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"Kann Europa abrüsten?"

Friedrich Engels als Realpolitiker

Von Peter Strutynski *

Es gehörte zu den Schulweisheiten der frühen kommunistischen/sozialistischen Arbeiterbewegung, daß der Kapitalismus in seinem unstillbaren Drang nach Mehrwert und Profit sich weder von moralischen Einwänden, noch von geographischen und politischen Grenzen zurückhalten läßt. So ging die Herstellung der bürgerlichen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert einher mit dem grenzüberschreitenden Austausch von Waren (das war an sich nichts Neues), von Kapital und von Arbeitskräften. Die Internationalisierung des Kapitals vollzog sich nicht weniger gewaltsam als die ursprüngliche Akkumulation in den sich industrialisierenden Ländern Europas. Kolonialkriege, territoriale Eroberungen, Strafexpeditionen gegen uneinsichtige "Wilde" und räuberische Plünderungen in Asien, Afrika und Lateinamerika gehörten zum politisch-militärischen Repertoire der führenden "zivilisierten" Mächte. Unter dem ideologischen Deckmantel des freien Handels wurde der sich entwickelnde Weltmarkt den Regeln und Gesetzen der kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsverhältnisse unterworfen. Deren Durchsetzung war - zunächst - bitter für die Arbeitermassen der großen Industriezentren und die von ihrer Scholle bzw. ihrem Gewerbe vertriebenen, proletarisierten Schichten. Indem sie aber auch die materielle Basis des sozial-technischen Stoffwechsels zwischen Mensch und außermenschlicher Natur revolutionierte und zudem die Voraussetzungen zur politischen Emanzipation der Gesellschaft schuf, war sie, historisch betrachtet, ein Fortschritt gegenüber allen anderen bisherigen Klassen- und Ausbeutungsgesellschaften.

Diese Ambivalenz des aufsteigenden Kapitalismus bildete gleichsam die Folie, vor deren Hintergrund die Theoretiker der internationalen Arbeiterbewegung ihre strategischen Antworten auf die ökonomischen, sozialen und politischen Herausforderungen ihrer Zeit formulierten. Aus der partiellen Anerkennung der fortschrittlichen Momente des Kapitalismus (z.B. Revolutionierung der Produktion und ihrer technisch-wissenschaftlichen Grundlagen) und der grundsätzlichen Bekämpfung seiner ökonomisch-sozialen Folgen (die ökologischen Folgen waren erst ausnahmsweise als Problem wahrgenommen worden) entstand jene charakteristische Mischung aus ungestümem Fortschrittsglauben und politischem Fundamentalismus, die das Bewußtsein der Arbeiterbewegung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägte. Eine Mischung, die auch ursächlich war für die Herausbildung eines dialektischen Verständnisses von Revolution und Reform, Strategie und Taktik, "Endziel und Bewegung". So selbstverständlich es beispielsweise in der von Marx und Engels am stärksten beeinflußten deutschen Arbeiterbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war, für Hebung der Löhne, Verkürzung der Arbeitszeiten und andere Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen einzutreten, so selbstverständlich wurden andererseits alle tatsächlich erreichten partiellen Verbesserungen lediglich als "Abschlagszahlungen" auf den Sieg der sozialistischen Revolution betrachtet.

ANTIMILITARISUMS DER ARBEITERBEWEGUNG

Die Entwicklung einer entsprechend differenzierten Haltung der Arbeiterbewegung zu Fragen der internationalen Politik, des Militarismus und von Krieg und Frieden war zugleich einfacher und komplizierter. Einfacher, weil die Einsicht in die Grundstrukturen kapitalistischer Ökonomien und ihrer staatlichen Agenturen ohnehin nur eine "fundamentalistische" Haltung zuließ: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!", um diesen viel gebrauchten Slogan der damaligen Sozialdemokratie zu verwenden. Diese Parole drückte die entschiedenste Opposition gegen Militarismus, Rüstung und schleichende Kriegsvorbereitung aus und kam regelmäßig bei den Budgetabstimmungen im Reichstag zur Geltung, wenn die sozialdemokratischen Abgeordneten ihre Zustimmung zum Staatshaushalt (der in großen Teilen Militärhaushalt war) grundsätzlich und demonstrativ verweigerten. Daß sie deswegen von den staatsbejahenden Parteien des Adels und Bürgertums als "vaterlandslose Gesellen" diffamiert wurden, verband sie mit ihren unter ähnlichem Verdikt stehenden Klassenbrüdern des "Erzfeindes" Frankreich. Komplizierter wurde es jedoch für die Arbeiterbewegungen immer dann, wenn die Staaten, deren Regime und Gewaltmonopol sie ja unterworfen waren, in kriegerischen Auseinandersetzungen untereinander standen. In der offenen Feldschlacht oder - wie später im Ersten Weltkrieg - in den Schützengräben des Stellungskrieges kapitulierte noch jede internationale Klassensolidarität vor den Zwängen der militärischen Disziplin, des Kadavergehorsams und des Überlebenswillens des einzelnen Soldaten.

