Erdölkonsortien, Geheimdienste und internationale Vermittler
Dubiose Kontakte zwischen Washington und den Taliban. Von Pierre Abramovici
Im Folgenden dokumentieren wir - stark gekürzt - eine Analyse aus der Monatszeitung "Le Monde diplomatique" vom Januar 2002.
...
Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen am 15. Februar 1989 kehrte in
Afghanistan
der Frieden nicht ein. Damals interessierten sich die Vereinigten Staaten,
die
an der Kriegführung nur indirekt durch afghanische Mittelsmänner im
pakistanischen Geheimdienst ISI (Inter Services Intelligence) beteiligt
waren,
nicht weiter für die afghanische Frage. Selbst ein radikaler Islamist wie
der
ehemalige ISI-Chef General Hamid Gul bezeichnet den Rückzug der Amerikaner
als
ein "Verbrechen", und Vincent Cannistraro, ehemaliger Mitarbeiter der CIA
und
des Nationalen Sicherheitsrats der USA, räumt Fehler seines Landes ein:
"Als sich die Rote Armee zurückzog, waren die Ziele der Vereinigten Staaten
erreicht. Was haben sie unternommen? Sie sind nach Hause gefahren. Sie haben
Afghanistan sich selbst überlassen und keine Hilfen zur Verfügung gestellt -
was eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre -, um das Land wieder aufzubauen
und
seine Stabilität zu gewährleisten. [...] Sie haben ein riesiges Vakuum
hinterlassen." (1)
Um dieses Vakuum zu füllen, traten die Vereinten Nationen auf den Plan und
haben den Schauplatz Afghanistan seither nicht mehr verlassen.
Am 28. April 1992 wird Afghanistan offiziell zu einer Islamischen Republik.
Schon am Tag darauf treffen die ersten Besucher in Kabul ein: Der
pakistanische Premier Nawaz Scharif kommt in Begleitung seines Stabschefs.
Seiner Delegation gehört auch Prinz Turki an, Chef des saudischen
Geheimdienstes und künftiger Förderer Ussama Bin Ladens, der seit
seiner Rückkehr aus dem Krieg gegen die Sowjets wieder in Saudi-Arabien
lebt.
Am gleichen Tag marschiert Kommandant Massud in Kabul ein und entfesselt
eine Schlacht die die Stadt in ein Trümmerfeld verwandeln wird.
Am 28. Juni wird der gemäßigte Islamist Burhanuddin Rabbani (der 1962 die
erste islamistische Partei Afghanistans, die Dschamaat-i-Islami, gegründet
hatte) zum Staatspräsidenten ausgerufen. Die Kämpfe gehen weiter,
unterbrochen
von Feuerpausen, deren Einhaltung (im Allgemeinen) von Iran, Pakistan oder
Saudi-Arabien überwacht wird. Im Januar 1994 setzt sich die UNO, die Mahmoud
Mestiri zu ihrem Sonderbeauftragten für Afghanistan ernannt hat, drei Ziele:
Präsenz vor Ort; Einwirkung auf die verdeckt operierenden Staaten, sich
nicht
länger in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einzumischen; Freilassung
des ehemaligen Präsidenten Muhammed Nadschibullah, der sich in ein
UN-Gebäude
in Kabul geflüchtet hat.(2) Geplant ist auch, das Land durch die
Einberufung einer Versammlung (schura) und wenn möglich durch Wahlen zu
stabilisieren. Die Mission scheitert 1995, doch der Kampf gegen die
Einmischung des Auslands bleibt vorrangiges Ziel der UNO, die den Frieden
durch die Abhaltung lokaler Versammlungen auf allen Ebenen sichern will.
Entgegen dem Vorwurf, sie hätten Afghanistan "fallen gelassen",
interessierten
sich die Vereinigten Staaten tatsächlich schon sehr bald wieder für das
Land,
und zwar wegen seiner geografischen Nähe zum Kaspischen Meer, das als neue
Schatzgrube fossiler Energien gilt. Schon im Juni 1990 etabliert sich
Chevron
nach einer wüsten Rangelei unter den Mineralölgesellschaften im seinerzeit
noch sowjetischen Kasachstan. Die Konzerne betreiben intensive Lobbyarbeit
und rekrutieren Berater unterschiedlichster Provenienz, darunter Richard
Cheney, ehemaliger Verteidigungsminister unter Bush senior und späterer
Vizepräsident von Bush junior, und der höchst aktive Zbigniew Brzezinski,
früher Sicherheitsberater von Präsident Carter, Berater bei Amoco und
langjähriger Förderer von Clintons künftiger Außenministerin Albright.
