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Tod vor Aussage

Die mutmaßlichen drei Beteiligten an den Pariser Terroraktionen wurden erschossen. Sie waren alte Bekannte der Polizei

Von Knut Mellenthin *

Die Brüder Said und Chérif Kouachi, 34 und 32, die am Mittwoch die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo überfallen haben sollen, wurden am Freitag in einer Druckerei bei Paris, in der sie sich auf der Flucht verschanzt hatten, von der Polizei erschossen. Angeblich war der tödliche Zugriff unvermeidlich geworden, weil die beiden einen Arbeiter als Geisel gefangenhielten und umzubringen drohten. Das stellte sich jedoch nachträglich als Falschmeldung heraus: Der Mann befand sich ohne Wissen der Brüder zufällig im Gebäude.

Fast zeitgleich mit den Kouachis tötete ein Spezialkommando der Polizei auch den 32jährigen Amedy Coulibaly. Er hatte am Freitag in einem jüdischen Supermarkt in Paris mehrere Geiseln genommen, nachdem er zuvor schon eine Polizistin erschossen hatte. Coulibaly, der nach Polizeiangaben mit den Brüdern bekannt war, hatte anscheinend mit der Geiselnahme den freien Abzug der Kouachis aus der Druckerei erzwingen wollen. Vier Geiseln kamen im Supermarkt ums Leben. Angeblich hatte Coulibaly sie noch vor dem Zugriff des Spezialkommandos erschossen.

Damit sind die drei Menschen, die am meisten über den Hergang der Ereignisse und ihre eigene Rolle hätten aussagen können, tot. Einzige vorläufig noch überlebende »mutmaßliche Terrorkomplizin« (O-Ton Spiegel online) ist Coulibalys Ehefrau, die 26jährige Hayat Boumeddiene. Während Polizei und Medien anfangs behaupteten, sie sei an der Erschießung der Polizistin beteiligt gewesen, steht nun fest, dass sie Frankreich schon am 2. Januar mit dem Flugzeug nach Madrid verlassen hatte. Von dort soll sie nach Angaben der türkischen Regierung in die Türkei geflogen und am 8. Januar nach Syrien weitergereist sein.

Für eine Tatbeteiligung oder auch nur Mitwisserschaft der jungen Frau gibt es gegenwärtig offenbar nicht einmal Anhaltspunkte. Die »Indizien«, die Boumeddiene laut Spiegel online »schwer belasten«, sind lächerlich. So soll sie »innerhalb eines Jahres 500 Telefongespräche« mit der Ehefrau von Chérif Kouachi geführt haben. Wahrscheinlich über alles mögliche außer Terroranschläge. Das Auto, mit dem ihr Mann zur Geiselnahme fuhr, soll auf ihren Namen zugelassen sein. Und drittens sei Boumeddiene »seit mehreren Jahren bei der Polizei aktenkundig«. Allerdings nur, weil sie während Ermittlungen gegen ihren Mann routinemäßig ebenfalls verhört worden war. Dabei soll sie laut Spiegel »großes Verständnis für islamistische Attentate« geäußert haben. Letzteres ist überhaupt der einzige der aufgezählten Punkte, den man notfalls als »Indiz« betrachten könnte.

Die drei am Freitag erschossenen Männer, alle in Frankreich geboren und aufgewachsen, sind den bisherigen Angaben zufolge alte Bekannte der Polizei. Chérif Kouachi wurde im Januar 2005 verhaftet, weil er angeblich zur Unterstützung des Kampfes gegen die US-Besatzung in den Irak reisen wollte. Um viel mehr als Pläne handelte es sich anscheinend nicht. Seine Verhaftung ist vor allem ein klares Anzeichen, dass die Gruppe, die Kämpfer für den Irak anzuwerben vorgab und in der sich auch der ältere Bruder betätigt haben soll, das Buttes-Chaumont-Netzwerk, von Polizei und Geheimdienst unterwandert war. Chérif Kouachi wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, aber die Hälfte der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Im Gefängnis soll er die Bekanntschaft von Djamel Beghal gemacht haben, der von Polizei und Medien als »Mentor« der beiden Brüder bezeichnet wird. Beghal war verurteilt worden, weil er an der Planung eines Überfalls auf die amerikanische Botschaft in Paris beteiligt gewesen sein soll.