Die prinzipiell-antimilitaristische Haltung der deutschen Sozialdemokratie und der 1889 gegründeten II. Internationale kommt am klarsten zum Ausdruck in einer von Wilhelm Liebknecht vorbereiteten Resolution des Internationalen Arbeiterkongresses vom August 1991 in Brüssel. Darin wird der Militarismus als notwendiges Resultat des "permanenten - offenen und latenten - Kriegszustandes" bezeichnet, welcher durch das "System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und den dadurch erzeugten Klassenkampf der Gesellschaft auferlegt wird." (IML 1974, S. 380). Alle Bestrebungen zur Beseitigung des Militarismus, die nicht die "ökonomischen Ursachen des Übels" treffen, so wird daraus gefolgert, müßten "ohnmächtig" bleiben; Frieden zwischen den Völkern könne es erst geben, wenn die "sozialistische Gesellschaftsordnung" errichtet sei. Hier stand die II. Internationale ganz in der Tradition der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in deren von Karl Marx formulierter Inauguraladresse von 1864 es geheißen hatte, daß der Kampf um eine neue "auswärtige Politik" "im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse" eingeschlossen sein müsse (MEW 16, S. 13; vgl. hierzu Strutynski 1976, S. 32 ff, Mieth 1984). Die praktisch-politischen Konsequenzen aus dieser abstrakt-theoretischen Bestimmung des Militarismus waren leicht zu ziehen: Erstens war eine spezielle politische Strategie, die auch Zwischenschritte zur Verminderung der Kriegsgefahr vorsah, nicht erforderlich. Die Arbeiter aller Länder sollten lediglich "unablässig und energisch" gegen alle "Kriegsgelüste" protestieren und dabei "durch Vollendung der internationalen Organisation des Proletariats den Triumph des Sozialismus" beschleunigen. Der Sozialismus sei das "einzige Mittel", um die "furchtbare Katastrophe eines Weltkrieges" (die hier bereits visionär vorweggenommen wird) "abzuwenden". Sollte dies nicht gelingen, so fällt jede "Verantwortung für eine solche Katastrophe vor der Menschheit und der Geschichte einzig und allein den herrschenden Klassen" zu. (IML 1974, S. 380) Damit war zweitens auch klar, daß die Erhaltung des Friedens ausschließlich Sache der Sozialdemokratie sei. Alle anderen, "welche dem Krieg ein Ende machen wollen", hätten die "Pflicht, sich der internationalen Sozialdemokratie als der einzigen wirklichen und grundsätzlichen Friedenspartei anzuschließen".

SOZIALISMUS ODER KRIEG

Dieses Argumentationsschema hatte schwerwiegende Folgen für die Entwicklung einer wirkungsvollen Friedens- und Abrüstungspolitik der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg. Zunächst verhinderte es die Anbahnung jeglicher Zusammenarbeit mit bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, aus deren Mitte gerade in den 90er Jahren erste Ansätze einer eigenständigen Friedensbewegung entstanden sind (vgl. Holl 1988, Benz 1988). 1892 erschien Bertha von Suttners sentimentaler Roman "Die Waffen nieder!", dessen dürftige literarische Qualität seinem politisch-moralischen Erfolg in Europa nichts anhaben konnte. 1892 wurde die Deutsche Friedensgesellschaft ins Leben gerufen, die ihre Anhänger insbesondere unter Akademikern hatte. Gewiß, es war nicht leicht, mit einer Bewegung zu kooperieren, die ihrerseits wenig oder nichts von der Sozialdemokratie hielt. Man hätte es aber wenigstens versuchen sollen. Negativ wirkte sich die Alles-oder-Nichts-Haltung ("Sozialismus oder Krieg") der Sozialdemokratie auch in bezug auf die Entwicklung einer eigenen antimilitaristischen Arbeit aus. Erste Ansätze hierzu - z.B. von Karl Liebknecht - kamen zu spät und waren zudem zu diesem Zeitpunkt in der Partei nicht mehr mehrheitsfähig. Schließlich mußte es auf lange Sicht für die Anhänger der Sozialdemokratie, die unter den Erscheinungen des preußisch-deutschen Militarismus unmittelbar zu leiden hatten, demoralisierend wirken, wenn ihnen eine Verbesserung ihres Loses erst nach Abschaffung des ganzen Systems in Aussicht gestellt wurde.

Nun würde ein schiefes und unvollständiges Bild von der Agitation der Sozialdemokratie entstehen, wenn man nicht gleichzeitig erwähnen würde, daß zumindest in der sozialistischen Presse sowie von der Tribüne des Reichstags der Militarismus eine wesentlich differenziertere Behandlung erfahren hat. Insbesondere August Bebel ließ als Reichstagsabgeordneter keine Gelegenheit aus, die großen und kleinen Ungerechtigkeiten, Schikanen und Grausamkeiten, denen Rekruten und einfache Soldaten in ihrem Dienst tagtäglich ausgesetzt waren, anzuklagen und konkrete Abhilfe zu verlangen, was ihm des öfteren das uneingeschränkte Lob von Friedrich Engels einbrachte (siehe z.B. Autorenkollektiv 1989, S. 383 ff). In dieselbe Richtung zielten die Kampagnen der Partei gegen die fast jährlich von der Regierung verlangten Heeresverstärkungen und Erhöhungen der Rüstungslasten. Nicht zu vergessen ist auch die das Militärwesen betreffende Forderung des Erfurter Programms von 1891, die sich nicht auf den sozialistischen Zukunftsstaat, sondern an das existierende Deutsche Reich richtete. Dort heißt es unter Punkt 3: "Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr anstelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege." (Berthold/Diehl, S. 85)

