Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Grenzen demokratischen Rechts?

Die Entsendeentscheidungen zum Irakkrieg in Großbritannien, den USA und Spanien

Oliver Eberl, Andreas Fischer-Lescano, Grenzen demokratischen Rechts? Die Entsendeentscheidungen zum Irakkrieg in Großbritannien, den USA und Spanien, HSFK-Reports Nr 8/2005, Frankfurt/M.; ISBN 3-937829-21-0


Kurzbeschreibung
Die Debatte um den Irakkrieg spaltete die demokratischen Staaten. Die Gegner verweigerten eine Beteiligung, während die so genannte Koalition der Willigen Truppen entsandte. Letztere führte vor allem moralische und Sicherheitsgründe ins Feld, mit denen sie auch in der eigenen Bevölkerung um Zustimmung warb. Dennoch hatten die gewählten Repräsentanten der Bevölkerung, das Parlament, in vielen Fällen kein Mitspracherecht.
Dies kritisieren Oliver Eberl und Andreas Fischer-Lescano. Sie gehen von Immanuel Kants Demokratie- und Verfassungstheorie aus, die das moderne demokratische Staatsdenken begründet, und untersuchen die Entscheidungsprozesse zur Truppenentsendung in drei Demokratien: Großbritannien, Spanien und den USA. Nach Kant müssten in Demokratien drei wesentliche Prinzipien eingehalten werden. Erstens dürfen Regierungen nicht im Alleingang über Militäreinsätze entscheiden, zweitens müssen ihre Entscheidungen im Einklang mit nationalen Gesetzen und dem Völkerrecht sein und drittens muss die gerichtliche Kontrolle über die Einhaltung dieser Anforderungen ermöglicht sein.
In allen drei untersuchten Demokratien zeigt sich, dass militärische Entsendeentscheidungen unter Missachtung der genannten Grundsätze getroffen werden können und wurden. Zumindest in Spanien ist jedoch nach der letzten Wahl Bewegung in die verfassungsrechtliche Debatte gekommen. Dort hat ein Gesetzesentwurf die ersten Hürden genommen, der die Zustimmungspflicht des Parlaments zu Auslandseinsätzen des Militärs vorsieht. Sollte dieses Gesetz in Kraft treten, wäre dies ein wichtiger Schritt beim Abbau von Demokratiedefiziten.


Inhalt

1. Einleitung
2. Kants Rechtspazifismus
2.1 Rechtslehre als Friedenslehre
2.2 Pflicht zum Recht
2.3 Bewertungskriterien der Demokratisierung und Verrechtlichung militärischer Entsendeentscheidungen
3. Ius contra bellum
3.1 Das völkerrechtliche Gewaltverbot
3.1.1 Rechtfertigungsversuche für den Irakkrieg
3.1.2 Ermächtigungsgrenzen der Resolutionen des Sicherheitsrats
3.2 Undemokratische militärische Entsendeentscheidungen
3.2.1 Großbritannien
3.2.2 Vereinigte Staaten
3.2.3 Spanien
4. Fazit


Zusammenfassung

Kants Demokratie- und Verfassungstheorie begründet das moderne demokratische Staatsdenken. Sie bildet darum zu Recht den Referenzpunkt der Forschungen zum Demokratischen Frieden. Im Folgenden werden die Entscheidungsprozesse in Großbritannien, Spanien und den USA im Hinblick auf eine Beteiligung an den militärischen Auseinandersetzungen im Irak an Immanuel Kants Modell des demokratischen Rechtspazifismus gemessen. Wendet man die Kantischen Kriterien für demokratische Republiken auf die modernen Demokratien an und beurteilt in diesem Licht den Zustand der demokratischen Verregelung der Wehrsysteme, erweisen sich strukturelle Demokratiedefizite. Das Kantische Theorem verlangt insbesondere (1) die demokratische Rückbindung einer jeden konkreten militärischen Entsendeentscheidung, (2) eine vollständige rechtliche Kontrolle über die Exekutive, (3) die Inkorporation und Operationalisierung völkerrechtlicher Regeln. Im Hinblick auf diese drei Regelungsbereiche ergibt sich für alle drei der hier untersuchten Rechtsordnungen, dass sie von einer Annäherung an umfassende demokratische Verrechtlichung aller Entsendeentscheidungen noch weit entfernt sind:

In Großbritannien gibt es keine konstitutive Parlamentsbeteiligung bei Entsendeentscheidungen. Entsendeentscheidungen fallen in den Bereich einer tradierten royal prerogative. Als solche sind sie rechtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Eine Bindung der britischen Staatsgewalten an nationales Recht und an Völkerrecht wird von britischen Gerichten für die auswärtige Gewalt nur sehr eingeschränkt judiziert. Während Kants Rechtslehre impliziert, dass die Staatsgewalt ans demokratische Recht des Souveräns zu binden sind, fällt auswärtige Politik und die Entscheidung über Krieg und Frieden in Großbritannien in den exklusiven Bereich der Exekutive, die ihre außenpolitische Handlungsfreiheit von der Krone ableitet.

