkeit zu erreichen. Die egomanische Verblendung sorgt aber dafür, das Unmögliche mit aller Gewalt dennoch erzwingen zu wollen.

Wie anders wäre zu verstehen, dass Präsident Bush - bisher wenigstens - präzise der illusionären Strategie Sharons folgt, der starrsinnig darauf beharrt, das Leiden seines Volkes, verursacht durch die Selbstmordanschläge der Palästinenser, mit Panzern und Raketen beenden zu wollen. Lernfähigkeit setzt prinzipiell Bereitschaft zu Selbstkritik voraus. Diese aber kommt dem abhanden, der sich als auserwählter Vollstrecker göttlichen Willens oder gar als selbstvergöttlichte Heilsfigur erlebt.

Als der amerikanische General Thomas Farrel die atomare Bombardierung Hiroshimas beobachtete, erschien ihm das als Signal des Jüngsten Gerichtes, verhängt über die schrecklichen Japaner, die in den Medien systematisch als Tiere, als Ratten oder Affen dehumanisiert worden waren. Bis heute hat kein amerikanischer Präsident je Hiroshima öffentlich bedauert oder gar ein Wort der Entschuldigung über die Lippen gebracht. Die Selbstgerechtigkeit verbietet es, in der vermeintlich ruhmvollen Tat das Verbrechen gegen das Völkerrecht und die Menschlichkeit zu erkennen. Ebenso mussten die Untaten in Vietnam bald verdrängt werden, obwohl z.B. allein das dort versprühte dioxinhaltige Kampfgift unermessliche Zerstörungen angerichtet hat. Experten haben ausgerechnet, dass die angewandte Menge Dioxin, wäre sie gleichmäßig über die Menschheit verteilt worden, ausgereicht hätte, alles menschliche Leben gleich mehrfach auszulöschen. Eingeredet hat man uns aber, das Gift habe nur zur Entlaubung der Wälder gedient, um den Feind besser ausspähen zu können. Wehe, wer heute noch den Vietnamkämpfern Böses nachsagt und zu Chemiewaffen nicht nur Saddam Hussein assoziiert.

Während wir uns einbilden, dass unser Zivilisationsprozess tatsächlich ein Prozess sei, also ein Fortschreiten zu höherer Zivilisiertheit, verkennen wir, dass die Erfindung und Modernisierung der Massenvernichtungswaffen mit einer parallelen psychologischen Entmenschlichung der potentiellen Opfer einhergeht. Man kann mit diesen Waffen nur drohen oder sie sogar anwenden, wenn man von der Welt der Guten, mit denen man sich selbst identifiziert, die Bösen abspaltet, deren Ausrottung man vertretbar erscheinen lässt. Ausrottende Waffen und Ausrottungsmentalität gehören zusammen.

Dass die Beendigung des Kalten Krieges nicht zur gemeinsamen Verschrottung der Nuklearwaffen geführt hat, was Gorbatschow hundertmal gefordert hatte, beweist, dass die Ausrottungsmentalität nicht überwunden worden ist. Wenn die neue Nuklearstrategie des Pentagon nun dazu übergegangen ist, sogar nuklearwaffenfreie Länder entgegen einer feierlich versprochenen Schutzgarantie atomar zu bedrohen, so ist dies nur ein neuer Beweis dafür, dass gerade dort, wo die Zivilisation ihre großartigsten Fortschritte feiern zu können glaubt, in Wahrheit eine Entzivilisierung beängstigenden Ausmaßes stattfindet.

Dass sich dagegen Entrüstung und Protest melden, ist geboten. Aber was bisher in unseren europäischen Ländern zu kurz kommt, ist die Entfaltung massiver Gegenkräfte. Unzweifelhaft hängt das mit der Mentalität zusammen, die kurz erörtert wurde. Stützt sich der Fortschrittsglaube zuallererst auf den Bemächtigungswillen, so werden automatisch dort die Maßstäbe gesetzt, wo der größte Machtvorsprung erobert worden ist. In diesem Sinne ist es nur konsequent, wenn die amerikanische Supermacht sich von den Bindungen frei machen zu können glaubt, die ihre Freizügigkeit einschränken, etwa im Klimaschutz, in der Frage eines Internationalen Strafgerichtshofes und der Kontrolle von Biowaffen. Genau so konsequent ist es nach diesem Prinzip, wenn die USA die UNO nach Belieben nur dann mitfinanzieren und respektieren, wenn es ihnen gerade passt. Dieses Verhalten liegt präzise auf der Linie des egomanischen Freiheitsziels. Und da dieses Streben, wie uneingestanden auch immer, sich der westlichen Prothesengott-Gesellschaft insgesamt tief eingeprägt hat, erklärt sich daraus die Kläglichkeit des Widerstandes gegen die amerikanischen Eigenmächtigkeiten.

