Marx ist wieder "in"
An deutschen Unis wurden Kapital-Lesekreise gegründet
Von Nissrine Messaoudi *
Jede Krise bring auch Positives. Dank der aktuellen Finanzkrise ist das systemkritische Bewusstsein bei vielen neu entfacht oder gar neu entstanden, wie die gut besuchten »Kapital«-Lese- kreise an 31 Universitäten zeigen.
Der Hörsaal der Humbolt-Uni Berlin ist brechend voll, selbst auf der Treppe findet man nur mühsam Platz. Alle sitzen dicht gepfercht nebeneinander, einige lesen, einige gucken sich wie im Kinosaal um, wer die gleichen Interessen teilt, andere unterhalten sich. Es handelt sich nicht um einen Uni-Pflichtkurs, die Anwesenden hat letzte Woche Donnerstag nicht ein Schein oder ein Bachelor-Punkt in den Hörsaal gelockt, sondern Marx. Jawohl, Karl Marx.
Auf der Treppe sitzt auch Claudia Schwarz. Die junge zierliche Studentin hat »Das Kapital« noch nicht gelesen, ist aber fest entschlossen, es zu tun. »Vom Gefühl her bin ich links. Wenn mich Leute fragen warum, kann ich das allerdings nicht richtig begründen.« Die Erstsemestlerin hat sich dem Lesekreis angeschlossen, um zu verstehen, was sie eigentlich ablehnt -- den Kapitalismus. Und welches Werk eignet sich besser, wenn man Kritik an neoliberalen Theorien äußern möchte?
So verwundert es eigentlich nicht, dass so viele Studenten und Interessierte -- nach Vorlesungszeit - in der Humbolt Universität in Berlin zur Auftaktveranstaltung des Kapital-Lesekreises zusammen kamen. Bundesweit zählten die Veranstalter rund 2000 Teilnehmer. Seit letzten Winter bereitet der Studierendenverband DIE LINKE.SDS in 31 Städten Kapital-Lesebewegungen unter dem Motto »Marx neu entdecken -- Das Kapital lesen!« vor. In zwei Semestern soll Das Kapital Band I gelesen, diskutiert und kritisiert werden. Professoren, Marx- und Wirtschaftsexperten stehen den Lesekreis-Besuchern in Internetforen mit Hilfestellungen zur Seite.
»Wir haben eine ganz große Unterstützerin für unsere Lesekreise gefunden - die Finanzkrise«, sagt Anne-Kathrin Krug und sofort bricht großer Applaus sowie Gelächter aus. »Die natürliche Gier des Menschen reicht uns als Begründung für die Finanzkrise nicht aus, es handelt sich um einen klaren Systemfehler«, fährt die Promovierende und Lesekreis-Mitorganisatorin fort.
Wer in der DDR studierte, beschäftigte sich unweigerlich mit dem »Kapital«. Doch auch an bundesdeutschen Hochschulen haben Marx-Lesekreise Tradition. Ende der 60er Jahre trafen sich regelmäßig tausende Studenten, um sich mit Marx und seinem Werk auseinanderzusetzen. Sie kamen zusammen, um ihrer Kritik am Kapitalismus Ausdruck zu verleihen. Die gewünschte Veränderung blieb jedoch aus, das Interesse ebbte ab. Marxismus galt seit jeher als verstaubte Theorie. In den letzten Jahren wurden teilweise kritische Wissenschaften von den Lehrplänen verdrängt oder durch neoliberale Wissenschaften ersetzt. Doch der Bedarf, sich mit Marx und mit Kritischen Theorien zu beschäftigen, steigt wieder.
»Wenn der Staat jahrelang behauptet, er habe kein Geld für Bildung und für Armutsbekämpfung übrig und über Nacht ein Rettungspaket von 470 Milliarden Euro für Banken bereit stellt, fragen sich immer mehr Menschen, in welcher Welt wir eigentlich leben«, erklärt Michael Heinrich die aufflammende Kritik in der Bevölkerung. Der Politologe und Marxismus-Experte will die Studenten motivieren, sich des Marxschen Werkes anzunehmen. »Wer sich mit dem heutigen politökonomischen System auseinander setzen will, sollte Marx lesen. Auch wenn der erste Band vor 140 Jahren geschrieben wurde, ist er keineswegs veraltet«, meint der Politologe.
Die Lesekreise sollen allerdings über das Lesen des Werkes hinaus gehen. Die bundesweiten Lesekreise sollen sich vernetzen, sich austauschen und »Alternativen zum Kapitalismus« herausarbeiten, fordert eine Studentin bei der anschließenden Fragerunde. Ein aus Hamburg angereister Besucher geht einen Schritt weiter: »Wenn wir Marx neu entdecken wollen, dann nicht nur den Ökonom, sondern auch den Revolutionär!«
Während im Hörsaal die Fragerunde weiter geht, schleicht sich Anna Gomer für eine kurze Zigarettenpause aus dem Raum. Sie engagiert sich ebenfalls im Studierendenverband für die Lesekreise. Linkspolitisch aktiv ist die Germanistik-Studentin jedoch erst seit zwei Jahren. »Ich bin vor zwei Jahren Mutter geworden, das war eine harte Zeit für mich«, sagt die 29-Jährige. Weil sie am eigenen Leib erfahren musste, was es heißt Arbeitslosengeld II zu beziehen, engagiert sich die junge Mutter mit kurzen dunklen Haaren für mehr Systemkritik an der Uni. »Seit der Einführung des Bachelor-Studiums haben sich die selbstorganisierten Strukturen an der Hochschule verschlechtert«, beschwert sich die Aktivistin. Durch den Bachelor haben Studenten weniger Zeit, sich außerhalb des Lehrplans zu engagieren. Auch das Studium an sich leidet an der Umstrukturierung. »Ich konnte glücklicherweise noch auf Magister studieren. Wir haben uns für die Inhalte der Kurse interessiert. Seit dem Bachelor geht es nur noch um Prüfungen und Punkte, die man für einen Kurs bekommt«, moniert die angehende Germanistin. An einen schnellen Umsturz des Systems glaubt sie zwar nicht, aber die wachsende Unzufriedenheit spürt Anna Gomer nicht nur in der Uni. »Auf der Straße beobachte ich immer mehr Flaschensammler, oft sind es Rentner. Ich bin nicht die Einzige der es auffällt und denke, dass es die Menschen aufrütteln wird, sich zu fragen was falsch läuft und was wir verändern können.«
Im Internet: www.kapital-lesen.de
* Aus: Neues Deutschland, 10. November 2008
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