Aus denselben Gründen beginnt sich auch das Pentagon in den ehemaligen
Sowjetrepubliken einzunisten, mit deren Erdölreserven die USA
energiepolitisch auf Dauer weniger abhängig von den Golfstaaten werden
wollen. Unter dem Vorwand eines "humanitären" Einsatzes (dessen Zweck
im Dunkeln bleibt) unterzeichneten die Vereinigten Staaten 1996 erst mit
Usbekistan, dem mächtigsten Land der Region, danach mit Kasachstan und
Kirgisistan das so genannte Centrasbat-(Central Asia Batallion-)Abkommen.
Diese drei Länder veranstalteten 1997 und 1998 gemeinsame Truppenübungen,
und im Ausbildungszentrum der US-Eliteeinheiten in FortBragg wurden
Soldaten,
vor allem usbekische, trainiert. ...
Zwei Mineralölgesellschaften - die zwölftgrößte US-Gesellschaft Unocal
und die argentinische Bridas - konkurrieren um das ehrgeizige Projekt
einer Pipeline, die von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan
gehen soll. "Die einzig mögliche Route", so John J. Maresea,
internationaler Vizepräsident der Unocal, vor einem Ausschuß des
amerikanischen Repräscntantenhauses.(3) Bei einer Investition in solcher
Höhe muß die Zustimmung des turkmenischen Präsidenten Nijasow und der
pakistanischen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto eingeholt werden.
Diese erfolgt am 16. März 1995. Und nach einer intensiven Kampagne der
Lobbyisten, die auf Initiative der US-amerikanischen Behörden geführt
wird, unterzeichnet der turkmenische Präsident am 21. Oktober mit
Unocal (4) einen Vertrag über den Bau der afghanischen Pipeline. Doch
zuvor muß die Stabilität Afghanistans gesichert sein.
Im Januar 1995, der Krieg ist in vollem Gange, treten die ersten größeren
Gruppen von Taliban-Kämpfern in Erscheinung: Sie sind eine Schöpfung des
pakistanischen Geheimdienstes und werden vermutlich von der CIA und Saudi-
Arabien finanziert. Es wird sogar behauptet, daß Unocal zusammen mit dem
saudischen Partner Delta Oil beim "Einkauf" örtlicher Kommandanten eine
große Rolle gespielt habe. (5) Die Sicherung Afghanistans ist offenkundig
die einzige Funktion dieser Kämpfer.
Am 26. September 1996 erobern die Taliban Kabul. Michael Bearden, Vertreter
der CIA in Afghanistan während des Kriegs gegen die Sowjets (und heute
halboffizieller Sprecher der CIA), gibt die damalige Stimmung bei den
Amerikanern wieder: "Diese Typen [die Taliban] waren nicht einmal die
schlimmsten, etwas hitzige junge Leute, aber das war immer noch besser
als der Bürgerkrieg. Sie kontrollierten das gesamte Gebiet zwischen
Pakistan und den Erdgasfeldern Turkmenistans. Vielleicht war das doch
eine ganz gute Idee, dachten wir, wenn wir eine Erdölpipeline durch
Afghanistan bauen und das Gas und die Rohstoffe auf den neuen Markt
befördern können. Alle wären zufrieden." (6)
Chris Taggart, Vizepräsident von Unocal, machte kein Hehl daraus, daß
seine Gesellschaft die Taliban unterstützt. Er bezeichnete ihren Vormarsch
als "positive Entwicklung" ... Man rechne sogar mit der Anerkennung der Taliban-Regierung durch Washington.(7)
Das war zwar eine Fehlinformation, aber zwischen Washington und den
"Religionsstudenten" herrschte eitel Sonnenschein. Für Gas und Öl
tut man alles. Auf Einladung von Unocal reiste sogar eine Taliban-
Delegation im November 1997 in die Vereinigten Staaten, und Anfang Dezember
eröffnete der Konzern an der Universität von Ornaha, Nebraska, ein
Ausbildungszentrum, in dem 137 Afghanen für den Bau von Pipelines
ausgebildet wurden.
