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Sind Kriege unvermeidlich?

Interview mit dem norwegischen Friedensforscher Johann Galtung*

Am 29. März 2005 veröffentlichte die Tageszeitung "Neues Deutschland" ein Interview mit dem Nestor der internationalen Friedensforschung, dem Norweger Johan Galtung. Wir dokumentieren dieses Gespräch mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.



ND: Sind Kriege unvermeidlich, weil sie menschlich sind?

Galtung: Nein. Dann gäbe es keine Schwankungen in der Häufigkeit von Kriegen. Aber es gibt enorme Unterschiede zwischen den Kulturen, Zivilisationen und Epochen. Kriege sind nicht menschlich, sondern strukturell bedingt, dadurch, wie die großen Gruppen auf der Erde zusammenleben oder nicht mehr zusammenleben. Sie haben vor allem mit den tiefenkulturellen Ideen zu tun, was richtig oder falsch ist.

Sie führen Kriege also auf Mythen im Tiefenbewusstsein der Menschen zurück?

Ich meine zum Beispiel die Idee, von Gott auserwählt zu sein, wie beim heutigen USA-Präsidenten Bush. Oder eine andere Art von Sendungsbewusstsein, wie sie bei den islamischen Fundamentalisten zu finden ist.

Verbergen sich hinter diesen Mythen nicht auch ganz materielle Interessen?

George W. Bush mag sich von Gott geleitet sehen, aber hinter ihm stehen die Ölkonzerne mit ihren eigenen Zielen.
Die Idee, auserwählt zu sein, stammt in den Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1620. Damals gab es noch keine Öl-Interessen. Und die Idee von der Sendung durch Allah ist aus dem Jahr 622. Aber diese Mythen drücken sich heute in materiellen Interessen aus. Es gibt ein Dreieck aus Kultur, Ökonomie und Militär, das man für politische Zwecke zu mobilisieren sucht.

Von Bertolt Brecht stammt der Satz: Die Kapitalisten wollen den Krieg nicht, sie müssen ihn wollen.

Das ist zu pauschal. Die meisten Kapitalisten verdienen nicht so viel Geld durch den Krieg. Frieden nützt ihnen mehr, denn im Frieden sind die Handelswege nicht unterbrochen. Wenn man allerdings Richtungskapitalist ist – und Öl dient als Triebstoff für die Militärmaschine –, dann lohnt sich der Krieg.

Was müsste man Ihrer Auffassung nach also tun, um Kriege als Mittel der Politik gänzlich abzuschaffen?

Entmythologisieren. Aber die beste und wichtigste Methode ist es, dass man versucht, den Konflikt dahinter zu verstehen. Journalisten müssten lernen, den Politikern zwei Fragen zu stellen: Welche Konflikte stecken hinter der Gewalt und wie könnte man das Problem friedlich lösen?

Wie kann entmythologisiert werden?

Das ist meines Erachtens das Hauptproblem der Friedensforschung. Eine Methode wäre das Drama. Gute Dramaturgen müssten Schauspiele schaffen, an denen man sehen kann, wie ernst es ist, und zur selben Zeit, wie lächerlich es ist. Das wäre eine bewusste Methode der Entmythologisierung.
Die zweite Methode ist eine nichtbewusste. Man handelt zuerst mythengerecht und am Ende des Weges rennt man mit dem Kopf gegen die Wand. Das ist auch Deutschland passiert. Nach dem Ende des Nationalsozialismus hat es 20 Jahre gedauert, ehe man eigentlich verstanden hat, was vor sich gegangen ist. Ende der 60er Jahre kam die Wende und die alten Mythen wie "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" waren erledigt.

Ist Europa nicht auch auf dem Weg zu einer Militärmacht? Die neue EU-Verfassung verpflichtet die Mitgliedstaaten sogar zur permanenten Aufrüstung.

Das ist meine Hypothese, die ich schon 1973 in meinem Buch "Europa – eine Supermacht entsteht" beschrieben habe. Aufgrund dieser Ängste habe ich mich energisch gegen eine norwegische Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft eingesetzt.