Auch Coulibaly war der Polizei angeblich seit langem durch seine Mitarbeit im Buttes-Chaumont-Netzwerk bekannt. Im Jahr 2010 wurde er unter dem Vorwurf festgenommen, er sei an einer geplanten – nicht ausgeführten – Gefangenenbefreiung beteiligt gewesen. Er wurde deswegen im Dezember 2013 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Da er schon mehrere Jahre Untersuchungshaft hinter sich hatte, kam er im Herbst 2014 wieder frei.

Die Geschichte der drei getöteten Männer liefert eindeutige Beweise für die hochgradige Unterwanderung islamistischer Strukturen und potentieller krimineller Kerne durch Frankreichs Polizei und Geheimdienst, möglicherweise zudem auch durch ausländische Dienste. In den USA standen die Kouachi-Brüder auf der Liste der Personen, die nicht einreisen dürfen.

Hintergrund: Polizei-Gerüchte

Zu den zahlreichen Seltsamkeiten der Pariser Anschläge in der letzten Woche gehört der »dritte Mann«, der nach ersten Berichten an dem Überfall auf die Redaktion von Charlie Hebdo beteiligt gewesen sein soll. Die Rede ist hier nicht von Pressegerüchten, sondern von offiziellen Verlautbarungen. So verbreitete zum Beispiel der französische Innenminister Bernard Cazeneuve zunächst, dass die beiden Brüder Chérif und Said Kouachi einen Komplizen gehabt hätten, der das Fluchtauto gefahren habe.

Die Polizei gab sogar den Namen und das Alter des angeblichen »dritten Täters« bekannt: Es handele sich um den 18jährigen Hamid Mourad. Spiegel online titelte »Zwei Brüder und ein Obdachloser« und berief sich bei seiner Behauptung, dass der junge Mann obdachlos sei, auf Polizeiangaben. Hätte Mourad auf die öffentlichen Meldungen, dass er zur Fahndung in der Mordsache Charlie Hebdo ausgeschrieben sei und dass ein riesiges Polizeiaufgebot nach ihm suche, mit panikartiger Flucht reagiert, wäre er jetzt wahrscheinlich ebenfalls tot.

Statt dessen ging der 18jährige, der keineswegs »obdachlos« ist, sondern zusammen mit seiner Familie lebt und regelmäßig eine Oberschule besucht, zur nächsten Polizeiwache und erklärte, dass er am Tag der Tat ganz normal am Unterricht teilgenommen habe. Seine Mitschüler konnten das bezeugen, und es bildete sich sogar eine Internetinitiative zu seiner Unterstützung.

Abgesehen davon, dass Mourad eine Nacht im Polizeigewahrsam verbringen musste, scheint der Schaden begrenzbar. Bisher sahen sich aber weder Polizei noch Politiker veranlasst aufzuklären, wie es zu den schweren Vorwürfen gegen den Schüler und zu einer öffentlichen Fahndung kommen konnte. Zumal wenn, wie es nun scheint, überhaupt kein dritter Mann am Überfall auf Charlie Hebdo beteiligt war, sondern die Berichte über einen Fahrer nur durch falsche Zeugenaussagen entstanden waren. Die haltlose Verdächtigung Mourads, der nach übereinstimmenden Presseangaben noch nie »polizeiauffällig« geworden war, beruhte offenbar einzig und allein auf dem Umstand, dass er eine Schwester hat, die mit einem der Kouachi-Brüder verheiratet ist. Die Schwester gehörte übrigens zu den mindestens sieben Personen, die die französische Polizei nach dem Überfall auf Charlie Hebdo erst einmal ohne konkrete Verdachtsgründe in Haft nahm. (km)



* Aus: junge Welt, Dienstag, 13. Januar 2015


Die "jemenitische Spur"

Zu den Terrorakten in Frankreich gab es auch am Montag noch keine "Bekennererklärung" irgendeiner Organisation