Einen sehr weitgehenden Versuch, die antimilitaristische Propaganda der Sozialdemokratie mit den realen Gegebenheiten vertraut zu machen und ihr eine realpolitische Dimension jenseits sozialistischer Zukunftserwartungen zu geben, unternahm Friedrich Engels 1893. Engels war - erst Recht seit Marx' Tod 1883 - zum vielbeschäftigten wissenschaftlichen und praktischen Ratgeber fast aller damals existierenden sozialistischen Arbeiterparteien der Welt geworden und der deutschen Sozialdemokratie durch zahlreiche persönliche Beziehungen in ganz besonderer Weise verbunden. Er war bis zu seinem Tod unangefochten die höchste geistige Autorität in der deutschen Arbeiterbewegung oder - in Wilhelm Liebknechts Worten - deren "Wegweiser", "General" (so auch sein Spitzname), "Heerführer" und "geistiger Leiter" (IML 1974, S. 426). Im November 1892 konfrontierte die deutsche Reichsregierung den Reichstag mit einer neuen Militärvorlage, die alle bisherigen Heersplanungen in den Schatten stellte. Die Friedenspräsenzstärke des stehenden Heeres sollte danach um rund 100.000 Mann erhöht werden (auf dann 570.000 Mann); durch eine Erhöhung der jährlich auszubildenden Rekrutenzahl würde die im Kriegsfall verfügbare Armeestärke rund viereinhalb Millionen Mann betragen. Bei der Gründung des Deutschen Reichs 1871 hatte die Friedenspräsenzstärke noch 376.000, die Kriegsstärke anderthalb Millionen Mann betragen. Vorgesehen war auch eine Reduzierung der Dienstzeit der Infanterie von drei auf zwei Jahre, um auf diese Weise eine größere Zahl Militärdiensttauglicher ausbilden und die Reserve für das stehende Heer erhöhen zu können. Diese Dienstzeitreduzierung sollte aber auf keinen Fall für andere Waffengattungen gelten; auch sollte nicht die Verfassung geändert werden, die eine dreijährige Dienstzeit vorschrieb. - Entsprechend angestiegen sind auch die Mittel zur Aufrechterhaltung dieser kolossalen Armee (von knapp 400 Millionen Mark Mitte der 70er Jahre auf knapp 800 Millionen Mark 1892/93). Begründet wurde die Heeresverstärkung wie üblich mit der militärischen Überlegenheit Frankreichs (das sich mit den Ergebnissen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71, insbesondere mit der Annexion Elsaß-Lothringens nicht abgefunden hatte) und der vermeintlichen Aggressivität des zaristischen Rußland. Deutschland hätte die Pflicht, sich für einen Zweifrontenkrieg zu wappnen.

ABRÜSTUNG ALS GEGENWARTSAUFGABE

Der sich gegenseitig hochschaukelnde Rüstungswettlauf zwischen den europäischen Großmächten hatte nun schon zu diesem Zeitpunkt ein Ausmaß erreicht, daß jedes weitere Drehen an der Schraube einen allgemeinen Krieg hätte auslösen können. Um dieser Gefahr zu begegnen, schienen Überlegungen angebracht, die über das prinzipielle Nein der Sozialdemokratie zur Heeresvorlage hinausgingen (Skorsetz 1990, S. 116). Wer anderes als Friedrich Engels hätte solche Überlegungen anstellen können? Jedenfalls bat Bebel den großen alten Mann in London, die Militärvorlage der Reichsregierung zu analysieren und der Sozialdemokratie entsprechende Argumentationshilfen für die Debatte zu liefern. Da die sozialdemokratischen Abgeordneten in der Militärkommission des Reichstags einen Antrag der Freisinnigen, die zweijährige Dienstzeit für die Fußtruppen gesetzlich festzulegen, dahingehend ergänzt hatten, dies für alle Waffengattungen vorzusehen, war Bebel vor allem an Argumenten interessiert, die einen solchen Antrag begründen würden (Autorenkollektiv 1989, S. 393). Engels kam dieser Bitte nach und lieferte nach nur zwei Wochen eine Abhandlung ab, die unter dem Titel "Kann Europa abrüsten?" als Artikelserie im "Vorwärts" vom 1. bis 10. März 1893 veröffentlicht wurde (MEW 22, S. 369-399; im folgenden wird aus dieser Arbeit nur noch mit der Angabe der Seitenzahl zitiert). Sie enthielt jede Menge interessanter Hinweise auf ein völlig neues Verständnis von sozialdemokratischer Friedens- und Abrüstungspolitik.