Gibt es eine Alternative zu den großen Imperien?

Die Alternative wäre eine reformierte UNO. Das Veto-Recht muss selbstverständlich abgeschafft werden. Der Sicherheitsrat muss erweitert werden. Es wäre schön, wenn Deutschland sagen könnte: Wir hätten gerne einen Platz im Sicherheitsrat, aber in einem Sicherheitsrat ohne Veto. Die UNO muss ein Parlament der ganzen Weltbevölkerung werden. Dorthin dürften nur Staaten eine Delegation entsenden, wenn sie sich vorher innerlich demokratisiert haben.

Müsste dazu nicht zuerst der Widerstand des USA-Imperiums als der stärksten Macht gebrochen werden?

Das ist auch meine These. Daher befürworte ich einen ökonomischen Boykott US-amerikanischer Produkte. Wir haben jetzt einen angloamerikanischen Faschismus. Jetzt werden Sie sagen, zu Hause haben diese Staaten doch Demokratie. Aber das Faschistische ist die Gewalt.

Faschistisch also in dem Sinn, in dem der italienische Philosoph Domenico Losurdo von einer Herrenvolkdemokratie des Nordens gegenüber dem Süden spricht?

Das nennt man auch democratic fascism. Das ist die alte britische Herrschaftsmethode. Deswegen gab es fast keinen Widerstand in Westeuropa gegen den englischen Kolonialismus, weil man dachte, nette Länder können nur nette Sachen tun. Aber nach außen hieß diese Politik für England: töten, töten, töten. 1607 sind die Briten in Amerika gelandet und haben unmittelbar danach angefangen, die Einheimischen zu töten. Von da an zieht sich eine klare Linie bis heute durch. Das Pentagon erklärte vor einigen Jahren, es sei notwendig zu töten, um die Welt sicher für amerikanisches Business zu machen. Die USA haben seit 1945 zwischen 12 und 16 Millionen Menschen umgebracht. Das sind Zahlen, die so tabuisiert sind, dass keine deutsche Zeitung sie bringt. Wenn ich so etwas sage, ist das nicht antiamerikanisch, sondern gegen das amerikanische Imperium gerichtet. Ich bin überzeugt, dass wir uns dem Ende des amerikanischen Imperiums nähern. Alle Imperien gehen einmal unter, wenn die Gegenkräfte zu stark werden.

Ist auch der bewaffnete Widerstand in Irak als Gegenkraft legitim?

Widerstand ist legitim. Er wäre aber sehr viel effektiver, wenn er gewaltlos wäre. Gegen den englischen Imperialismus hat der gewaltlose Widerstand Gandhis gesiegt. Und gegen den Nationalsozialismus hat es den Widerstand in der Rosenstraße gegeben.

Aber nicht die Rosenstraße, sondern die Truppen der Anti-Hitler- Allianz haben den deutschen Faschismus besiegt.

Das stimmt, aber vertausendfachen wir das Beispiel der Rosenstraße. Das haben die Menschen 1989 im Falle der DDR gemacht.

Die Fragen stellte Nikolaus Brauns.
Aus: Neues Deutschland, 29. März 2005





* Johann Galtung gilt als Begründer der internationalen Friedens- und Konfliktforschung. 1930 als Sohn eines Arztes in Norwegen geboren, verweigerte er den Kriegsdienst und musste ins Gefängnis. Nach dem Studium (Mathematik und Soziologie) gründete er bereits 1959 in Oslo das erste Friedensforschungsinstitut (PRIO). Er lehrt an der Universität von Hawaii, der Fernuni Hagen, der Universität Oslo und der Friedensuniversität in Schlaining (Österreich). In vielen Ländern, so jüngst auch in Nepal und Sri Lanka, wurde Galtung als Vermittler zur Konfliktlösung eingeschaltet. 1987 erhielt er den Alternativen Nobelpreis für seine Arbeiten zur Friedensforschung.





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