Auch in den USA ist wirksame und konstitutive parlamentarische Kontrolle militärischer Einsätze bislang unrealisiert. In den wenigen Fällen, in denen der Kongress eine Autorisierung zum Gewalteinsatz beschlossen hat, genügt deren Form den Anforderungen des Kantischen Modells nicht, da es sich um von der Exekutive als deklaratorisch verstandene Zustimmungen handelt, die in der Regel als unbestimmte Vorratsbeschlüsse gefasst werden. Die rechtliche Kontrolle sowohl des Verhältnisses Exekutive – Legislative als auch hinsichtlich der Einhaltung völkerrechtlicher Normen ist nur eingeschränkt möglich. Die political questions-Doktrin verbunden mit der Verpflichtung zu judicial selfrestraint räumt den Staatsgewalten gerade im sensiblen Bereich militärischer Entsendeentscheidungen Rechtsfreiräume ein, die demokratischen und rechtlichen Anforderungen nicht genügen, da sie den Geltungsbereich des demokratischen Rechts beschneiden. Eine konstitutive Parlamentsentscheidung über die Beteiligung am Irakkonflikt hat es auch in Spanien nicht gegeben. Der Völker- und Verfassungsrechtsbruch der spanischen Exekutive im Irakkrieg ist ohne rechtliche Folgen geblieben. Hohe prozessuale Hürden versperren den Weg zu den Gerichten. Nachdem die Regierung Aznar im Zuge der von einem Bombenanschlag überschatteten Parlamentswahlen ihre Mehrheit verloren hat, ist allerdings Bewegung in die verfassungsrechtliche Debatte über die Entsendeentscheidungen gekommen. Der Ministerrat hat sich auf einen Gesetzentwurf verständigt, der eine Aufwertung parlamentarischer Mitbestimmungsrechte vorsieht und alle militärischen Auslandseinsätze der parlamentarischen Zustimmungspflicht unterwirft. Sollte das Gesetz in Kraft treten und die Entscheidungsprozesse tatsächlich demokratisieren, wäre dies eine wichtige Stärkung verfassungsrechtlicher Parlamentsrechte.

Insgesamt ergibt sich, dass der Nexus des Kantischen Rechtspazifismus von Frieden, Volkssouveränität und Recht weitaus intensivere demokratische Rückbindungen der militärischen Entsendeentscheidungen verlangt, als sie aktuell in den genannten Staaten realisiert sind. In den hier untersuchten Staaten Spanien, Großbritannien und den USA manifestiert die Militärintervention im Irak, dass die demokratische Verregelung der Demokratien Desiderat bleibt.


4. Fazit*

Das Gesamtbild der dargestellten Rechtslage in den Rechtsordnungen des Trío de las Azores ist in der Perspektive von Kants Friedenstheorem ernüchternd. Es fehlen zahlreiche Grundlagen des rechtspazifistischen Modells. In den Rechtssystemen aller drei Staaten ist die Durchführung eines völkerrechtswidrigen Gewalteinsatzes im Irak folgenlos geblieben. Wirksame und konstitutive parlamentarische Zustimmung zu militärischen Konflikten ist in allen drei Staaten ein Desiderat; einzig in Spanien ist nach dem Irakkrieg eine Aufwertung parlamentarischer Mitbestimmungsrechte in Form einer Gesetzesinitiative in Angriff genommen worden. Political questions-Doktrin, judicial self-restraint (USA), royal prerogative (Großbritannien) und hohe prozedurale Hürden (Spanien) versperren den Weg zu den nationalen Gerichten und räumen den Exekutiven einen Bereich rechtlichen Vakuums ein.

Die Kriegsentscheidungen in den genannten Demokratien stellen somit nicht lediglich atypische Unfälle exzessiver Machtusurpation einzelner Regierungen dar, sondern spiegeln sich in strukturellen Problemen der nationalen Rechtsordnungen. In weiten Teilen dieser Demokratien sind Verselbständigungstendenzen der Exekutiven festzustellen, deren demokratische Verregelung Desiderat bleibt.158 Diese „Grenzen des Rechts“ darf es im demokratischen Rechtssaat nicht geben, auch wenn realpolitische Glaubenssätze, wie sie zum Beispiel Henry Kissinger in seiner berüchtigten Polemik zum Ausdruck gebracht hat, das Recht gegen die Politik auszuspielen suchen: „Die Aufgabe des Staatsmannes ist es, die beste Option zu wählen, wenn es darum geht, Frieden und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Er muss dabei stets bedenken, dass es zwischen diesen beiden Prinzipien eine Spannung gibt und dass jede Abwägung parteilich ist“. Praktische Völkerrechtspolitik der „Demokratien“ kann Projekte, die gewaltsame Regimewechsel, Zwangsdemokratisierungsmaßnahmen und humanitäre Interventionen propagieren, in keinem Fall mit dem Theorem des Aufklärers legitimieren. Wer Kants Friedensschrift in konkrete Völkerrechtspraxis transformieren möchte, darf nicht die Demokratie am Hindukusch und zwischen Euphrat und Tigris verteidigen, sondern muss auf eine Demokratisierung der „Demokratien“ drängen.