Als sich die politische und militärische Situation in Afghanistan nicht
besserte, wurden in Washington Stimmen laut, die die Unterstützung des
Taliban-Regimes und des Erdgasprojekts für einen politischen Fehler hielten.
So warnte Vizeaußenminister Talbott am 2 1. Juli 1997: "Die Region könnte
zur
Brutstätte von Terroristen werden, zur Wiege des politischen und religiösen
Extremismus und zum Schauplatz eines regelrechten Kriegs." (8)
Ein neuer Faktor greift in Afghanistans Innenpolitik ein und beeinflußt
seine internationalen Beziehungen entscheidend: die Anwesenheit Ussama Bin
Ladens, der auf der Suche nach einem sicheren Ort aus Sudan gekommen war.
Mit Unterstützung der Taliban rief er von Afghanistan aus am 22. Februar
1998 eine internationale radikale Islamistenbewegung ins Leben: al-Qaida.
...
Bei einem Besuch in Kabul am 16. April 1998 erörterte der amerikanische
UN-Botschafter William Richardson den Fall Bin Laden mit den Taliban.
Nach Einschätzung des damaligen US-Botschafters in Pakistan, Simons,
spielten die Taliban das Problem allerdings herunter: "Er besitzt nicht die
religiöse Autorität, eine Fatwa zu verkünden, und deshalb dürfte das auch
kein Problem für Sie darstellen."
v
Doch am 8. August 1998.werden die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi
durch Bombenanschläge zerstört, bei denen insgesamt 224 Personen ums Leben
kamen, darunter zwölf Amerikaner. Die Vereinigten Staaten schlagen zurück
und feuern 70 Cruise-Missiles auf Afghanistan ab sowie einige auf Sudan.
Den Chef von al-Qaida erklären sie zum Staatsfeind Nummer eins. Dennoch
warten sie über sechs Monate ab, bis sie einen internationalen Haftbefehl erlassen.
Da sie seiner nicht habhaft werden können, hoffen sie, mit den Taliban die
Ausweisung Bin Ladens aushandeln zu können.
Die Anschläge auf die US-Botschaften haben einen wichtigen Nebeneffekt:
Unocal verzichtet auf das Projekt der afghanischen Erdgasleitung.
Seit 1997 tagt die so genannte Sechs-plus-Zwei-Gruppe, bestehend aus den
sechs Nachbarländern Afghanistans (Iran, Pakistan, China, Usbekistan,
Tadschikistan, Turkmenistan) sowie Rußland und den Vereinigten Staaten, unter der
Schirmherrschaft der UNO und deren Afghanistan-Vermittler Lakhdar Brahimi,
eines sehr erfahrenen algerischen Diplomaten, der im Juli 1998 auf diesen
Posten berufen wurde. ...
Im Laufe des Jahres 1998 kommt es zu zahlreichen diplomatischen Initiativen.
Am 12. März 1999 bewegen sich, wie schon zuvor der Iran, die Vereinigten
Staaten in der Afghanistan-Frage auf Rußland zu. Karl Inderfurth,
Sondergesandter des Außenministeriums für Südasien, reist nach Moskau. Ganz offensichtlich unterscheiden sich die Positionen von Russen und Amerikanern kaum, und das gilt auch für die Rolle, die Teheran dabei zukommt: "Iran ist ein Nachbar
[Afghanistans] und kann deshalb zur Beendigung, des Konflikts beitragen.
Nach unserer Einschätzung kann der Iran im Rahmen der Sechs-plus-
Zwei-Gruppe eine positive Rolle spielen." ...