Ausgangspunkt der Engels'schen Überlegungen waren der seit dem Deutsch-Französischen Krieg anhaltende Rüstungswettlauf zwischen Deutschland, Frankreich, Rußland, Österreich und Italien auf der einen und der Wunsch der Völker nach Abrüstung auf der anderen Seite. Der durchaus realen Vision eines drohenden "Verwüstungskrieg(s), wie die Welt noch keinen gesehn" (S. 373), stellt Engels die Behauptung entgegen: "Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist möglich, sie ist sogar verhältnismäßig leicht durchführbar..." (ebd.). Und worin besteht sein Abrüstungsvorschlag? Nicht etwa in einer Verringerung der Geschütze, nicht in einer Verkleinerung bestimmter Armeeabteilungen und auch nicht in einer Verringerung der Heeresstärke insgesamt. Der Abrüstungshebel müsse vielmehr an der Länge der Dienstzeit angesetzt werden. "Internationale Festsetzuung, zwischen den Großmächten des Kontinents, des Maximums der aktiven Dienstzeit bei der Fahne für alle Waffengattungen, meinetwegen zuerst auf zwei Jahre, aber mit dem Vorbehalt sofortiger weiterer Herabsetzung, sobald man sich von der Möglichkeit überzeugt, und mit dem Milizsystem als Endziel." (S. 375) Hierfür spräche eine Reihe unwiederlegbarer Gründe:
  1. Die Länge der Dienstzeit galt allgemein als guter Maßstab für die Kriegsverwendbarkeit der Soldaten, insbesondere für deren Tüchtigkeit zur Offensive. Eine verkürzte Dienstzeit würde demnach die Angriffsfähigkeit der Armeen verringern, ohne das relative Kräfteverhältnis in Europa zu verändern.
  2. Da in den europäischen Hauptmächten die allgemeine Wehrpflicht fast überall eingeführt, d.h. die Grenze der Rekrutierungsfähigkeit nahezu erreicht war, konnte kein Staat die vorgeschlagene Abrüstungsmaßnahme durch einen Trick, etwa durch die Aushebung zusätzlicher Rekrutenjahrgänge, umlaufen: "der Rahm ist abgeschöpft" (S. 377).
  3. Die Qualität der militärischen Ausbildung müßte übrigens bei stark verkürzten Dienstzeiten keineswegs leiden. "Da muß man sich auf das Wesentliche beschränken, da fliegt ein ganzer Haufen traditioneller Firlefanz in die Ecke, und da findet man, zu seiner eigenen Überraschung, wie wenig Zeit dazu gehört, aus einem passabel gewachsenen jungen Mann einen Soldaten zu machen." (ebd.) Trennen müsse man sich z.B. von der veralteten Institution des Wachdienstes (des unnützen Postenstehens in der Stadt) oder vom ebenso unnützen Paradedrill: "Allein die Abschaffung des 'Stechschrittes' würde ganze Wochen für rationelle Übungen freisetzen, abgesehn davon, daß dann die fremden Offiziere eine deutsche Revue ansehn könnten, ohne sich das Lachen zu verbeißen." (S. 378) Hätte doch nur die Staats- und Militärführung der ehemaligen DDR ab und zu auch die "Klassiker" zur Hand genommen, es wäre uns vielleicht so manches erspart geblieben!
  4. Selbst die Kavallerie könne ohne Qualitätsverlust eine Dienstzeitverringerung verkraften, nämlich dann, wenn die Reiter "mehr und länger im Sattel üben könnten". Das allerdings würde eine bessere Pflege und Fütterung der Pferde voraussetzen ("die Pferde müssen ja zum Manöver erst aufgefüttert werden, um auf das Normalmaß von Kräften zu kommen!"). Sollte aus sachlichen Gründen dennoch in einzelnen Bereichen auf eine drei- oder vierjährige Dienstzeit nicht verzichtet werden können, müßten dafür "entsprechende Kompensationen" in anderen Truppenbereichen angeboten werden (ebd.).
SCHLANKHEITSKUR FÜR'S MILITÄR ?

Engels' Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, eventuelle Bedenken zu zerstreuen, eine Verkürzung der Dienstzeit könne die Tüchtigkeit der Armee in Frage stellen. Es müsse nur "ernsthaft" daran gegangen werden, "die verkürzte Dienstzeit durch intensiveres Betreiben der wesentlichen und durch Beseitigung der überflüssigen Dinge aufzuwiegen". Solange sich der Engels'sche Vorschlag nur auf den ersten Schritt einer Dienstzeitverkürzung (auf zunächst zwei Jahre) bezieht, ist er also eher als Rationalisierungsstrategie denn als Abrüstungsvorschlag zu verstehen. Intensivierung der militärischen Ausbildung, Verdichtung der Dienstzeit, Verzicht auf überflüssige, für die Herstellung des Produkts (den "tüchtigen" Soldaten) nicht unmittelbar erforderliche Tätigkeiten: Engels als Vordenker eines "schlanken", aber schlagkräftigen Militärs?

