Eingegrabene Schaltungen
Am Sonntag (1. August) wäre der französische Soziologe Pierre Bourdieu achtzig Jahre alt geworden. Wissenschaft und Engagement sind in seinem Lebenswerk nicht voneinander zu trennen
Von Anja Trebbin *
Der 2002 verstorbene Wissenschaftler besaß bereits zu Lebzeiten enorme
Bedeutung innerhalb seines Fachgebietes. Durch das politische Engagement
(etwa die Kooperation mit der Gewerkschaft CFDT, die Gründung der Gruppe
Raisons d'agir, die Beteiligung an den Massenprotesten 1995), dem Pierre
Bourdieu sich während der letzten zehn Jahre seines Lebens verschrieben
hatte, wurde er aber auch über akademische Kreise hinaus bekannt.
Während Max Weber, der das Denken Bourdieus maßgeblich beeinflußt hat,
für eine strikte Trennung von Wissenschaft und Politik votiert, sieht
Bourdieu gerade den Wissenschaftler zur politischen Intervention
berufen. Wissenschaft muß, um nach Bourdieu diesen Namen zu verdienen,
um ihrer selbst willen betrieben werden. Der Wissenschaftler hat sich
allein universellen Werten wie Wahrheit und Vernunft zu verpflichten,
ohne sich von ökonomischen Verlockungen oder dem Streben nach Ruhm
ablenken zu lassen. Und weil Wissenschaftler so immer schon mit der
Verwirklichung von Zielen beschäftigt sind, die außerhalb der
ökonomischen Verwertungslogik liegen, sind sie nach Bourdieu
prädestiniert, in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen das Wort zu
ergreifen und auch dort ohne Rücksicht auf Popularität und
Profitabilität für die Durchsetzung von Wahrheit, Vernunft und
Gerechtigkeit zu streiten.
Wissenschaft und Politik sind damit nach Bourdieu latent miteinander
verknüpft. Das zu betonen ist wichtig, da es in der Bourdieu-Rezeption
immer wieder Versuche gegeben hat, seine Ideen zu entpolitisieren und
bequem auf den Status eines kultur- und wissenssoziologischen
Theoriekomplexes zu reduzieren.
Die Untersuchung gesellschaftlicher Prozesse, von Machtfluktuationen und
dem Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten ist für Bourdieu von
geringem Nutzen, wenn ihre Ergebnisse im akademischen Elfenbeinturm
eingeschlossen bleiben. Von Beginn an ging es ihm darum, durch seine
wissenschaftliche Tätigkeit den benachteiligten Akteuren begriffliche
Instrumente zu liefern, mit deren Hilfe sie ihre Situation durchschauen
könnten. Durchschauen- und auf dieser Basis schließlich ändern. Den
Menschen eine Stimme zu leihen, die sonst nicht gehört werden- Bourdieus
Motivation seines gesamten akademischen Wirkens. Das ist der
Hintergrund, vor dem seine berühmt gewordenen Begriffe - Habitus, Feld,
symbolische Macht etc. - verstanden werden müssen.
Auf die Wurzeln seiner Sensibilität für gesellschaftliche Ausgrenzung,
Demütigung und Unterdrückung verweist Bourdieu u.a. in seinem letzten
Werk (»Ein soziologischer Selbstversuch«), mit dem er eine soziologische
Objektivierung des eigenen Werdegangs vornimmt. Aufgewachsen in
einfachen Verhältnissen - der Vater Postangestellter, die Mutter
Hausfrau - hatte er immer mit dem Gefühl der Fremdheit zu kämpfen. Auf
dem Gymnasium und später auf der Universität war er stets von
Angehörigen der oberen Klassen umgeben. Einerseits war er, gerüstet mit
Bildung und überragenden intellektuellen Fähigkeiten, zu ihnen
aufgestiegen, andererseits doch immer noch ein Sohn des Kleinbürgertums.
Der daraus resultierende »gespaltene Habitus« schärfte seinen Blick für
die alltäglichen, symbolischen Formen des Klassenkampfes, für all die
kleinen, unauffälligen Abgrenzungen, mit denen die gehobenen Klassen der
sogenannten Unterschicht Minderwertigkeit und damit die Naturwüchsigkeit
ihrer unterworfenen Position suggerieren.
Warum dulden, ja akzeptieren die Beherrschten ihre Situation? Es ist ein
Verdienst Bourdieus, im Anschluß an Marx und zugleich in kritischem
Abstand zu ihm, Folgendes klargemacht zu haben: Marx' Erklärungsansatz
des notwendig falschen Bewußtseins geht nicht tief genug, um das
Verharren der Menschen in ihren Verhältnissen verständlich machen zu
können. Nach Bourdieu entsteht eine gesellschaftliche Ordnung nämlich
nicht primär vermittelt durch Bewußtseinsprozesse, sondern durch die
Herstellung einer vorbewußten Dimension von alltäglichen Gewohnheiten
und Ritualen, die sich tief in die Körper der Unterworfenen einprägen.
Darum ist es auch so schwer, Herrschaftsverhältnisse zu durchschauen und
zu demontieren. Herrschaft wird inkorporiert, zur zweiten Natur gemacht:
»Die politische Unterwerfung ist in die Haltung, die Falten des Körpers
und die Automatismen des Gehirns eingegraben. Das Vokabular der
Herrschaft ist voll von Körpermetaphern: einen Bückling machen, zu
Kreuze kriechen, sich aalglatt zeigen, sich beugen, etc.« Damit
erscheint der Körper als »Stütze der tief vergrabenen Schaltungen (...),
in denen sich eine gesellschaftliche Ordnung dauerhaft verankert.«
Politische Aufklärung, die dieser tiefen Verwurzelung nicht Rechnung
trägt, wird nach Bourdieu wenig erfolgreich sein.
Es ist die Aufgabe der Linken, Bourdieus Erkenntnisse zu bewahren. Ein
unkritisches Epigonentum aber wäre nicht in seinem Sinn. Die lebendige
Diskussion, die kreative Anwendung und Fortentwicklung seiner Begriffe -
das sind Herausforderungen, die politisch engagierte Akteure nicht der
akademischen Soziologie allein überlassen sollten.
* Aus: junge Welt, 31. Juli 2010
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