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"Klassische" Texte zur Imperialismustheorie

Altes neu aufgelegt – zur Erklärung der heutigen Weltlage

Nach dem Untergang der Sowjetunion und des als kommunistisch bezeichneten Systems im »Ostblock« war in vielen Debatten nicht mehr viel von Imperialismus zu hören. Der Krieg der USA »gegen den Terror« sowie der US-Angriff auf den Irak haben einige kritische Geister indes wieder hellhörig gemacht. Der Ruf nach einer konsistent antiimperialistischen Kritik am neoliberalen Gebaren der imperialistischen Mächte des Nordens wird lauter. Es sei höchste Zeit, genauer nach Fakten und Theorien zu fragen, die im 20. Jahrhundert dem Kapitalismus in den Metropolen, seiner Politik und vor allem seiner Wirtschaft das Etikett Imperialismus verpaßten, meint der Berliner Politikwissenschaftler Stefan Bollinger in seinem jüngsten Buch. Er konstatiert, daß nicht nur nicht mehr über Imperialismustheorien in intellektuellen Kreisen diskutiert wird, sondern daß selbst entsprechende Analysen im Buchhandel und in den Bibliotheken schwer zu bekommen sind.

In der Tat kann wohl jeder, der sich für Imperialismustheorien interessiert, bestätigen, daß »klassische« Texte der Imperialismusanalysen schwer zu beschaffen sind. Das ist um so bedauerlicherer, als mit dem Imperialismusbegriff in bestimmten Zweigen der Historiographie inflationär umgegangen wird. So wird Imperialismus in der außereuropäischen Geschichtsschreibung oftmals mit Kolonialismus und/oder Expansion gleichgesetzt. Imperialismus wird zudem von einigen Wissenschaftlern, die sich anscheinend nie tief in die diesbezüglichen Theorien eingearbeitet haben, als Vorläufer oder gar selbst als Globalisierung betrachtet. Deshalb hat Bollinger einige »klassische« Originaltexte zusammengetragen und in dem Band »Imperialismustheorien. Historische Grundlagen für eine aktuelle Kritik« publiziert.

Der vorliegende Reader soll jene Analysen linker Wissenschaftler und Publizisten in Erinnerung rufen, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die imperialistische Expansion vor allem Englands und Deutschlands geißelten. Textstellen aus Büchern bekannter Imperialismustheoretiker werden vom Herausgeber kommentiert und in ihren historischen Kontext gestellt. Er hat dafür die entsprechenden Texte von John A. Hobson, Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky, Nikolai I. Bucharin und Wladimir I. Lenin zusammengestellt.

Völlig zu Recht betont Bollinger in seiner Einleitung, daß der Imperialismusbegriff wie jeder andere politische oder geschichtswissenschaftliche Begriff in die politischen und geistigen Auseinandersetzungen seiner Zeit eingebunden ist. Den historischen Kontext für die Entstehung der Imperialismustheorien umreißt der Herausgeber in seinem einleitenden Beitrag »Wiederkehr der Imperialisten? Alte Theorien und neue Herausforderungen« auf hohem theoretischen Niveau.

Herausgekommen ist eine wichtige Publikation, auf die sicherlich Interessierte und Studierende zurückgreifen werden, sei es wegen der abgedruckten Texte (die mit Leichtigkeit einen Vergleich zu anderen Imperialismusanalysen zulassen) oder wegen der kenntnisreichen Einführung von Stefan Bollinger, der es versteht, die heutige Weltlage mit Hilfe der »alten« Imperialismustheorien zu erklären.

Ulrich van der Heyden

Aus: junge Welt, 20. Juni 2005

Stefan Bollinger (Hrsg.): Imperialismustheorien. Historische Grundlagen für eine aktuelle Kritik. Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien 2004, 173 Seiten, 12,90 Euro


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