Nein, da läßt er denn doch keine Mißverständnisse aufkommen. "Ich habe aber gleich von vornherein gesagt, daß es nicht bei den zwei Jahren bleiben soll." (S. 381) Der Antrag auf internationale zweijährige Dienstzeit soll nur der erste Schritt sein zu einer allmählichen weiteren Herabsetzung der Dienstzeit, "sage zunächst auf achtzehn Monate, zwei Sommer und ein Winter, - dann ein Jahr - dann...? Hier fängt der Zukunftsstaat an, das unverfälschte Milizsystem..." (ebd.), worunter wir uns eine dem Schweizer System vergleichbare, auf dem Prinzip der allgemeinen Volksbewaffnung beruhende, demokratische "Volkswehr" vorzustellen haben, die im wesentlichen aus Reserveverbänden bestehen würde. Zum Ausgleich der fehlenden Dienstzeit müßte ein Teil der militärischen Ausbildung in die Schule, insbesondere in den Turnunterricht, vorverlegt werden (S. 382). Als Lehrer würden sich hierfür die ausgedienten Unteroffiziere bestens eignen (S. 383). Das ist aus der Sicht eines friedensbewegten Menschen des Jahres 1995 schon starker Tobak! Zu berücksichtigen ist aber, daß Engels hier in damals durchaus geläufigen sozialdemokratischen Kategorien argumentierte - sowohl was die allgemeine Volksbewaffnung, als auch was die paramilitärische Jugenderziehung betraf (vgl. z.B. Bebel 1995a,b). Beides war in der Tat ein Gegenentwurf zum kaiserlichen stehenden Heer, das sich nach Auffassung der Sozialdemokratie jederzeit auch als Repressions- und Bürgerkriegsarmee gegen das Volk, insbesondere gegen die revolutionäre Arbeiterklasse einsetzen ließ. Demgegenüber sollte das Milizsystem als eine Art Territorialschutz nur der Verteidigung gegen äußere Angriffe dienen. In der späteren Geschichte konnte der Milizgedanke in reiner Form nur in den relativ kurzen Phasen revolutionärer Umbrüche verwirklicht werden. In den Staaten des realen Sozialismus dienten milizähnliche Strukturen allenfalls der Ergänzung einer ansonsten "normalen" professionalisierten Armee mit zum Teil vergleichsweise langen Dienstzeiten.

DURCHSETZUNGSCHANCEN

Im weiteren Gang seiner Untersuchung widmete sich Engels der Frage nach der Durchsetzungschance seines Vorschlags. Das höchst explosive Beziehungsgeflecht zwischen den Großmächten wird hier ebenso analysiert wie die ökonomisch-sozialen Verhältnisse und die Heeresverfassungen der einzelnen Länder. Insbesondere in Frankreich stehe dem Abrüstungsvorschlag, v.a. wenn er von Deutschland ausginge, eine ernstzunehmende "chauvinistische" Strömung entgegen. Sollte Frankreich ablehnen, so würde das Mißtrauen und die Angst der europäischen Völker vor Deutschland - dem infolge Bismarcks Politik der "Ruf der Ländergier" anhafte (S. 397) - schwinden und sich stattdessen gegen Frankreich richten. Deutschlands Stellung in Europa würde sich "in einem solchen Grad" verbessern, daß es "einen Krieg absolut nicht mehr zu fürchten braucht" und sogar "auf eigne Faust zu einer allmählichen Herabsetzung der Dienstzeit und Vorbereitung zum Milizsystem schreiten kann." (S. 399) Für den Fall, daß Frankreich den Vorschlag annimmt, wären die Probleme ohnehin gelöst: "Dann ist die Kriegsgefahr, die aus den stets gesteigerten Rüstungen erwächst, tatsächlich beseitigt, die Völker kommen zur Ruhe, und Deutschland hat den Ruhm, dies eingeleitet zu haben." (ebd.)

Rußland ist im europäischen Kräftespiel für Engels dagegen eher eine vernachlässigbare Größe, und zwar sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Die gesellschaftliche Rückständigkeit Rußlands lasse den Aufbau einer modernen, schlagkräftigen Armee mit allgemeiner Wehrpflicht nicht zu (S. 387 ff); außerdem fehlen dem hochverschuldeten Land die Mittel, einen Krieg zu führen. Die Ausbreitung der kapitalistischen Großindustrie hat nicht nur den Adel, sondern auch den seit 1861 aus der Leibeigenschaft entlassenen Bauern in den Ruin getrieben und zudem die Naturgrundlagen menschlichen Überlebens nachhaltig zerstört - mit der Folge einer chronischen Hungersnot. Das folgende Zitat zeigt, wie gründlich Engels selbst in einer militärpolitischen Abhandlung formationsspezifische Wirkungsketten zwischen Ökonomie und Ökologie beachtet hat: "Die rücksichtslose Entwaldung vernichtete die Vorratskammern der Bodenfeuchtigkeit, das Regen- und Schneewasser floß, ohne aufgesogen zu werden, rasch durch die Bäche und Ströme ab, starke Überschwemmungen erzeugend; aber im Sommer wurden die Flüsse seicht, und der Boden vertrocknete. In vielen der fruchtbarsten Gegenden Rußlands soll das Niveau der Bodenfeuchtigkeit um einen vollen Meter gefallen sein, so daß die Wurzeln der Getreidehalme es nicht mehr erreichen und verdorren. So daß nicht nur die Menschen ruiniert sind, sondern in vielen Gegenden auch der Boden selbst auf wenigstens ein Menschenalter hinaus." (S. 391)

