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Von einer Katastrophe in die andere

Wolfgang Fritz Haug über die Krise des Hightech-Kapitalismus

Von Wolfram Adolphi *

Es ist Krise, und alle wissen und spüren es. Zum eigenen Erfahren addiert sich das Trommeln der Medien. Krise überall: in der Weltwirtschaft und in den Weltfinanzen, im Weltklima und in den Weltreligionen, und alles hat Wirkung im Nationalen, Regionalen und Lokalen, in der Demographie und bei der Pflege, in der Bildung und der Sicherheit. Und wenn sie irgendwo nicht ist, die Krise, dann noch nicht - mithin auf jeden Fall drohend. Was auch Krise ist.

Nur noch die Hälfte der deutschen Erwachsenen geht wählen. Krise auch der Demokratie. Das Allgegenwärtige, Komplexe der Krise macht hilflos. Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug sucht in all dem einen Faden. Unternimmt die Anstrengung, »einen theoretisch fundierten Zusammenhang in die Zerfahrenheit der Erscheinungen und Meinungen« bringen zu wollen. Und er tut es bestechend. Indem er bei Marx und Engels ist und bei Rosa Luxemburg und Gramsci. In Wort und Methode. Will sagen: nicht bei ihnen stehen bleibend, sondern so viel als möglich des Weitergedachten (das Register der Zitierten umfasst um die 400 Einträge) kritisch aufnehmend und zugleich immer wieder zu ihnen - den Klassikern - zurückkehrend.

Er tut es mit Einsicht: Die Große Krise - oder mit Elmar Altvater auch: die »strukturelle« oder »Formkrise« - des Hightech-Kapitalismus habe dessen Potenziale »noch nicht ausgereizt«; es stünden »die Weiterbildung seiner Ordnungsmuster im Weltmaßstab und seine innergesellschaftliche Einbettung an«.

Er tut es mit Sorge: Die Große Krise des fordistischen Kapitalismus vor 80 Jahren »gebar … in Deutschland die Ungeheuer des Nazismus, der Judenverfolgung und des Zweiten Weltkriegs« - »Wir können nicht wissen, was aus der neuen Großen Krise folgt«.

Und er tut es mit Hoffnung: In der Krise stecke die Chance für »alternative Entwicklungspfade«. Ein solcher Pfad könnte die »Politik der Energiewende« sein, die »den Kapitalismus … für die Rettung eines für die menschliche Gattung bewohnbaren Biotops auf Erden einspannt«, oder ein darüber hinausgreifender, bestehend in der Schaffung einer politischen Ökonomie, »die den kapitalistischen Bann bricht, der eine wachstumslose Reproduktion damit straft, das er die Produktionsfaktoren auseinander reißt und unbeschäftigtes Kapital und unbeschäftigte Arbeiterbevölkerung einander gegenüberstellt inmitten ungetaner Arbeiten«.

Aber Vorsicht mit der Hoffnung, sagt er schon in der Einleitung: Dass sie und der Wunsch sich »zum Vater des Gedankens« machen, »können wir nicht vermeiden«. Aber im Buch erhalten sie nie das letzte Wort. »Schon der nächste Moment kann sie widerlegen.«

Zwischen Einleitung und Ausblick präsentiert Haug sechs spannende Kapitel über die Finanzkrise und weitere sechs über die »Hegemoniekrise«. Themen sind also im ersten Teil z. B. die Naturgrundlage und die Epochenspezifik der Krise, die »Zirkulation ohne Zirkulationszeit«, die »Hochfrequenz-Werbung«, die »Triebkraft hinter der Finanzgetriebenheit« und - in einem »theoretischen Intermezzo« - die Marxschen Krisenbegriffe. Im zweiten Teil geht es um Herrschaft und Hegemonie: um das Schicksal der US-Hegemonie unter Obama, um »Chimerika«, das mit Chinas beispiellosem Aufstieg verbundene »amerikanisch-chinesische Paradox« völlig neuer gegenseitiger Abhängigkeiten, das mit seinem grell aufleuchtenden Erscheinen eine »tektonische Verschiebung der Weltverhältnisse« bewirkte und auch schon wieder in die Krise geriet. Und es geht um die Gegenbewegungen: um »Hightech-Antikapitalismus«, um die »Rebellion, die aus dem Netzwerk kam« sowie um »den globalen Gesamtarbeiter und die Welt-Arbeiterklasse«.

Haug ist auch hier - womit er sich seit mehr als einem halben Jahrhundert in einer außergewöhnlich langen Reihe an Büchern, Einträgen für das von ihm begründete »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus« und Zeitschriftenartikeln einen Namen gemacht hat - radikal gründlicher Analytiker und anspruchsvoller, Vorwissen und Lernbegierde erwartender Lehrer zugleich. Er will lehren, und zwar nicht nur in Bezug auf diesen oder jenen Zusammenhang, dieses oder jenes Argument, sondern nachdrücklich auch in Bezug auf die Methode, um die es ihm geht. »Nicht nur«, postuliert er, »die von der Forschung festgestellte Faktenlage, sondern auch die forschungsleitenden Deutungsmuster geben den Ausschlag.« Dies liege beschlossen in der radikalen Geschichtsimmanenz, die Antonio Gramsci »absoluten Historizismus« nennt. Was die Fakten bedeuten, könne - weil »ihr Sinn in der geschichtlichen Praxis ankert« - nicht anders als tastend und im Meinungsstreit herausgehoben werden. Diesen Meinungsstreit sucht und pflegt Haug auch in diesem Buch, und mit beispielhafter Kraft stemmt er sich gegen vermeintliche Unerklärbarkeiten ebenso wie gegen die nicht enden wollenden Versuche ausgerechnet der »Wissensgesellschaft«, marxistisches Denken für obsolet zu erklären.

»Der Selbstlauf der ökonomischen Kategorien des Kapitals«, bilanziert Haug, »eilt von einer Katastrophe zur nächsten, eine schlimmer als die andere.« Diesem Selbstlauf »praktisch entgegenzugehen«, verlange die von Marx im Kapital gemeinte »geschichtliche Tat«. In welcher Gestalt diese sich zeigen wird, ist völlig offen. Aber Haug wäre nicht Haug, wenn er nicht immer wieder dafür Sorge trüge, im Sinne des von Gramsci gewollten »organischen Intellektuellen« der Linken an ihrem Werden teilhaben zu können: durch Aufklärung im besten Sinne dieses Wortes.

Wolfgang Fritz Haug: Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise. Argument Verlag, Hamburg. 366 S., br., 19,95 €

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Juni 2012


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