Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eingegrabene Schaltungen

Am Sonntag (1. August) wäre der französische Soziologe Pierre Bourdieu achtzig Jahre alt geworden. Wissenschaft und Engagement sind in seinem Lebenswerk nicht voneinander zu trennen

Von Anja Trebbin *

Der 2002 verstorbene Wissenschaftler besaß bereits zu Lebzeiten enorme Bedeutung innerhalb seines Fachgebietes. Durch das politische Engagement (etwa die Kooperation mit der Gewerkschaft CFDT, die Gründung der Gruppe Raisons d'agir, die Beteiligung an den Massenprotesten 1995), dem Pierre Bourdieu sich während der letzten zehn Jahre seines Lebens verschrieben hatte, wurde er aber auch über akademische Kreise hinaus bekannt.

Während Max Weber, der das Denken Bourdieus maßgeblich beeinflußt hat, für eine strikte Trennung von Wissenschaft und Politik votiert, sieht Bourdieu gerade den Wissenschaftler zur politischen Intervention berufen. Wissenschaft muß, um nach Bourdieu diesen Namen zu verdienen, um ihrer selbst willen betrieben werden. Der Wissenschaftler hat sich allein universellen Werten wie Wahrheit und Vernunft zu verpflichten, ohne sich von ökonomischen Verlockungen oder dem Streben nach Ruhm ablenken zu lassen. Und weil Wissenschaftler so immer schon mit der Verwirklichung von Zielen beschäftigt sind, die außerhalb der ökonomischen Verwertungslogik liegen, sind sie nach Bourdieu prädestiniert, in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen das Wort zu ergreifen und auch dort ohne Rücksicht auf Popularität und Profitabilität für die Durchsetzung von Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit zu streiten.

Wissenschaft und Politik sind damit nach Bourdieu latent miteinander verknüpft. Das zu betonen ist wichtig, da es in der Bourdieu-Rezeption immer wieder Versuche gegeben hat, seine Ideen zu entpolitisieren und bequem auf den Status eines kultur- und wissenssoziologischen Theoriekomplexes zu reduzieren.

Die Untersuchung gesellschaftlicher Prozesse, von Machtfluktuationen und dem Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten ist für Bourdieu von geringem Nutzen, wenn ihre Ergebnisse im akademischen Elfenbeinturm eingeschlossen bleiben. Von Beginn an ging es ihm darum, durch seine wissenschaftliche Tätigkeit den benachteiligten Akteuren begriffliche Instrumente zu liefern, mit deren Hilfe sie ihre Situa­tion durchschauen könnten. Durchschauen- und auf dieser Basis schließlich ändern. Den Menschen eine Stimme zu leihen, die sonst nicht gehört werden- Bourdieus Motivation seines gesamten akademischen Wirkens. Das ist der Hintergrund, vor dem seine berühmt gewordenen Begriffe - Habitus, Feld, symbolische Macht etc. - verstanden werden müssen.

Auf die Wurzeln seiner Sensibilität für gesellschaftliche Ausgrenzung, Demütigung und Unterdrückung verweist Bourdieu u.a. in seinem letzten Werk (»Ein soziologischer Selbstversuch«), mit dem er eine soziologische Objektivierung des eigenen Werdegangs vornimmt. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen - der Vater Postangestellter, die Mutter Hausfrau - hatte er immer mit dem Gefühl der Fremdheit zu kämpfen. Auf dem Gymnasium und später auf der Universität war er stets von Angehörigen der oberen Klassen umgeben. Einerseits war er, gerüstet mit Bildung und überragenden intellektuellen Fähigkeiten, zu ihnen aufgestiegen, andererseits doch immer noch ein Sohn des Kleinbürgertums. Der daraus resultierende »gespaltene Habitus« schärfte seinen Blick für die alltäglichen, symbolischen Formen des Klassenkampfes, für all die kleinen, unauffälligen Abgrenzungen, mit denen die gehobenen Klassen der sogenannten Unterschicht Minderwertigkeit und damit die Naturwüchsigkeit ihrer unterworfenen Position suggerieren.

Warum dulden, ja akzeptieren die Beherrschten ihre Situation? Es ist ein Verdienst Bourdieus, im Anschluß an Marx und zugleich in kritischem Abstand zu ihm, Folgendes klargemacht zu haben: Marx' Erklärungsansatz des notwendig falschen Bewußtseins geht nicht tief genug, um das Verharren der Menschen in ihren Verhältnissen verständlich machen zu können. Nach Bourdieu entsteht eine gesellschaftliche Ordnung nämlich nicht primär vermittelt durch Bewußtseinsprozesse, sondern durch die Herstellung einer vorbewußten Dimension von alltäglichen Gewohnheiten und Ritualen, die sich tief in die Körper der Unterworfenen einprägen. Darum ist es auch so schwer, Herrschaftsverhältnisse zu durchschauen und zu demontieren. Herrschaft wird inkorporiert, zur zweiten Natur gemacht: »Die politische Unterwerfung ist in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben. Das Vokabular der Herrschaft ist voll von Körpermetaphern: einen Bückling machen, zu Kreuze kriechen, sich aalglatt zeigen, sich beugen, etc.« Damit erscheint der Körper als »Stütze der tief vergrabenen Schaltungen (...), in denen sich eine gesellschaftliche Ordnung dauerhaft verankert.« Politische Aufklärung, die dieser tiefen Verwurzelung nicht Rechnung trägt, wird nach Bourdieu wenig erfolgreich sein.

Es ist die Aufgabe der Linken, Bourdieus Erkenntnisse zu bewahren. Ein unkritisches Epigonentum aber wäre nicht in seinem Sinn. Die lebendige Diskussion, die kreative Anwendung und Fortentwicklung seiner Begriffe - das sind Herausforderungen, die politisch engagierte Akteure nicht der akademischen Soziologie allein überlassen sollten.

* Aus: junge Welt, 31. Juli 2010


Zurück zur Seite "Politische Theorie"

Zur Seite "Friedenswissenschaft"

Zurück zur Homepage