Von Knut Mellenthin **


Zu den Terrorakten in Frankreich gab es auch am Montag noch keine »Bekennererklärung« irgendeiner Organisation. Die Mainstreammedien bevorzugen es, die Brüder Chérif und Said Kouachi, die vermutlich zehn Mitarbeiter des Satiremagazins Charlie Hebdo und zwei Polizisten ermordeten, mit dem Jemen und der dort tätigen »Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel« (englische Abkürzung: AQAP) in Verbindung zu bringen. Während es zunächst nur hieß, dass der ältere der beiden, Said, dort im Jahr 2011 einige Wochen zur Ausbildung gewesen sei, wurde am Montag berichtet, dass die Brüder zusammen dort gewesen seien. Unter Berufung auf zwei anonyme jemenitische Funktionäre meldete die Nachrichtenagentur Reuters, dass die Kouachis am 25. Juli 2011 nach Oman geflogen und von dort in den Jemen geschmuggelt worden seien. Sie hätten dort den aus den USA stammenden Prediger Anwar Al-Awlaki getroffen, seien drei Tage lang an Schusswaffen ausgebildet worden und seien am 15. August 2011 über Oman nach Paris zurückgekehrt.

Das Wichtigste an diesen Behauptungen ist der Name Awlakis. Für die Pariser Mordtaten der letzten Woche kann man ihn kaum direkt verantwortlich machen, da er schon am 30. September 2011 durch Raketen einer US-amerikanischen Drohne getötet wurde. Aber Präsident Barack Obama wird trotzdem für alles dankbar sein, was auch nur entfernt geeignet sein könnte, Awlaki mit konkreten Terrorakten in Zusammenhang zu bringen. Denn schließlich wurde der Mann nicht nur im Bundesstaat New Mexiko als Sohn jemenitischer Eltern geboren, sondern war auch Staatsbürger der USA. Als solcher stand er unter dem Schutz der amerikanischen Verfassung, die es verbietet, einen Bürger ohne Gerichtsurteil hinzurichten. Gegen Awlaki fand kein Prozess statt, es wurde niemals Anklage gegen ihn erhoben, und es wird ihm nicht einmal die Beteiligung an konkreten Taten beweiskräftig zugeschrieben.

Unklar bleibt beim aktuellen Stand, zu welchem Zweck die Kouachi-Brüder in den Jemen gereist sein sollen. Ein Händedruck von Awlaki, verbunden mit einem Crashkurs im Abfeuern einer Kalaschnikow, ist als Begründung etwas mager. Dagegenzuhalten ist das Risiko, durch solche Trips die verstärkte Aufmerksamkeit nicht nur der französischen Polizei, sondern auch internationaler Geheimdienste auf sich zu ziehen.

Einige Medien berichteten am Freitag, dass eine anonyme »Quelle innerhalb von Al-Qaida« eine Erklärung zum Überfall auf die Charlie-Hebdo-Redaktion abgegeben habe. Demzufolge habe die AQAP-Führung »die Operation geleitet«. Sie habe »ihr Ziel sorgfältig ausgesucht als Rache für die Ehre des Propheten«. Frankreich sei »vor allem wegen seiner Rolle im Krieg gegen den Islam und die unterdrückten Nationen« gewählt worden. Hinzugefügt war der rätselhafte Hinweis des anonymen Informanten, dass AQAP mit dieser Erklärung »aus Rücksicht auf die Sicherheit der Ausführenden der Operation« gewartet habe. Die Stellungnahme wurde offenbar erst nach der Erschießung der beiden Brüder durch die Polizei abgegeben.

Eine offizielle Bestätigung der AQAP gibt es für diese angebliche »Bekennererklärung« jedoch nicht. Der dritte Tatbeteiligte, Amedy Coulibaly, der während der Flucht der Kouachis einen jüdischen Supermarkt überfiel, hatte zuvor ein Video aufgenommen, in dem er dem Führer des »Islamischen Staates« (IS) Gefolgschaft gelobte. Das passt, da die verschiedenen Taten anscheinend miteinander koordiniert waren, nicht zur »jemenitischen Spur«. An dieser ist jedoch die US-Regierung interessiert: Sie betont im Widerspruch zu den offensichtlichen Fakten ständig, dass Al-Qaida zwar durch die amerikanischen Bombenangriffe schwer angeschlagen, aber trotzdem nicht weniger gefährlich als der IS sei. Und der gefährlichste Teil von Al-Qaida sei der jemenitische Zweig, AQAP. Dafür fehlt es jedoch bisher an praktischen Beweisen.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 13. Januar 2015


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