Wenn sich neuerdings, auch in den USA selbst Widerstand gegen den vorgesehenen neuen Irak-Krieg meldet, so spielen Nutzen-Abwägungen eine Hauptrolle und die Schwierigkeit, ein Bedrohungsszenario plausibel zu machen, das sogar die Geheimdienste dem irakischen Feind nicht hinreichend nachweisen können. Aber was fehlt, ist eine aktive Opposition gegen ein egomanisches Denken, das der Werteordnung krass widerspricht, die zu schützen der Westen permanent versichert. Es gibt diese Opposition, aber es mangelte ihr bisher an Mut und auch am Willen, sich zu entschlossenem Widerstand zu formieren.

Der kranke Papst Woytila gibt ein Beispiel für eine entschlossene Standfestigkeit. Er hat im Jahr 2000 an der jüdischen Klagemauer in Israel gebetet. In 2001 hat er als erstes katholisches Kirchenoberhaupt die Omaijaden-Moschee in Damaskus besucht. Unermüdlich hat er sich für die Aufhebung der Wirtschaftsblockaden gegen Kuba und den Irak eingesetzt und er hat vor einem Krieg gegen die Länder gewarnt, aus denen die Terroristen kommen. Millionen junger Menschen jubeln ihm in allen von ihm besuchten Ländern zu. Aber sein eigener Klerus tut alles, um seine aufrüttelnden Initiativen als liebenswürdige Gesinnungsethik abseits der politischen Realitäten erscheinen zu lassen. Nur die amerikanischen Pax-Christi Bischöfe haben die Courage, die neue amerikanische Nuklearstrategie klipp und klar zu verurteilen.

Wenn sich die Kirchen zu keinem gemeinsamen Widerstand gegen die neuen nuklearen Bedrohungen aufraffen, heißt das, dass sie vor der neuen Ausrottungsmentalität kapitulieren, die in der Produktion und Hortung der atomaren und der anderen Massenvernichtungswaffen verborgen ist. Ihre Privilegien im Schutze der Macht sind ihnen offenbar wichtiger als die Chance, durch Glaubwürdigkeit Scharen von sensibilisierten Jugendlichen zurückzugewinnen.

Also müssen sie mitansehen, wie sich anderswo immer mehr wachsam gewordene Gruppen bilden, um dem Kult der Egomanie entgegenzutreten. Diese halten es einfach nicht länger aus, tatenlos mitanzusehen, wie eine Machtelite sich im Sinne der Herrenmoral Nietzsches über die Massen der Abgehängten und über die Natur erhebt, dabei auch noch ein höheres Wertebewusstsein zu verteidigen vorgibt.

In der neuen globalisierungskritischen Bewegung formiert sich nun ein Widerstand angesichts der drohenden und auch manifesten Katastrophen, die den Widersinn der herrschenden Mentalität erschreckend entlarven. Eine Katastrophe ist die Selbstfesselung des Westens durch einen absurden Kriegszug, der nicht bei der Verteidigung gegen terroristische Herausforderungen innehalten kann, sondern alle Anstalten macht, eine ganze Weltregion im Mittleren Orient in Chaos und Elend zu stürzen. Eine andere Katastrophe ist die menschengemachte Gegengewalt der Natur gegen egomanische Rücksichtslosigkeit. Die Verwüstungen im afrikanischen Süden, Überschwemmungskatastrophen in Asien und Mittel- sowie Osteuropa sind offenbar erst Vorboten noch schlimmerer Folgen menschlicher Naturmisshandlung.

In der globalisierungskritischen Bewegung sammeln sich bezeichnenderweise Initiativen, die sich den diversen egomanischen gesellschaftlichen Strukturen widersetzen - in der Ökonomie, in der Ökologie, in der Frauen-Unterdrückung, in der Ausschaltung von Gewerkschaftsrechten, in der Biogenetik und insbesondere in der Militarisierung der Politik. Man erkennt, dass alle diese Bereiche zusammengehören. Dass alle mit der Ausuferung eines Bemächtigungswillens zu tun haben, der ein gerechtes Zusammenleben in Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung verhindert, der die Verantwortung gegenüber der Zukunft missachtet und insgesamt eine Haltung unterdrückt, die Albert Schweitzer Ehrfurcht vor dem Leben genannt hat.