Die ersten Anzeichen der gegenwärtigen Probleme tauchen ebenfalls 1998 auf,
vor allein die Initiativen bestimmter Gruppierungen aus der
Anhängerschaft des ehemaligen Königs Sahir Schah, der 1973 gestürzt wurde
und seitdem im römischen Exil lebt. UN-Generalsekretär Kofi Annan vertritt
in einem Bericht vor dein Sicherheitsrat die Einschätzung, daß "die von
einigen Führern der nicht kriegführenden afghanischen Parteien befürwortete
'Loja Dschirga' (Große Versammlung) als informelle, traditionelle
afghanische Methode der Streitbeilegung auch weiterhin Aufmerksamkeit"
verdient. Der Sicherheitsrat "legt der Sondermission der Vereinten Nationen
in Afghanistan nahe, zu diesen Führern auch künftig nützliche Kontakte zu
wahren"(9). Zu weiteren diplomatischen Initiativen, die im Umfeld der UNO
stattfinden, gehört unter anderem auch ein Treffen von 21 Ländern "mit
Einfluß in Afghanistan". (10)
Wie geplant tritt am 19. Juli 1999 die Vollversammlung der Sechs-plus-Zwei-
Gruppe in der usbekischen Hauptstadt Taschkent zusammen und eröffnet damit
eine neue Phase in der Afghanistan-Diplomatie. Zum ersten Mal sitzen Taliban
-Vertreter und Angehörige der Nordallianz an einem Tisch. Die Taliban, die
90 Prozent des afghanischen Territoriums vertreten, sprechen der Nordallianz
jegliche Repräsentativität ab. Wie nicht anders zu erwarten endet die
Versammlung ohne Ergebnisse, doch von da an laufen die meisten diplomatischen
Initiativen über die Sechs-plus-Zwei-Gruppe.
Die US-Regierung allerdings, die die Auslieferung des AI-Qaida-Chefs durch
die Taliban unbedingt durchsetzen will, unterhält weiterhin Kontakte aller
Art und unterstützt auch verschiedene Initiativen, die geeignet sind, eine
politische Lösung herbeizuführen. Mit ihrer Billigung findet zwischen dem
22. und 25. November 1999 in Rom ein von Exkönig Sahir Schah organisiertes
Treffen zur Vorbereitung der Loja Dschirga statt.
Zwischenzeitlich hat der UN-Sicherheitsrat am 15. September eine Resolution
verabschiedet, in der die Taliban zur Auslieferung Bin Ladens aufgefordert
und ihnen eingeschränkte Sanktionen angedroht werden. Am 18. Januar 2000 wird der spanische Diplomat Francesc Vendrell zum neuen Afghanistan-Beauftragten der Vereinten Nationen ernannt, nachdem sein Vorgänger Brahimi, frustriert von der Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen, zurückgetreten ist. Zwei Tage später reist Inderfurth nach Islamabad, um mit dem neuen pakistanischen Machthaber General Pervez Muscharraf zusammenzutreffen. Er führt auch Gespräche mit zwei Würdenträgern der Taliban und stellt seine - immer gleiche - Forderung: "Geben Sie uns Bin Laden." Als Gegenleistung stellt er die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kabul und der internationalen
Staatengemeinschaft in Aussicht.
Auch wenn Washington das Gegenteil behauptet - die Taliban, die aufgrund
ihrer Politik gegen Frauen, ihrer Einstellung zu den Menschenrechten und
ihrer anhaltenden Protektion von Bin Laden überall auf der Welt in Mißkredit
geraten sind, bleiben nach wie vor Gesprächspartner der Vereinigten Staaten.
Am 27. September 2000 hält der stellvertretende Außenminister der Taliban-
Regierung, Abdur Rah-min Zahid, sogar einen Vortrag im Washingtoner Middle
East
Institute.
Am 30. September findet auf Initiative der Iraner eine neue
Verhandlungsrunde
in Zypern statt. Anwesend sind diesmal auch Anhänger des ehemaligen
"Schlächters von Kabul", Gulbuddin Hekmatjar, jenes Fundamentalislamisten,
der früher von den Amerikanern und den Saudis gegen die Sowjets unterstützt
wurde und der sich inzwischen im iranischen Exil aufhält. Bei dem Treffen
knüpft die Nordallianz vor allem Kontakte zu den Delegierten aus Rom,
die unter dem Banner von Exkönig Sahir Schah auftreten. Diese Kontakte
führen
am 6. April 2001 zu einem ersten gemeinsamen Treffen zwischen der
"Initiative
von Rom", die eine Loja Dschirga unter der Schirmherrschaft des ehemaligen
Monarchen befürwortet, und der "Initiative von Zypern" unter Federflührung
der Iraner. Obwohl mit den Pro-Iranern keine Übereinstimmung zustande kommt,
einigen sich die übrigen Gruppierungen darauf, erneut zusammenzukommen.
