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Nach den Terroranschlägen: Bestrafung JA - Vergeltung NEIN

Von Peter Strutynski

Rede auf einer Kundgebung vor dem Rathaus in Kassel am 19. September 2001 mit rund 2.000 Teilnehmern.

Liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren!
Ich habe keine schlüssigen Antworten auf die Hintergründe und möglichen Motive, die den verheerenden Terroranschlägen vom 11. September zugrunde liegen. Und ich glaube, es wird noch lange dauern, bis wir wirklich verstehen, was da passiert ist. Und wenn ich sage: "verstehen", dann hat das nichts mit "Verständnis" zu tun. Niemand, der menschlich fühlt, kann für solche menschenverachtenden Verbrechen Verständnis aufbringen!

Trotzdem können wir vielleicht schon heute ein paar Zusammenhänge erkennen. Ich möchte dazu drei Vermutungen anstellen.

1

Meine erste Vermutung bezieht sich auf die Haltung vieler Politiker in den USA und hier zu Lande. Während viele von uns selbst noch schockiert und wie gelähmt den Nachrichten und Bildern von dem ungeheuerlichen Geschehen folgten, bemüht, Erklärungen für das Unfassbare zu erhalten und ständig hoffend, dass die Zahl der Opfer sich nicht immer weiter erhöhen würde, zu dieser Zeit bastelten die Politprofis bereits an ihren Legenden und Strategien. So waren in Nullkommanix die Schuldigen ausgemacht. Osama bin Laden musste es sein, der von den USA meistgesuchte Schurke in der Welt. Fast wäre man geneigt, diese zum allgegenwärtigen Unheilstifter und Weltverschwörer aufgebauschte Figur für ein Phantom zu halten, für ein in der ideologischen Garküche westlicher spin doctors gestyltes Kunstprodukt, wenn wir nicht wüssten, dass dieser Osama bin Laden auch real existiert und noch vor ein paar Jahren ebenso real vom CIA bezahlt und aufgebaut wurde. Die internationalen Verbindungen, über die bin Laden vor allem in der islamischen Welt verfügt, reichen aus, um gleich eine ganze Reihe so genannter "Schurkenstaaten" der Mithilfe und Komplizenschaft mit ihm zu verdächtigen. So geraten sie dann auch ins Fadenkreuz amerikanischer Bomben und Raketen. Sehr schnell nach den Attentaten von New York und Washington war man sich in der politischen Klasse diesseits und jenseits des Atlantiks darüber im Klaren, dass es nur eine Reaktion auf die Gewalttaten geben könne, nämlich eine militärische.
  • Die USA erhöht prompt ihre Rüstungsausgaben.
  • Die NATO beschließt den "Bündnisfall".
  • Bundeskanzler Schröder erklärt seine "uneingeschränkte Solidarität" mit der Regierung der Vereinigten Staaten und schließt dabei ausdrücklich auch militärische Unterstützung ein.
  • Und die CDU/CSU/FDP fordert mehr Geld für die angeblich Not leidende Bundeswehr.
Genauso schnell waren die deutschen Innenpolitiker bei der Hand, um durchgreifende Änderungen, sprich: Verschärfungen bei den Gesetzen und Verordnungen zur "Inneren Sicherheit" zu fordern:
  • Schily fand Gefallen an dem Vorschlag, Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen.
  • Die Befugnisse, private Telefonanschlüsse abzuhören, sollen ausgeweitet werden.
  • Religionsgemeinschaften sollen strenger kontrolliert werden.
  • Und das ohnehin sehr dürftige neue Einwanderungsgesetz ist auch gleich verschoben worden.
Was bedeutet das? Da sterben Tausende von Menschen bei einem der fürchterlichsten Anschläge, die die Geschichte kennt, und unsere Politiker haben nichts besseres zu tun, als den Bürgerinnen und Bürgern die Daumenschrauben anzuziehen. Die Bilder des Grauens wurden instrumentalisiert, um lang gehegte politische Pläne zu verwirklichen. Die Tränen der Politiker waren offenbar nur Krokodilstränen, die Beileidsbekundungen waren reine Betroffenheitsrhetorik.

2

Präsident Bush hat einen Kreuzzug gegen das Böse angekündigt. Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz meinte sogar, es müssten wohl ganze Staaten von der Landkarte verschwinden: "ending states" - wie er sich ausdrückte. Von Vergeltung und Rache ist die Rede.

Gleichzeitig wird so getan, als gelte es jetzt, die zivilisierte Welt (das sind wir) gegen den Rest der Welt (das sind die Anderen) zu verteidigen. Zivilisation und Rache schließen sich aber aus! Es war doch ein wesentlicher Fortschritt der menschlichen Zivilisation, das Faustrecht durch das Recht abzulösen, willkürliche Gewaltanwendung, sei`s durch Individuen, sei`s durch Staaten, zu verbieten und unter Strafe zu stellen. Kein Staat der Welt, und sei er noch so mächtig, hat das Recht, andere Staaten auf irgend einen Verdacht hin anzugreifen. Soll das alles nicht mehr gelten?