Nachgedacht hat Engels auch über das Problem der Rüstungskontrolle bzw. der Verifikation internationaler Abmachungen. Im großen und ganzen, so ist sich Engels sicher, würde gerade ein Abrüstungsschritt, der sich auf die Dauer der Dienstzeit bezieht, auch eingehalten. Einmal, weil sich eine Umgehung des Vertrags in nennenswertem Umfang nicht verheimlichen lasse; zum anderen, weil die wehrpflichtigen Soldaten selbst für die Einhaltung des Vertrags sorgen würden. Denn: "Kein Mensch bleibt freiwillig in der Kaserne, wenn er über die gesetzliche Zeit dort behalten wird." (S. 384)

ENGELS ABGEBLITZT

Dem Engels'schen Abrüstungsvorschlag war kein Erfolg beschieden - weder in der Politik der großen Mächte noch in der Sozialdemokratie. "Mit Deinem Militärplan können wir unmöglich operieren", schrieb ihm Bebel am 12. März 1893. In der Fraktion und in der übrigen Partei erst recht sei es völlig unmöglich, "uns auf den Boden der zweijährigen Dienstzeit, auf den sich die Freisinnigen und die anderen Parteien stellen, (zu) begeben." Auch könne die Sozialdemokratie "um keinen Preis für die jetzige Armeeinstitution eintreten. Dazu treten noch die Bedenken gegen die Aufbringung der Mittel - indirekte Steuern und Zölle -, die unsere entschiedenste Opposition notwendig machen. Ein Versuch, zu einem Kompromiß zu kommen, würde einen Sturm in der ganzen Partei erregen und die Fraktion hinwegfegen. Aber auch in letzterer selbst wäre für einen solchen Gedanken nicht eine Stimme zu haben." (Zit. n. Autorenkollektiv 1989, S. 395). Die Fraktion stimmte gegen die Militärvorlage, die schließlich auch in veränderter Form nicht die Mehrheit des Reichstags erhielt. Daraufhin löste der Kaiser das Parlament auf und ordnete Neuwahlen an. Obwohl die Sozialdemokratie gestärkt aus dieser Wahl im Juni 1893 hervorging - sie hatte den Wahlkampf unter der Losung "Gegen den Militarismus, für das allgemeine Wahlrecht" geführt -, gelang es der Reichsregierung, ihre nur unwesentlich modifizierte Militärvorlage schließlich doch von einer knappen Mehrheit im neuen Reichstag verabschieden zu lassen. Damit setzte die Regierung den Weg der Hochrüstung fort, der zwei Jahre später zum Beginn der Flottenrüstung und in der Folge zur hemmungslosen imperialistischen Weltpolitik des kaiserlichen Deutschland ("ein Platz an der Sonne") mit allen bekannten Folgen führte.

Hätte eine Übernahme der Engels'schen Vorschläge durch die Sozialdemokratie den Gang der Geschichte aufhalten können? Wohl kaum. Denn zu sehr waren die europäischen Regierungen zum Spielball imperialistischer Großmachtinteressen im Auftrag monopolistischer Konzerne und Finanzgruppen geworden, als daß sie sich bei ihren Raubzügen zur (Neu-)Aufteilung der Welt irgendwelchen Beschränkungen hätten unterwerfen wollen. Einen Versuch wäre es jedoch wert gewesen. Die außenpolitische und antimilitaristische Propaganda der Sozialdemokratie jener Zeit litt unter dem völligen Mangel einer realistischen Kriegsverhütungsstrategie (Boll 1980). Selbst solche umfassenden und präzisen Vorschläge zur Entfaltung einer "besonderen antimilitaristischen Propaganda", wie sie von Karl Liebknecht ein paar Jahre später in der Schrift "Militarismus und Antimilitarismus" vorgetragen wurden, orientierten sich an der allein für denkbar gehaltenen Entscheidungssituation "Imperialistischer Krieg oder Sozialismus". Sie sollten vor allem dazu dienen, die zum Militär eingezogenen proletarischen Jugendlichen gegen nationalistische Ideologie und massenpsychologische Kriegsvorbereitung zu immunisieren und die Mehrheit der Soldaten und Unteroffiziere für die Sache der Revolution zu gewinnen (Liebknecht 1958).

