Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Qui bono - ohne Logik

Mumbai ist keine Einzelfall - Der Dschihad in Asien

Qui bono - ohne Logik Mumbai ist keine Einzelfall - Der Dschihad in Asien Von Arne C. Seifert *

In Guantanamo saßen sie bereits hinter Stacheldraht, jene zwei Dutzend muslimischen Uiguren der »Eastern Turkestan Islamic Movement«. Dann setzte das Pentagon sie wieder auf freien Fuß. Obgleich in Afghanistan als Mitstreiter von Al Quaida gefasst, entschieden ein Tribunal Ende 2004, dass »die Männer keine feindlichen Kämpfer seien und daher freigelassen werden könnten«. Wie konnte es dazu kommen?

Mit ihrem Verlangen nach nationaler Unabhängigkeit für das muslimische autonome Gebiet Xinjiang in China hatten jene Uiguren nach US-Logik ja im Grunde genommen »gegen Peking« gekämpft, den Erzrivalen in Asien. Nach der gleichen »Qui bono«-Logik verteidigte der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski die Unterstützung der Taliban durch die USA, als diese noch die sowjetischen Truppen in Afghanistan bekämpften. Als ihn 1998 die französische Zeitschrift »Nouvel Observateur« fragte: »Bedauern Sie, islamistischen Fundamentalismus ermutigt, zukünftige Terroristen mit Waffen und Beratern versorgt zu haben?«, antwortete er: »Was ist im Kontext von Weltgeschichte wichtiger: die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige islamistische Fanatiker oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?«

Nach eben dieser »Qui bono«-Logik sehen die USA und ihre Verbündeten heute in islamistischen Fanatikern ihren Feind. Aber nicht in den muslimischen Uiguren, die gegen Peking kämpfen. Auch nicht in der fast nur aus Muslimen bestehenden kosovarischen UCK. Denn die ist ja nicht gegen USA-Stützpunkte auf dem Balkan. Der Feind sind jene Fanatiker, die sich als »Antikraft« verstehen und ebenso wie die »Schurkenstaaten« sich der Vormachtstrategie des Westens in strategisch entscheidenden Zielregionen eines »Broader Middle East« in den Weg stellen. Die Transatlantische Allianz kreierte diesen neuen geostrategischen Raumbegriff nicht zufällig im Zuge ihrer Antiterrorstrategie. Mit der neuen Zieldefinition zirkelte sie einen erweiterten Interventionsradius, der über den traditionellen des Nahen und Mittleren Ostens hinaus reicht, in die Erdölregionen Zentralasiens, des Kaspischen Beckens und deren infrastrukturellen Transitränder (in Europa Kaukasus, Balkan).

Das Anliegen von B.G. Tamm ist, wie er im Vor- und Nachwort betont, die Perspektive der Auseinandersetzung russischer, chinesischer und zentralasiatischer Staatsführungen mit extremistischen islamistischen Bewegungen umfassend zu vermitteln. Die »vom globalen Dschihadterrorismus ausgehenden Bedrohungen« träfen Ost und West gleichermaßen. Tamm schildert faktenreich Absichten und Arsenal militanter islamistischer Bewegungen in Zentralasien, Kaukasus, China sowie deren Verbindungen zu Al Quaida,

Tamm schildert, wie stark die Sowjetmacht ihre Axt an die Wurzeln des Islams und seine Träger ansetzte. Hingegen erfährt der Leser über den »Nachlass« britischer Kolonialpolitik gegenüber Afghanistan und dem künstlich gebildeten Pakistan, deren Völkern und Stämmen so gut wie nichts. Weder über die drei Kriege der britischen Kolonialmacht gegen Afghanistan, noch über den Kampf der Puschtustämme gegen englische Unterwerfungsversuche und Strafexpeditionen. Es bleibt auch des Autors Geheimnis, weshalb sich der historische Bodensatz im Gedächtnis tschetschenischer oder zentralasiatischer Islamisten tiefer abgesetzt haben soll als in dem paschtunischer Taliban im Widerstand gegen Armeen fremder NATO-Mächte.