Bertha von Suttner, die 1905, also vor fast 100 Jahren den Friedensnobelpreis erhielt, hat den fatalen Irrweg von Vergeltung und Rache, von Gewalt und Gegengewalt mit einem ganz einfachen Bild deutlich gemacht: "Rache und immer wieder Rache! Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecke mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen - nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden."

3

Nun wird man uns vielleicht entgegenhalten: Ja, aber irgendwie muss man ja dem Terrorismus zu Leibe rücken. Man muss doch etwas tun, um wehrlose Menschen gegen solchen Wahnsinn zu schützen.

Ja man muss auch etwas tun. Es kommt aber darauf an, das Richtige zu tun. Einen Osama bin Laden zu fangen - so er denn dringend tatverdächtig ist: Dazu braucht es vielleicht anderer Mittel, als einen Krieg gegen Afghanistan zu führen. Den Terrorismus wirkungsvoll bekämpfen: Dazu muss man zuerst seine Ursachen ergründen. Und ich muss ganz deutlich sagen: Ich traue im Augenblick weder den USA noch der NATO zu, dass sie sich ernsthafte Gedanken über die wahren Ursachen von Terrorismus auf der Welt machen. Denn sonst müssten sie sich vielleicht auch Gedanken machen über ein globales Wirtschaftssystem, das einen großen Teil der Menschheit zu Armut und Hunger, zu Unfreiheit und Existenzangst verurteilt.

Alle drei Stunden verhungern mehr Menschen auf der Welt, als die Terrorakte in Washington und New York an Opfern forderten. Eine Milliarde Menschen, das heißt jeder vierte Erwerbsfähige, ist ohne Arbeit. Jeder vierte Erdenbewohner lebt unter der Armutsgrenze. Hunderte Millionen sind auf der Flucht, weil sie in ihrer Heimat keine Chance des Überlebens mehr sehen oder weil sie verfolgt werden - der Gerechtigkeit wegen sei gesagt, dass dafür natürlich nicht nur die Industrieländer mit den USA an der Spitze die Alleinverantwortlichen sind.

Aber bedenken Sie, welche schreiende Ungerechtigkeit unweigerlich auf die USA und die anderen Industriestaaten projiziert wird, wenn man sich vor Augen hält, dass die drei reichsten Männer der Welt, es sind drei US-Amerikaner, über ein Vermögen verfügen, das dem Bruttosozialprodukt von 600 Millionen Menschen in den 48 ärmsten Ländern entspricht. Wer eine Welt ohne Verzweiflung, ohne Ausbeutung, ohne soziale Ungerechtigkeit und damit auch eine Welt ohne Terror und Krieg will, denn beide gedeihen ja erst auf solchen Ungerechtigkeiten, der muss diesen Ursachen zu Leibe rücken.

Gewaltprävention, Terrorismusbekämpfung, Kriegsverhütung fängt da an, wo die US-Politik bereits wieder aufhört. Das ist das Problem, das wir alle haben - und weshalb wir hier zusammengekommen sind.

Und das sei auch dem deutschen Bundeskanzler Schröder ins Stammbuch geschrieben: Wer, wie er es heute wieder im Bundestag gemacht hat, der US-Regierung einen Blankoscheck ausstellt über jede Art von militärischer Vergeltung, hat seine Lektion nicht gelernt. Vielleicht sollten er und sein Außen- und Verteidigungsminister sich einmal bei ihrer Kabinettskollegin, der Entwicklungshilfeministerin Heidi Wieczorek-Zeul erkundigen, wo die globalen Probleme der Welt liegen - sie müsste doch wenigstens Bescheid wissen.

Spatzenhirngroße Nibelungentreue hat sich noch nie ausgezahlt. Deshalb sage ich - auch wenn es dem großen Bruder in Washington nicht gefällt: Nicht Kadavergehorsam ist angesagt, Herr Bundeskanzler, sondern Zivilcourage! Die Menschen würden es Ihnen danken.

Begeben wir uns also auf einen längeren Weg. Begreifen wir, dass es 100-prozentige Sicherheit heute nicht mehr geben kann. Wir können Gefahren reduzieren, gewiss, z.B. indem wir die Atomkraftwerke stilllegen - aber nicht erst in dreißig Jahren. Wir können auch mehr Sicherheit schaffen, wenn wir, wenn die führenden Staaten und ihre Regierungen endlich bereit sind, das Sicherheitsbedürfnis auch der anderen Staaten und Völker anzuerkennen. Dazu gehört auch die Anerkennung des internationalen Rechts unter der Autorität der Vereinten Nationen. Wir müssen das Faustrecht, das überall um sich greift, wieder durch die Stärke des Rechts ersetzen.

Sicherheit kann heute nicht mehr nur militärisch, sondern muss vor allem sozial, kulturell, ökonomisch und politisch begriffen werden. Sicherheit ist letztlich eine Frage der Gerechtigkeit. Ob im Nahen Osten oder in Lateinamerika, in Indonesien und auf den Philippinen oder in Sri Lanka, im Kongo, in Somalia oder in Sierra Leone, in Indien und Pakistan oder in Tschetschenien, in Russland oder in China, in den USA oder bei uns in Deutschland.

Dafür lasst uns zusammen eintreten!

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