In dieser Bewegung, die sich in zahlreichen Ländern unter dem Namen attac organisiert, findet man auch Motive ähnlich derjenigen der 68er Rebellion. Aber es ist weniger die Eruption antiautoritärer Aggression, auch wenn einzelne Gruppierungen in Göteborg und Genua randalierend gewütet haben. Attac als Kern der Bewegung, benimmt sich nicht nur friedlich, sondern verfolgt sehr besonnen, wenn auch mit nachdrücklicher Entschlossenheit, praktische Reformziele im Welthandel, in der Steuer- und Entwicklungspolitik, in der Ökologie. Kompromisslos wird eine klare Friedenspolitik gefordert, im Sinne der These von Willy Brandt: "Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts." Leitend ist die Grunderkenntnis, die schon genannt wurde: Die Lebensordnung, die uns vorgegeben ist, beruht auf Gegenseitigkeit. Und wenn diese nicht in einer Weise der Gerechtigkeit und der Achtung voreinander und vor der uns erhaltenden Natur bewahrt wird, drohen Chaos, Gewalt, Zerstörung und Selbstzerstörung.

Deshalb ist der Kampf von attac, wie ich ihn verstehe, vorrangig ein Kampf dafür und nicht dagegen. Er baut auf das Vertrauen, dass in uns allen Kräfte bereitliegen, mehr Solidarität herzustellen - nicht die Solidarität des Mitschiessens mit den einen gegen die anderen, wozu der Begriff nach dem 11. September missbraucht wurde, sondern Solidarität im Sinne des wechselseitigen Beistandes wie bei den abgelaufenen Überschwemmungskatastrophen. Das Mitwirken bei solcher Solidarität des Pro und nicht des spalterischen gemeinsamen Anti stiftet Genugtuung und garantiert mehr Durchhaltefähigkeit als purer Antiautoritarismus, der auf die Dauer stets die Gefahr enthält, dass man verinnerlicht, wogegen man anrennt. Die dominierende Orientierung am Pro schließt das Kämpferische nicht aus. Man denke nur an bedeutende kämpferische Humanisten wie Willy Brandt, Nelson Mandela, Vaclav Havel wie an Rosa Luxemburg, Claudia Immerwahr oder an Petra Kelly.

Noch zaudern viele mit ihrem Engagement, weil sie in ihren durchorganisierten Gesellschaften an der Chance zweifeln, von unten aus Gehör zu finden, geschweige denn etwas bewirken zu können. Aber wenn sie schon daran glauben, dass jeder gleich mitverantwortlich für das Ganze ist, dann sollten sie dafür sorgen, dass man sie mitzählt, nicht nur bei Meinungsumfragen und Wahlen, sondern auch in noch so unbedeutend scheinenden kritischen Initiativen. So wie es aussieht, vollzieht sich zur Zeit ein Zusammenwachsen vieler solcher Gruppen, zumindest eine bessere Koordination untereinander. Man muss darauf vorbereitet sein, dass es auch innerhalb der diversen Initiativen ähnliche persönliche Konflikte mit Neid, Argwohn, Narzissmus und Ressentiments wie überall sonst gibt. Andererseits kann man hier in kleinem Rahmen lernen, alle diese Schwächen zugunsten gemeinsamer Verantwortung so zu kontrollieren, dass man merkt, dass man im Kleinen dazu fähig ist, was man im Großen verbessern will. Und das ist schon ein ganz wichtiger Schritt, auch ein Mittel, sich psychisch freier und stärker zu fühlen als durch alle heute noch so beliebten Trainingsmethoden. Sie merken schon, dass ich dabei bin, für mehr kritisches Engagement zu werben. Das tue ich, weil ich es für nützlich halte, aber natürlich auch in der ganz persönlichen Hoffnung, eine neue Generation mit neuen Ideen und neuem Elan etwas fortsetzen zu sehen, wozu die eigenen Kräfte nicht mehr lange reichen werden.

Der Vortrag von Horst-Eberhard Richter erscheint in einer gekürzten Fassung am 13. September in der Wochenzeitung "Freitag".


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