Am 3. November 2000 gibt Vendrell öffentlich bekannt, daß die beiden
gegnerischen Parteien, die Taliban und die Nordallianz, gemeinsam einen
Friedensplan unter Schirmherrschaft der Sechs-plus-Zwei-Gruppe geprüft
haben. (12) Zur selben Zeit bewirken die internationalen Sanktionen, daß die
Taliban zunehmend unter Druck geraten. Die wachsende Anspannung im Lager
der Taliban führt im Frühjahr 2001 zur spektakulären Zerstörung der Buddha-
Statuen von Bamian. Unterdessen ist die Sechs-plus-Zwei-Gruppe in eine neue
Phase eingetreten, die entscheidende, wie die Amerikaner glauben. Insgeheim
wird eine Untergruppe - "auf Ebene zwei" - ins Leben gerufen, von der man
sich eine größere Effizienz erwartet. Sie setzt sich aus Diplomaten oder
Experten zusammen, die erst jüngst in der Region tätig waren. Unter der Hand
wird sie von den jeweiligen Staatskanzleien der Delegierten geleitet. An den
in Berlin stattfindenden Treffen nehmen nur die Vereinigten Staaten,
Rußland, Iran und Pakistan teil. ...
Auf den beiden ersten Treffen im November 2000 und März 2001, bei denen
direkte Verhandlungen zwischen den Taliban und der Nordallianz vorbereitet
werden, erörtern die Teilnehmer mögliche politische Anstrengungen, die den
Taliban einen Ausweg aus der Sackgasse weisen könnten. ...
Sollten sieh die Taliban bereit erklären, so die bei dem Treffen anwesenden
Pakistani, die Menschenrechtsfrage "innerhalb von zwei oder drei Jahren" zu
überdenken und eine gemeinsame Übergangsregierung mit der Nordallianz zu
akzeptieren, würden sie massive internationale Hilfe finanzieller wie
technischer Art für den Wiederaufbau des Landes erhalten. "Dabei dachten wir
natürlich", so Naik (der pakistanische Vertreter, d.Red.), "an die Wiederherstellung von Frieden und Stabilität,
aber auch an die Erdgasleitung. Vielleicht könnte man die Taliban
überzeugen,
daß sie davon profitieren werden,wenn erst einmal alles geregelt wäre, wenn
die erweiterte Regierung im Amt und die Erdölleitung gebaut wäre: daß dann
Milliardenbeträge fließen würden." ...
In ihrer Besessenheit hoffen die Amerikaner immer noch darauf, daß ihnen
Bin Laden ausgeliefert wird. "Wenn sie [die Taliban] Bin Laden rausrücken
oder ernsthafte Verhandlungen aufnehmen würden", so Tom Simons (US-Vertreter, d. Red.), "wären wir auch bereit, einen ernsthaften Wiederaufbauplan zu starten." Daran hat das State Department in Washington ein um so größeres Interesse, als inzwischen
eine neue Regierung angetreten ist, in der Vertreter der Ölindustrie den
Ton angeben, allen voran Präsident George W. Bush selbst. Die neuen
Verhandlungen mit den Taliban werden Christina Rocca anvertraut, die Karl
Inderfurth als Sonderbeauftragten für Südasien abgelöst hat. Mit
Afghanistan kennt sie sich aus. Das Land fiel von 1982 bis 1987 in ihren
Zuständigkeitsbereich - bei der CIA.
Bereits am 12. Februar 2001 versichert die US-Botschafterin bei den
Vereinten Nationen, daß die Vereinigten Staaten - auf Bitten von Francesc
Vendrell hin - versuchen werden, mit den Taliban in einen "dauerhaften"
Dialog auf "humanitärer" Basis zu treten. (14) Die Amerikaner sind damals
so sehr vom Zustandekommen der Verhandlungen überzeugt, daß das FBI seine
Untersuchung über eine mögliche Beteiligung Bin Ladens (und seiner
Taliban-Komplizen) am Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS "Cole"
am 12. Oktober in Aden auf Veranlassung des State Department einstellen muß.