Die Kantische Friedensschrift sucht, Realpolitik in demokratische Friedenspolitik zu überführen. Das verlangt statt auf Partialinteressen abstellender Interventionspropaganda die demokratische Rückbindung einer jeden kriegsrelevanten Entscheidung, die vollständige Verregelung der Exekutiven und eine wirkmächtige Umsetzung des Völkerrechts in nationalen Rechtsordnungen. Damit ist zugleich die Agenda für friedensgeneigte Politik benannt: Demokratische Beteiligungsrechte bei Entsendeentscheidungen sind sowohl auf nationaler als auch auf entstehender europäischer und auf internationaler Ebene zu stärken. Den Begrenzungen des demokratischen Rechts ist gegen zu wirken. Das gilt auch für Entsendeentscheidungen der Bundesrepublik. Die vom NATO-Rat immer wieder angemahnte zeitnahe Einsatzfähigkeit deutscher Truppen darf nicht das demokratische Recht aushebeln. Der neue Rechtsrahmen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes darf in keinem Fall zu einer Aushöhlung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts führen. Dass diesbezüglich auch in der Bundesrepublik ein ständiger Kampf ums demokratische Recht stattfindet, manifestiert nicht zuletzt der Irakkonflikt. Zwar hat die Bundesregierung öffentlichkeitswirksam eine Beteiligung an der militärischen Auseinandersetzung abgelehnt. Sie hat aber dennoch durch die Übersendung von AWACS-Aufklärern in die Türkei einen Beitrag zu einem bewaffneten Konflikt geleistet, ohne die dazu verfassungsrechtlich gebotene Zustimmung des Bundestags einzuholen. Sie hat ferner durch die Gewährung von Überflugsrechten und den Schutz von US-Kasernen völkerrechtliche Neutralitätspflichten verletzt. Während die Strafanzeigen wegen einer Beteiligung an einem Angriffskrieg (§ 80 des Strafgesetzbuchs) gegen Mitglieder der Bundesregierung vom Generalbundesanwalt mit zweifelhafter Begründung eingestellt worden sind, werden weiterhin dutzende Prozesse vor den deutschen Strafgerichten wegen Protest- und Widerstandshandlungen gegen den Irakkrieg und die Besatzung geführt.

Ein Lichtblick im deutschen Recht stellt hier die Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht aus dem Juli 2005 dar. Das Gericht hat anlässlich eines wehrrechtlichen Disziplinarverfahrens festgestellt, dass gegen den Irakkrieg und die diesbezüglichen deutschen Unterstützungshandlungen in völkerrechtlicher Hinsicht gravierende Bedenken vorliegen. Weder das Selbstverteidigungsrecht noch die Beschlüsse des Sicherheitsrats hätten einen Militäreinsatz gerechtfertigt. Die durch die Bundesrepublik erfolgte Gewährung von Überflugsrechten, der Schutz US-amerikanischer Kasernen und die Beteiligung an AWACS-Aufklärungsflügen über dem Territorium der Türkei habe die völkerrechtlichen Neutralitätsregeln verletzt. Es ist darüber hinaus zu hoffen, dass auch das Bundesverfassungsgericht in dem seit zwei Jahren anhängigen Verfahren wegen der AWACSEinsätze in der Türkei die parlamentarischen Rechte nicht weiter beschneidet und die prozedurale Kontrollfunktion weiter intensiviert. Wenn man die verfassungsrechtlichen Vorgaben ernst nimmt, sind nicht nur die AWACS-Einsätze im Irakkonflikt sondern auch Antiterrormaßnahmen in Afghanistan, sofern sie sich nicht auf die ISAF-Mission sondern die Mission Enduring Freedom beziehen, äußerst zweifelhaft.

Auch in der Bundesrepublik bleibt darum das Kantische Projekt „Friedenspolitik als demokratische Rechtspolitik“ ständige Aufgabe. Es gilt, die demokratische Prozeduralisierung des Verhältnisses von Parlament und Exekutive, die demokratische und gerichtliche Kontrollmöglichkeit von militärischen Entsendeentscheidungen und die Geltung des Friedensvölkerrechts in der bundesdeutschen Rechtsordnung, insgesamt also die demokratische Verrechtlichung des Wehrrechtssystems, voranzutreiben. Im demokratischen Rechtstaat darf es keine Grenzen des demokratischen Rechts geben. Rechtsfreie Räume abzubauen und den Verselbständigungstendenzen der Exekutive entgegenzuwirken, ist darum der Kantische Auftrag, dessen Ziel die demokratische Konstitutionalisierung der Wehrrechtssysteme darstellt. Das ist keine a priori unerreichbare Utopie sondern bedarf „einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung“.

* Auf die Wiedergabe des umfangreichen Anmerkungsapparats wurde hier verzichtet.

Der Report kann bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) bestellt werden (6,- EUR):
HSFK
Leimenrode 29
60322 Frankfurt
Telefon: +49(0)69/959104-0; Fax: +49(0)69/558481
Internet: www.hsfk.de


Zurück zur Seite "Politische Theorie"

Zur Irak-Seite

Zurück zur Homepage