Für uns heute, für die es zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, die Frage der Erhaltung des Friedens als vorrangiges Ziel zu betrachten, erscheint die Vernachlässigung abrüstungs- und friedenspolitischer Forderungen und die ausschließliche Funktionalisierung der antimilitaristischen Agitation für das sozialistische Endziel als verhängnisvoller Fehler der revolutionären Sozialdemokratie. Dieses fehlerhafte politisch-strategische Herangehen entsprach in keiner Weise dem sonst vorhandenen hohen Maß an analytischer Tiefe und historischer Durchdringung des deutschen Militarismus, wie ein Blick in einschlägige Veröffentlichungen im "Vorwärts" und der "Neuen Zeit" bestätigt. Auch andere Autoren außer Engels (z.B. Bernstein, Kautsky, Bebel, Katzenstein, Wilhelm und Karl Liebknecht, Luxemburg, Mehring, Zetkin) haben seit den 90er Jahren eine Reihe hochinteressanter Artikel abgeliefert und dabei u.a. auf folgende Zusammenhänge hingewiesen, die auch heute noch ihre Bedeutung in der friedenspolitischen Diskussion haben:
  1. Militärische Rüstung richte - entgegen den Behauptungen der Rüstungsbefürworter - unermeßlichen volkswirtschaftlichen Schaden an und verschärfe nur solche Probleme wie die Vernichtung des Kleinbesitzes oder die Arbeitslosigkeit.
  2. Häufig werden die Bedrohungslügen entlarvt und die Zahlengrundlagen in Frage gestellt, mithilfe derer die Rüstungsbefürworter im Reichstag und gegenüber der Öffentlichkeit weitere Rüstungserhöhungen zu rechtfertigten suchten. Die offizielle Regierungspropaganda wurde regelmäßig mit begründeten Gegeninformationen über das tatsächliche militärische Kräfteverhältnis erschüttert.
  3. Die steigenden Rüstungsanstrengungen in personeller, finanzieller und technologischer Hinsicht führten zu einem immer schärferen Rüstungswettlauf der imperialistischen Staaten und erhöhten schon allein dadurch die Kriegsgefahr.
  4. Aufgrund der weltweiten imperialistischen Verstrickungen, der gegebenen Mächtekonstellation sowie der fortgeschrittenen Waffentechnologie und der angehäuften Waffenarsenale werde der nächste Krieg Opfer und Verwüstungen bisher unvorstellbaren Ausmaßes fordern. Karl Liebknecht sieht 1907 die Entwicklung von Waffen voraus, welche die Selbstvernichtung der Menschheit herbeiführen könnten: "Und in der Tat können wir damit rechnen, daß, wenn auch in einer fernen Zukunft, die Technik, die leichte Beherrschung der gewaltigsten Naturkräfte durch den Menschen, eine Stufe erreichen wird, die eine Anwendung der Mordtechnik überhaupt unmöglich macht, weil sie Selbstvernichtung des Menschengeschlechts bedeuten würde..." (Liebknecht 1958, S. 259f).
ILLUSIONEN UND WIRKLICHKEIT

Wenn sich dennoch Engels' weitblickende "Realo"-Haltung in der Abrüstungsfrage in der Sozialdemokratie nicht durchsetzen konnte, so hat das vor allem damit zu tun, daß sich die Partei Illusionen über den weiteren Gang der Dinge machte. Hierzu gehört etwa die seit dem Fall des Sozialistengesetzes tiefsitzende Vorstellung vom unmittelbar bevorstehenden Sieg des Sozialismus in Deutschland. Die Übernahme der politischen Macht im Gefolge eines Wahlsiegs würde einem - mit Zwangsläufigkeit kommenden - europäischen Krieg sozusagen zuvorkommen. Auch Engels selbst war übrigens nicht frei von solchen optimistischen Zukunftserwartungen. Aus der sichtbar wachsenden Stärke der Sozialdemokratie erklärt sich auch die pauschale Ablehnung nicht-proletarischer pazifistischer Bestrebungen, die in der Regel als "Friedensschwärmerei" denunziert wurden. So sehr diese Haltung auch tagtäglich von der mehr als hilflosen Politik des deutschen Rest-Liberalismus und des bürgerlichen Pazifismus neue Bestätigung erfuhr, so hätte aus meiner Sicht eine auf Verhinderung des Krieges abzielende Strategie der Arbeiterbewegung gerade deshalb mehr für die Gewinnung nichtproletarischer Schichten - nicht für den Sozialismus, sondern für die Erhaltung des Weltfriedens tun müssen.

Eine weitere Illusion war zweifellos die Vorstellung, das kaiserliche Militär verlöre mit der allgemeinen Wehrpflicht, die eine ständig wachsende Zahl sozialdemokratisch gesinnter Arbeiter in die Reihen der Armee brächte, im Laufe der Zeit ihren Charakter als Unterdrückungsinstrument gegen das eigene Volk und als Aggressionsmittel gegen andere Staaten. Franz Mehring kam in seinen Artikeln zur Militärfrage immer wieder auf jene denkwürdige Anekdote über den alten Fritz zu sprechen, der den alten Dessauer beim Ausritt fragte: Was ist Ew. Liebden an unserer Armee am meisten wunderbar? Natürlich erwiderte der alte Dessauer, die schönen Regimenter, die hier in Reih' und Glied stehen. Nein, antwortete der König, das ist nicht das Wunderbarste; das Wunderbarste ist vielmehr, daß die Kerle hier so entnervt sind, daß sie nicht uns beide erschießen, die wir die Quelle ihrer Leiden sind. - Mehring war nun überzeugt, daß dieses "Wunder nicht immer gelingt und daß die Regel ihre Ausnahme macht" (Mehring 1902, S. 131). Der Gang der Geschichte hat indessen gezeigt, daß noch jede militärische Organisation das Gros ihrer Soldaten zum unbedingten Gehorsam bringen und - wenn "nötig" - auch in schrecklichen Kriegen verheizen konnte. Schon aus diesem Grund gibt es keine Alternative zu einer realpolitischen, wenn man so will: "systemimmanenten" Kriegsverhütungsstrategie der Arbeiterbewegung (die deswegen ihre systemtranszendierenden Ziele nicht aufgeben muß).