Und am 5. Juli läßt man John O'Neil, den "Mister Bin Laden" des FBI, sogar
aus Jemen ausweisen, um ihn an weiteren Untersuchungen zu hindern. (15)
Ein drittes Treffen findet zwischen dem 17. und 21. Juli, wiederum in
Berlin,
statt; diesmal in Anwesenheit der Außenminister der gegnerischen Parteien:
Mullah Mutawakil von den Taliban, Abdullah Abdullah von der Nordallianz.
Kurz zuvor, zu Beginn des Monats, gab es in Westen Park bei London ein
Geheimtreffen der 21 Länder "mit Einfluß in Afghanistan". Dabei einigte man
sieh auf die Kompromißlösung im Zusammenhang mit Exkönig Sahir Schah, die
vor
allem bei den Vertretern der Nordallianz Anklang fand. "Wir mußten den
Taliban
klar machen", so Naik, "daß wir, sollten sie nicht kooperieren, immer
noch König Sahir Schah als Option hatten." Eine Option, die für die gesamte
internationale Diplomatie zu einer ernst zu nehmenden Alternative wurde.
Aus dem schönen Plan ist leider nichts geworden. Die Taliban verweigern sich
dem Gespräch: Für sie ist die Anwesenheit Vendrells inakzeptabel, da er die
Vereinten Nationen repräsentiert, die für die über sie verhängten
internationalen Sanktionen verantwortlich sind. Sie wollen nicht
gezwungen werden, mit einem unliebsamen Gesprächspartner zu verhandeln.
Nach Aussage von Niaz Naik bringt Tom Simons in dieser Situation eine
"offene
militärische Option" gegen Afghanistan ins Spiel, und zwar von Usbekistan
und
Tadschikistan aus. Das erscheint insofern plausibel, als zwischen Usbekistan
und den Vereinigten Staaten ein militärisches Abkommen besteht. Gab es
tatsächlich eine so präzise Androhung? US-Botschafter Simons bestreitet
dies auf zwei Ebenen: Zum einen war er dort nicht in offizieller Mission
und war demnach auch nicht ermächtigt, Drohungen auszusprechen (wobei sich
die Frage stellt, ob die Taliban, wenn sie denn gekommen wären, sich
tatsächlich von einer halboffiziellen Delegation ohne Kontakt zum State
Department zu irgendetwas hätten bewegen lassen). Zum anderen habe er
lediglich erklärt, die Amerikaner untersuchten das Beweismaterial in
Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Schlachtschiff USS "Cole", und
"wenn sich herausstellen würde, daß Bin Laden dahinter steckte, habe man mit
einer Militäraktion zu rechnen". Dazu ließe sich wiederum anmerken" daß die
Amerikaner am 5. Juli eben keine Beweise in der Affäre der USS "Cole"
suchten,
weil sie zu diesem Zeitpunkt noch von der Teilnahme der Taliban an
den Verhandlungen überzeugt waren.
Ob diese Aussagen übertrieben sind oder nicht, sei dahingestellt, auf jeden
Fall werden sie von den Mitgliedern der pakistanischen Delegation ihrem
zuständigen Ministerium hinterbracht und vor allem dem Geheimdienst, der
sie,
wie man sich unschwer vorzustellen kann, seinerseits an die Taliban
weitergibt.
Ende Juli verbreiteten militärische Kreise in Islamabad Kriegsgerüchte.
Einer halboffizielleil Quelle vom Quai d'Orsay zufolge ist nicht
auszuschließen, daß der pakistanische Geheimdienst die Worte von Tom Simons
aufbauschte, um dadurch Druck auf die Taliban auszuüben und sie zu einer
Auslieferung des saudischen Milliardärs zu bewegen. Am 29. Juli kommt es zu
einer letzten erfolglosen Unterredung zwischen Christina Rocca Lind dein
Taliban-Botschafter in Pakistan. Damit sind die Verhandlungen beendet.
