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Er war wahrlich nicht nur die zweite Violine

Zum 190. Geburtstag von Friedrich Engels

Von Peer Kösling *

Während Karl Marx dank der Turbulenzen, die den Kapitalismus in den letzten Jahren erfasst haben, wieder in vieler Munde ist, gilt das für Friedrich Engels, der vor 190 Jahren, am 28. November 1820 in einer Barmener pietistischen Fabrikantenfamilie geboren worden ist, nicht im gleichen Maße. Das ist nachvollziehbar, da es Marx war, der versucht hat, die kapitalistische Ökonomie und Gesellschaft von seinem materialistischen Geschichtsverständnis aus zu analysieren und ihre grundlegenden Perspektiven zu prognostizieren.

Sowohl an der Herausbildung dieser Weltsicht als auch an ihrer Popularisierung war Engels im erheblichen Maße beteiligt. Sein klassisches Jugendwerk »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« von 1845 steht für das Eine. Zu dem Anderen gehören seine Mitarbeit am »Kommunistischen Manifest«, seine getarnten Rezensionen zum ersten Band des »Kapitals«, die Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Marxschen Hauptwerkes, eine Reihe von aktualisierenden Vorworten und Einleitungen zu Neuausgaben sowie seine zahlreichen »Altersbriefe« und Grußbotschaften, mit denen er auf die sich ausbreitende internationale Arbeiterbewegung einwirkte.

Dabei war Engels sich immer im Klaren darüber, dass »der größte Teil der leitenden Grundgedanken, besonders auf ökonomischem und geschichtlichem Gebiet, und speziell ihre schließliche scharfe Fassung« von Marx herrührten. (MEW, Bd. 21, S. 291 f., Fußn.) Seine Arbeitsteilung mit Marx umriss er einmal so: »Infolge der Theilung der Arbeit, die zwischen Marx und mir bestand, fiel es mir zu, unsere Ansichten in der periodischen Presse, also namentlich im Kampf mit gegnerischen Ansichten, zu vertreten, damit Marx für die Ausarbeitung seines großen Hauptwerks Zeit behielt. Ich kam dadurch in die Lage, unsere Anschauungsweise meist in polemischer Form, im Gegensatz zu anderen Anschauungsweisen, darzustellen.« (MEGA I/31, S. 21 f.)

Als Engels sich nach Marx' Tod gezwungen sah, auch dessen Part mit zu übernehmen, war er sich der damit für ihn verbundenen Probleme durchaus bewusst: »Das Pech ist ..., daß ich, seit wir Marx verloren, ihn vertreten soll. Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite Violine spielen, und glaube auch, meine Sache ganz passabel gemacht zu haben ... Wenn ich nun aber plötzlich in Sachen der Theorie Marx' Stelle vertreten und erste Violine spielen soll, so kann das nicht ohne Böcke abgehn, und niemand spürt das mehr als ich.« (Engels an J. Ph. Becker, 15. Oktober 1884.)

Zu den neuen theoretischen Einsichten von Engels nach Marx' Tod gehörte seine Auffassung, dass sich die von ihm und Marx in den europäischen Revolutionen von 1848/49 herausgebildete Vorstellung, wonach der Entscheidungskampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie »in einer einzigen langen und wechselvollen Revolutionsperiode« ausgefochten werden müsse, als »Illusion« erwiesen hatte. Engels ging nun davon aus, dass der Kapitalismus nach seiner endgültigen revolutionären Etablierung um 1870/71 eine evolutionäre Phase seiner Ausgestaltung durchlief und dass sich demzufolge die Bedingungen für die von ihm nach wie vor als unausweichlich angesehene soziale Revolution der Arbeiterschaft erheblich verändert hatten (vgl. MEGA I/32, S. 335-339) Zu den Voraussetzungen dieses Umdenkens, auf das vor Jahren bereits Wolfgang Küttler hingewiesen hat, gehörte die vor allem im dritten Band des »Kapitals« enthaltene differenzierte Bewertung von Wirtschaftskrisen. Diese erscheinen dort sowohl als Ausdruck der Widersprüche, zugleich aber auch als Vorgang, in dem sich die kapitalistische Ökonomie auf höherer Stufenleiter reorganisiert (MEGA II/15, S. 243-256).

Auf politischem Felde führte das Engels zu Konsequenzen, die er in seiner letzten größeren Arbeit, der Einleitung zu Marx' »Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850«, am deutlichsten zum Ausdruck brachte. Darin plädiert Engels für einen demokratischen, friedlichen Weg der politischen Machtergreifung der Arbeiterklasse durch Nutzung und Ausweitung der demokratischen Instrumentarien des bürgerlichen Staates und Gewinnung der Mehrheit des Volkes. Engels zeigt sich hier als ein Sozialist, der das humanistische Ziel dieser Bewegung auf einem revolutionären Weg zu erreichen suchte, der dem Ziel und den gegebenen Bedingungen adäquat sein sollte.

Doch Engels war nicht nur »zweite Violine« im politischen Duo mit Marx. Er führte daneben ein äußerst intensives und facettenreiches Leben. Er war den körperlichen Genüssen des Lebens zugetan und geistig vielfältig interessiert. Er bewährte sich als Geschäftsmann, war belesen, hatte ein Faible für neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften, war naturverbunden, konnte zeichnen und reiten, war sehr sprach-, wenn wohl auch nicht besonders redebegabt, beschäftigte sich immer wieder auch mit Sprachtheorie und hatte sich mit seiner Passion für die Militaria, die ihm unter Freunden den Namen »General« einbrachte, Anerkennung verschafft, die über die sozialistische Bewegung hinausreichte.

Wer sich mit Leben und Werk von Engels beschäftigt, wird auf Grundlage eigener Lebenserfahrung und deren individueller geistiger Verarbeitung zu unterschiedlichen Beurteilungen gelangen. Weitgehender Konsens, der Raum für vielfältige Interpretationen lässt, sollte aber doch in folgendem bestehen: Bei allen heute auszumachenden Irrtümern, Fehlleistungen und falschen Prognosen – mit seinen humanistischen Motiven und Zielen, seinen Fähigkeiten und seinem Charakter sowie den Wirkungen, die er mit seiner davon geprägten öffentlichen Tätigkeit zunächst in Europa und später weltweit erzielte, gehört Engels zu jenen historischen Persönlichkeiten, die dem sozialen Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert nachhaltige Impulse verliehen haben. Welchen Platz er in dieser sehr differenzierten Phalanx eingenommen hat und welche Bedeutung sein Werk in Zukunft haben wird, wird sowohl innerhalb als auch außerhalb sozialistischer Bewegungen und Gesellschaftsvorstellungen immer wieder neu erörtert werden. Die Sicherung dieses Werkes im Rahmen der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bietet dafür die Voraussetzung. Und vielleicht liegt die MEGA ja zum 200. Geburtstag von Engels komplett vor.

* Aus: Neues Deutschland, 27. November 2010


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