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Heinz-Dieter Haustein beschreibt den aufhaltsamen Aufstieg des Geldkapitals in der Geschichte

Von Klaus Müller *

Ein Wechsel der Gemütslage begleitet das Auf und Ab der Produktion. Die Stimmung schlägt Purzelbäume wie die Preise an den Börsen. Unternehmer atmen auf, wenn die Wirtschaft sich erholt. Politiker sind erleichtert, wenn Investitionen und Beschäftigung zunehmen. In solchen Zeiten heißt es übermütig: Krisen sind ein für allemal vorbei.

Plötzlich stehen die Gralsritter der Marktwirtschaft ratlos vor Massen von Waren, die unverkäuflich sind. Preisblasen platzen, Börsen krachen, Banken bersten. Über den Staaten kreist der Pleitegeier. Die Finanzmärkte gleichen Schlachtfeldern, übersät mit Leichen, auf den Feldherrenhügeln strahlend die wenigen Sieger. Niedergeschlagen oder erfreut, je nachdem, welcher Partei man sich zurechnet, heißt es: Das System ist bald am Ende.

Heinz-Dieter Haustein seziert die erste Mega-Krise des neuen Jahrtausends, die eingebunden ist in ein komplexes sozialhistorisches Umfeld. Er öffnet auch ein Fenster in die Geschichte. Der Blick zurück schärft die Sicht auf das Heute. Man schrieb das Jahr 371 v. u. Z., als es in Athen den ersten »Bankenkrach« der Weltgeschichte gab. Der Autor erinnert daran, konzentriert sich aber auf die Geld-, Banken-, Finanz- und Überproduktionskrisen der letzten 160 Jahre. Er zeigt, wie die Muster sich gleichen. Bekanntes wiederholt sich in neuen Formen und Dimensionen. Diese unaufgeregte Sicht nimmt dem aktuellen Spektakel den Schein des Außergewöhnlichen. Schwere Krisen kratzen am Image des Kapitalismus. Doch sie gehören zu ihm wie Blitz und Donner zum Wetter. Marx hat den letzten Grund für sie in der Konsumtionskraft der Massen gesehen, die beschränkt bleibt im Vergleich zum rastlosen Trieb, die Produktion auszudehnen um des Profites Willen.

Die neoliberale Ökonomie hat weder plausible Erklärungen für das Dilemma noch besitzt sie taugliche Rezepte, aus ihm herauszukommen. Viele sehen deshalb den Ausweg in den Lehren von Keynes. Gut, dass Haustein dessen zynischen Vorschlag erwähnt, die Geldillusion der einfachen Leute zur unmerklichen Senkung der Reallöhne zu missbrauchen. Erhöht die Preise statt die Nominallöhne zu senken, empfahl der Engländer den Unternehmern.

Selbstherrlich beharren die Mächtigen auf ihren überholten Denk- und Verhaltensweisen. Die Oberschicht hat alles beseitigt, was der Profitmaximierung abträglich ist. Eine Krisentherapie sieht anders aus. Der Autor zeigt, wie ignorant und ohnmächtig die Notenbanken sind. Für Samuelson, den Nobelpreisträger, sind diese neben Feuer und Rad die wichtigste Erfindung der Menschheit.

Haustein warnt vor verhängnisvollen Orientierungen: vor dem Glauben, das Wirtschaftswachstum löse alle Grundprobleme, vor der trügerischen Hoffnung, technische Innovationen könnten die ökologische Modernisierung und den sozialen Ausgleich garantieren, vor der Manie der Globalisierung. Der weltweite Kampf um Rohstoffe und Kunden, der Bau von Produktionsstätten rund um den Globus entfernt von den Absatzmärkten vergeuden Ressourcen. Transportströme schwellen sinnlos an. Armut und Hunger in der Welt nehmen zu.

Wie der Aufstieg des Arturo Ui kann auch der des Geldkapitals aufgehalten werden. »Die herrschende kapitalistische Weltwirtschaft ist eine Ökonomie des steigenden Mehrwerts, der Akkumulation und zunehmender Ausbeutung des Menschen und der Natur. Sie muss schrittweise abgelöst werden durch eine neue Ökonomie der sozial-ökologischen einfachen Reproduktion.« Sonst hat die Menschheit keine Chance.

Der Autor gibt viele Anstöße: Man muss den öffentlichen Beschäftigungssektor ausbauen, neue flexible Arbeitszeitmodelle zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit einführen, Überstunden senken, die Jahresarbeitszeit kürzen, die Arbeitswelt human gestalten, prekäre Beschäftigung beenden, die Mitbestimmung erweitern, Bildung und Weiterbildung für alle garantieren, mit einem sozialen Grundeinkommen und steigendem Realeinkommen der Bevölkerung einen angemessenen Lebensstandard sichern, die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung verringern und vieles andere mehr. Haustein weiß, durchsetzbar ist das alles nur, »wenn sich das Kräfteverhältnis der sozialen Gruppen zugunsten der Arbeit verändert«.

Scharfsinnig und packend lüftet der Autor die Geheimnisse einer komplexen, von Krisen geschüttelten Welt. Ein empfehlenswertes Buch: argumentations- und faktenreich, in einer flüssigen, geschliffenen Sprache geschrieben.

Heinz-Dieter Haustein: Zeitenwechsel. Der aufhaltsame Aufstieg des Geldkapitals in der Geschichte. LIT-Verlag. 158 S., br., 19,90 €.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. April 2012


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