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Tödlicher Krieg gegen den Terror

IPPNW schätzt Zahl der Todesopfer allein im Irak-Konflikt auf 1,5 Millionen

Von Thomas Mell *

In den Kriegen in Irak, Afghanistan und Pakistan sind im letzten Jahrzehnt 1,7 Millionen Menschen gestorben, so die Medizinerorganisation IPPNW in ihrer am Freitag vorgestellten Schätzung.

Wie viele Opfer haben die von westlichen Staaten geführten Kriege in Irak und Afghanistan gefordert? Die Friedensorganisation »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) hat sich an der Beantwortung dieser brisanten Frage versucht und kommt zum Ergebnis, dass sich diese Zahl um die 1,7 Millionen bewegt. Alleine 1,5 Millionen davon sind laut IPPNW dem Konflikt in Irak zuzurechnen, der 2003 mit der Invasion der US-geführten Koalition begann und Ende 2011 mit dem Abzug der letzten US-amerikanischen Kampftruppen noch nicht befriedet ist. In Afghanistan seien bis zu 150 000 Menschen, in Pakistan bei Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Militanten 60 000 Menschen gestorben.

Für die Autoren des neuen Reports gehe es um »Annäherung an realistische Opferzahlen von Kriegen gegen den Terror«, sagte Jens-Peter Steffen von IPPNW. Der Vorstellungstermin sei nicht zufällig vor den anstehenden G8- und NATO-Gipfeln in den USA gewählt worden. In Camp David und Chicago wird der Krieg in Afghanistan ein Thema sein.

Die Studie »Body Count - Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror« könnte die Debatte um eine exakte Todesstatistik wieder entfachen. Der Grund: Die Medien sprechen in der Regel von etwas mehr als 100 000 Getöteten im Irak-Krieg, im Vergleich zu der IPPNW-Hochrechnung ergibt sich dadurch eine Differenz von mindestens Faktor 10. Auch im Falle Afghanistans sei die Zahl der »direkt getöteten Zivilisten« dreimal größer als die amtliche Statistik, sagte Lühr Henken, einer der Co-Autoren.

Die Problematik der Statistik beruht auf dem Tatbestand, dass auf Kriegsschauplätzen eine funktionierende Bürokratie fehlt. Man kann nicht einfach zu den Behörden gehen, um etwa Totenscheine auszuwerten. Stattdessen werden meistens zwei Methoden angewandt: zum einen passive Beobachtung von Todesmeldungen und zum anderen aktive Befragung der Betroffenen. Es ist also oft eine Frage des Verfahrens. So wird auch die omnipräsente Zahl 100 000 von glaubwürdigen Quellen, wie dem Projekt Iraq Body Count, vertreten.

IPPNW stützt sich bei ihrer Hochrechnung auf die sogenannte Lancet-Studie aus dem Jahr 2006, die sich für die zweite Methode entschied. Ein Forscherteam unter Leitung US-amerikanischer Wissenschaftler von der angesehenen Johns Hopkins University befragte knapp 2000 irakische Haushalte, ob Familienangehörige zwischen 2002 und Juni 2006 gestorben sind. Anhand dieser von Tür-zu-Tür gesammelten Daten hat man berechnet, das die Sterblichkeit in Irak von 5,5 pro tausend Einwohner vor Kriegsbeginn auf 13,3 in der Zeit danach wuchs. Davon seien mehr als 90 Prozent dieser »zusätzlichen Sterblichkeit« Gewaltfällen zuzuordnen. Die Studie löste heftige Gegenwehr aus, die Kritikpunkte reichten von einer unrepräsentativen Stichprobe bis zur Parteilichkeit der Forscher.

Joachim Guilliard, einer der Autoren des IPPNW-Berichts, gibt zu, dass die 1,5 Million Todesopfer im Falle Iraks »etwas spekulativ« sind und durch Hochrechnung ermittelt wurden. Die Lancet-Studie wurde vor mehr als sechs Jahre veröffentlicht. Auch 2012 gibt es noch keine wissenschaftlich belastbaren Zahlen. Laut Guilliard ist dies mit politischem Unwillen zu erklären: »Man will es in Irak nicht so genau wissen.«

* Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Mai 2012


Todesstatistik

Von Thomas Mell **

Vor gar nicht mal so langer Zeit waren die Schlagwörter »Irak«, »Autobombe« und »Selbstmordattentat« fester Bestandteil der täglichen Berichterstattung. Insbesondere 2006 und 2007, als die Gewaltwelle ihren traurigen Höhepunkt fand, verketteten sich solche Meldungen zu einem abstumpfenden Medienecho. Irgendwann haben wir in meiner estnischen Heimatredaktion vereinbart, dass nur noch Anschläge mit mehr als zehn Toten zu vermelden sind.

Kriegsstatistik ist von zweierlei Qualität. Einerseits Truppenverluste, die akribisch dokumentiert werden. Auf 4804 beziffert die viel zitierte Website icasualties.org kühl und trocken die in Irak gefallenen Soldaten der Koalition der Willigen. Andererseits ist die um ein Mehrfaches größere Zahl der getöteten Zivilisten (Männer, Frauen und Kinder) in den Kriegswirren kaum festzustellen. Hinzu kommt, dass es in Zeiten »asymmetrischer Konflikte« oft eine Frage der Sichtweise ist, ob ein Todesopfer den Kombattanten oder der Zivilbevölkerung zuzurechnen ist.