Dafür legt Tamm zu Recht den Finger in zwei zentrale Wunden. Zum einen macht er darauf aufmerksam, dass ungeregelte Nationalitäten- und Minderheitenfragen, nationalistischer und/oder religiöser Separatismus, das Verhältnis von Zentralmacht zu nationalregionalen Machtzentren äußerst komplizierte innen- und außenpolitische Konfliktquellen sind. Zweitens belegt er, dass sie sich verschlimmern, wenn sie ins Kreuzfeuer der Interessen von Großmächten geraten, die entweder um ihre territoriale Be-standsmasse aus kolonialer Epoche bangen oder neue wirtschaftliche und machtpolitische Prioritäten definieren, um dann jener bereits erwähnten »Qui bono«-Logik zu folgen. Derartige Konfliktquellen gibt es heute zuhauf im Osten, Süden, ja selbst im Westen.

Tamm ist zuzustimmen, dass sich an den Konfliktinhalten nicht Religionen als solche, also hier der Islam, entzünden, sondern konkrete Menschen, politische und intellektuelle Eliten, nationale oder religiöse Minderheiten. Aber selbst deren Politisierung, etwa zu »Islamisten«, muss noch keine Bedrohung darstellen. Erst wenn diese sich radikalisieren, wird es gefährlich. Radikalisierung ist kein abstrakter, sondern ein konkreter Prozess, mit konkreten Anlässen, Fehlentscheidungen, Provokationen etc. Radikalisierung ist nicht »vorbestimmt«.

Obgleich der Autor im Falle Zentralasiens nicht übersieht, dass die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit wachsender Armut und/oder autoritären, undemokratischen Herrschaftsformen, diese beispielsweise in die Fänge von Hizb ut-Tahrir treibt, spielen bei ihm breitere gesellschaftspolitische Hintergründe so gut wie keine Rolle. Woher kommt islamisch geprägte Gesellschaftsopposition? Weshalb findet sie Mehrheiten? Wie wäre mit diesen Phänomenen im konfliktpräventiven Sinne friedlich umzugehen? Da Tamm diese Fragen nicht stellt, braucht er sie auch nicht zu beantworten. Doch gerade sie betreffen Kernfragen der öffentlichen Debatte um die Ursachen von Terror und des Umgangs mit ihm. Dass Terrorismus, auch islamistischer, zu verurteilen und abzuwehren ist, steht außer Frage. Abwehr bleibt aber solange erfolglos, wie nicht nach dem politischen Kern des Konfliktes gefragt wird.

Wer sich, wie der Rezensent, seit nahezu einem Jahrzehnt mit dem säkularen-islamischen Verhältnis in Zentralasien befasst (womit er bereits vor dem 11. September begann), weiß, dass in dieser Region der Knackpunkt das unterschiedliche Verständnis von nationaler kultureller und religiöser Identität zwischen säkularen und islamischen Politiker ist, welches diese der Staatsformung und ihrer ordnungspolitischen Ausrichtung zugrunde legen wollen. Dieser Dissens ist real politikbestimmend. Er ist nachvollziehbar, nachdem kulturelle und religiöse Identität in den vergangenen Jahrzehnten durch das aufgezwungene fremde russisch-sowjetische Gesellschaftsmodell bis an die Existenzgrenze belastet war.

Natürlich wäre es für den Westen wunderbar, übernähme es der »Osten« samt seiner neuen Allianzen, wie die Shanghai Cooperation Organisation, seinen Teil in »Broader Middle East« vom Dschihad sauber zu halten. Doch dass er das als Besen der Transatlantischen Allianz erledigen würde, ist eine Illusion. Während diese ihre Schläge gegen den Dschihad vor allem in Richtung islamischer Welt richtet, werden sich Russland und China gegen diese nicht in Stellung bringen lassen. Sie haben in ihrem Umgang mit militanten Islamisten schwierigsten inneren gesellschaftspolitischen Herausforderungen Rechnung zu tragen.

Berndt Georg Tamm: Der Dschihad in Asien. Die islamische Gefahr in Russland und China. dtv, München, 2008. 280 S., br., 15 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Dezember 2008


Zurück zur "Terrorismus"-Seite

Zur Asien-Seite

Zur Islam-Seite

Zurück zur Homepage