Ab sofort sucht das FBI aktiv nach Beweismaterial gegen Bin Laden.
Noch heute erregt eine Hypothese die Gemüter. Wäre es denkbar, daß Bin Laden
von der Kriegsbereitschaft der Amerikaner überzeugt war und sich deshalb
zum Erstschlag entschloß? Wie auch immer: Die Kommandos, die die Türmie des
World Trade Center am 11. September zerstörten, wurden erst Mitte August
aktiviert. Drei Tage nach den Anschlägen gab Unocal in einem Kommunique
bekannt, man werde das ohnehin auf Eis gelegte Pipelineprojekt vorerst
nicht weiterverfolgen und lehne es ab, mit den Taliban zu verhandeln;
womit der Sturz des Regimes in Kabul und ein politischer Machtwechsel
vorweggenommen wird. Einen Monat später beginnen die Vereinigten Staaten
mit den Bombardements. Tadschiken und Usbeken "erklären sich bereit", den
US-Streitkräften militärische Einrichtungen zur Verfügung zu stellen,
Rußland sagt den USA "spontan" alle nötige Hilfe im Kampf gegen den
Terrorismus zu, und die Anti-Taliban-Gruppierungen gelangen zu einer
Einigung. Das alles innerhalb von zwei Monaten!
Am 27. November reist US-Energieminister Spencer Abraharn mit einem Team
aus seinem Ressort nach Rußland, um im Schwarzmeerhafen Noworossisk an
der Einweihung der Erdölpipeline des Caspian Pipeline Consortium (CPC)
teilzunehmen. Die Verbindung, deren Bau 2,5 Milliarden Dollar kostete,
wurde von 8 Mineralölgesellschaften in Auftrag gegeben, darunter Chevron,
Texaco und Exxon Mobil. Ein Neuanfang in den Beziehungen zwischen Rußland
und den Vereinigten Staaten, wie Abrahain erklärt. (16) ...
Zum selben Zeitpunkt wird bei den Afghanistan-Verhandlungen auf dem Bonner
Petersberg Hamid Karsai zum Chef der afghanischen Interimsregierung
bestimmt. Karsai, so wurde bei dieser Gelegenheit bekannt, fungierte bei den
Verhandlungen über die afghanische Pipeline als Berater im Auftrag von
Unocal.(17)
dt. Matthias Wolf
-
"Pičces ŕ conviction", France 3, 18. Oktober 2001.
- Nadschibullah wurde auf äußerst grausame Weise ermordet, nachdem die
Taliban in das UNO-Gebäude eingedrungen waren.
- John J. Maresca, US House of Represeritatives, Committee On
International Relations, Subcommittee On Asia and the Pacific, 12. Februar 1998.
- In Partnerschaft mit der saudischen Delta Oil.
- Olivier Roy "DieTaliban als Wächter der Scharia und der Pipeline", Le
Monde diplomatique, November 1996.
- "Pičces ŕ conviction", a.a.O..
- Financial Times, London, 3. Oktober 1996.
- Strobe Talbott, "US policy toward Central Asia and the Caucasus", The
Central Asia Institute, Monfana (USA), 21. Juli 1997.
- UN-Sicherheitsrat, S/PRST/1998/22, New York, 14. Juli 1998,
- Ägypten, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Iran, Italien, Japan, Kasachstan, Kirgisistan, Niederlande, Pakistan, Rußland, Saudi-Arabien, Schweden, Tadschikistan, Türkei, Turkmenistan, USA und Usbekistan sowie die Organisation der Islamischen Konferenz.
- (gestrichen)
- UN-Sicherheitsrat, 3. November 2000.
- (getsrichen)
- Nancy Soderberg, US-Mission bei den Vereinten Nationen, New York, 12. Februar 2001.
- O'Neil übernahm Ende August den Posten des Sicherheitschefs im World Trade Center, wo er am 11. September umkam.
- US Department of Energy, 27. November 2001.
- Le Monde, 5. Dezember 2001.
* Pierre Abramovici ist Journalist. 2001 erschien sein Buch "Un rocher bien occupe", Paris (Seuil).
Aus: Le Monde diplomatique, Januar 2002
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