Dies lässt viel Zahlenakrobatik zu. Die gängigsten Schätzungen gehen in Irak von gut 100 000 Opfern aus, die neueste Hochrechnung der Friedensbewegung kommt auf 1,5 Millionen. Die Todesstatik eines Krieges bleibt eine hochpolitische Frage. Das gilt sowohl für den unteren wie den oberen Bereich. Was einen dann doch verwundert, ist, dass es keine aktuellen und wissenschaftlich belastbaren Studien über die Opfer des Irak-Kriegs gibt. Dies wäre endlich eine Ziffer, die aufhorchen ließe.

Der Autor ist Redakteur der estnischen Nachrichtenagentur BNS und hospitiert derzeit bei »nd«.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Mai 2012 (Kommentar)



Hoher Blutzoll

Eine neue Studie über die Opferzahl des »War on Terror« geht von über einer Million Toten allein im Irak aus – sowie weit über 100000 in Afghanistan und Pakistan

Von Claudia Wangerin ***


Der 2001 ausgerufene »War on Terror« hat nach einer neuen Studie der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) im Irak, in Afghanistan und Pakistan rund 1,7 Millionen Menschenleben gekostet. »Präzisionswaffen ändern nichts am hohen Prozentsatz getöteter Zivilisten in asymmetrischen Kriegen«, erklärte Vorstandsmitglied Jens Wagner zur Vorstellung des IPPNW-Reports »Body Count – Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror« am Freitag in Berlin. Die Autoren Joachim Guilliard, Lühr Henken und Knut Mellenthin hatten für den Report systematisch wissenschaftliche Studien über die Toten auf beiden Seiten der Kriege im Irak, in Afghanistan und Pakistan zusammengestellt und aktualisiert, um die Konsequenzen und den »humanitären Preis« des »War on Terror« aufzuzeigen.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war mit Bedacht gewählt, denn am Freitag abend sollte in Camp David der Gipfelmarathon der Staats- und Regierungschefs der G8, der NATO und der EU beginnen.

Immer noch würden über den Irak-Krieg Opferzahlen um 100000 herum publiziert, kritisierte IPPNW-Vorstand Wagner. Spätestens seit einer medizinisch-epidemiologischen Studie in der Zeitschrift Lancet im Jahr 2006 müsse aber das wahre Ausmaß der Zerstörung durch das überlegene US-Waffenarsenal und das von Besatzungstruppen verursachte Chaos deutlich geworden sein. Trotzdem bezögen sich fast alle Medien bis heute auf den »Iraq Body Count«, ein Projekt, das weniger als zehn Prozent der Kriegsopfer registriere – zum Beispiel, weil oft nicht eindeutig nachweisbar sei, daß es sich um Zivilisten handle.

Nach Überzeugung der IPPNW-Autoren hat der Irak seit der NATO-Invasion im Jahr 2003 bis heute zusätzlich zur normalen Sterblichkeit über eine Million, womöglich 1,5 Millionen Todesopfer durch direkte Gewalteinwirkung zu verzeichnen. Grundlage dieser Schätzung ist eben jene Lancet-Studie über die Mortalität im Irak. Dafür hatte im Jahr 2006 ein US-amerikanisch-irakisches Team unter der Leitung von Wissenschaftlern der Bloomberg School of Public Health an der John Hopkins University 1850 repräsentativ ausgewählte Haushalte im Irak befragt. Demnach hatte sich die Sterblichkeit von 5,5 Toten pro tausend Einwohner im Jahr vor Kriegsbeginn auf 13,3 in der Zeit danach erhöht. Für 90 Prozent der Verstorbenen lagen Totenscheine vor. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ergab sich daraus die Zahl von 655000 Menschen, die ohne die Invasion noch am Leben wären, davon rund 601000 direkte Gewaltopfer und 54000 durch kriegsbedingte Umstände wie medizinische Mangelversorgung zu Tode gekommen.

Das angewandte Verfahren sei Standard und auch im Kongo, in Angola und Bosnien angewandt worden, ohne daß es prinzipiell angezweifelt worden wäre, so die IPPNW-Autoren. Die tatsächliche Zahl der Opfer im Irak bewegte sich demnach bis 2006 mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent zwischen 390000 und 940000. Allerdings, so Wagner, seien bei der Befragung Orte mit besonders intensivem Kampfgeschehen wie Nadschaf und Falludscha außen vor geblieben. Den Mittelwert des »95-Prozent-Konfidenzintervalls« von 655000 rechnete IPPNW unter Berücksichtigung des späteren Kampfgeschehens und weiterer Quellen bis heute hoch.

In Afghanistan, wo die Datenlage schlechter sei als im Irak, könne von keinesfalls weniger als 70604 Kriegstoten, davon mindestens 43000 Zivilisten ausgegangen werden. In Pakistan seien bisher 2300 bis 3000 Menschen US-Drohnenangriffen zum Opfer gefallen, davon rund 80 Prozent Zivilisten. 40000 bis 60000 Tote habe es aber durch Kämpfe der von der US-Regierung unterstützten pakistanischen Armee mit unterschiedlichen Widerstandsgruppen gegeben.

* Aus: junge Welt, Samstag, 19. Mai 2012


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