100 JAHRE DANACH

Engels hatte 1893 hierfür eine Möglichkeit vorgeschlagen. Die Politik der "friedlichen Koexistenz" nach dem Zweiten Weltkrieg hat gezeigt, daß eine globale militärische Katastrophe selbst unter Bedingungen antagonistischer Systemauseinandersetzungen nicht "naturnotwendig" ist. Das sozialismusfreie Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts weist erstaunliche sicherheitspolitische Ähnlichkeiten mit dem Europa vor 100 Jahren auf. Vor kurzem ist ein Buch erschienen mit dem provozierenden Titel "Deutschland und der nächste Krieg" (Michal 1995). Darin versucht sein Verfasser in höchst anregender Weise zu belegen, daß das souveräne Deutschland spätestens seit der Verabschiedung der "Verteidigungspolitischen Richtlinien" vom November 1992, in denen die Verfolgung weltweiter "vitaler Interessen" zum Selbstverständnis deutscher Außen- und Militärpolitik erhoben wurde, genauso wie vor 100 Jahren sich auf einem 30-jährigen Weg zum Krieg befinde. Nun gibt es gute Gründe, die gegen eine solche Parallelisierung sprechen. Vor allem verfügt Deutschland heute über zahlreiche nicht-militärische Möglichkeiten, der europäischen Entwicklung seinen ökonomischen und politischen Stempel aufzudrücken und daraus Vorteile für die herrschende Klasse zu ziehen. Zudem ist im deutsch-französischen Verhältnis ein grundlegender Wandel eingetreten, der eine ähnlich explosive Konstellation wie vor dem Ersten Weltkrieg in absehbarer Zukunft kaum denkbar erscheinen läßt. Dennoch bleiben genügend potentielle Konfliktlinien in Europa - das Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien dürfte nur ein Vorbote künftiger Auseinandersetzungen in Südost- und Osteuropa sein. Diese Konfliktlinien werden aber entscheidend überlagert von globalen Problemen, die mit der (Neu-)Positionierung der führenden Mächte in der "Triade" Europa (Deutschland!)-Japan-USA zusammenhängen (vgl. hierzu Czempiel 1993, Daase u.a. 1993, von Bredow/Jäger 1994, Ruf 1994). Die imperialistische Weltpolitik des ausgehenden Jahrhunderts hatte ihre Kriegsherde und -anlässe im Zentrum Europas. Heute finden sie sich eher in der europäischen Peripherie, im Nahen Osten sowie im asiatisch-pazifischen Raum. Hier liegen die hauptsächlichen Quellen für den anhaltenden Rüstungswahnsinn und die allgemeine Militarisierung der internationalen Politik. Erst dieser weltpolitischen Veränderung eingedenk erweist sich die Engels'sche Schrift "Kann Europa abrüsten?" als eine Handreichung von bestürzender Aktualität.

LITERATUR
  • Autorenkollektiv (1970): Friedrich Engels. Eine Biographie, Berlin (DDR)
  • Autorenkollektiv unter Leitung von Ursula Herrmann und Volker Emmrich (1989): August Bebel. Eine Biographie, Berlin (DDR)
  • Bebel, August (1995a): Stehendes Heer oder Volkswehr? Rede im Deutschen Reichstag zur Friedenspräsenzstärke des Heeres (1892). In: August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 3, München, New Providence, London, Paris, S. 255-281
  • Bebel, August (1995b): Nicht stehendes Heer, sondern Volkswehr (1898). In: August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 4, München, New Providence, London, Paris, S. 268-343
  • Benz, Wolfgang (Hrsg.)(1988): Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939, Frankfurt a.M.
  • Berthold, Lothar/Diehl,Ernst (Hrsg.) (1967): Revolutionäre deutsche Parteiprogramme. Vom Kommunistischen Manifest zum Programm des Sozialismus, Berlin (DDR)
  • Boll, Friedhelm (1980): Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918, Bonn
  • Bredow, Wilfried von/Jäger, Thomas (Hrsg.)(1994): Regionale Großmächte. Internationale Beziehungen zwischen Globalisierung und Zersplitterung, Opladen
  • Czempiel, Ernst-Otto (1993): Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, 2. Aufl., München
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  • IML-Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.)(1974): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III, Berlin (DDR)
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  • Skorsetz, Frank (1990): Die aktuelle Bedeutung der 1893 von Friedrich Engels ausgearbeiteten ersten wissenschaftlich begründeten Abrüstungskonzeption des Proletariats. In: Pro pace mundi, 6: Aspekte positiven Friedens, hrsgg. von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, S. 111-118
  • Strutynski, Peter (1976): Die Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und Revisionisten in der deutschen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende, Köln
* Erstveröffentlichung dieses Beitrags anlässlich des 100. Todestages von Friedrich Engels in: Marxistische Blätter, Heft 4/1995, S. 24-31


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