Das Kapital geht dem Profit nach - egal, wo es ihn kriegt
Ein kleiner Jahrhundertrückblick für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
Von Annelies Laschitza *
Das neue Jahr, das vor einem Säculum für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht anbrach, sollte sich als ein besonders ereignisreiches Jahr erweisen. Rosa Luxemburg schrieb 1912 wie im Rausch an ihrem ersten großen Werk »Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus«, das dann im Januar 1913 im »Vorwärts«-Verlag Berlin erschien. In kritischer und kreativer Anlehnung an Marx' »Kapital« wünschte sie sich vor allem theoretisches Interesse für ihr Buch. In der Tat ist dieses bis heute nicht erloschen. Erst jüngst zeugte die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz in Moskau von der unverminderten Aktualität ihrer Untersuchungen, die sich weit über Europa hinaus erstreckten.
Das Hauptmerkmal des Imperialismus sah Rosa Luxemburg »in der Ausbreitung der Kapitalsherrschaft aus alten kapitalistischen Ländern auf neue Gebiete und im wirtschaftlichen und politischen Konkurrenzkampf jener Länder um solche Gebiete«. Der Kapitalismus mit seiner Tendenz, zur Weltform zu werden, werde an der inneren Unfähigkeit zerschellen, eine Weltform der Produktion zu sein, hieß es im Schlusspassus. Die Lösung dieses Widerspruchs werde durch den Sozialismus möglich werden, »der auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird«.
Das Buch sorgte sofort für Aufsehen - und es hagelte Kritik. Rosa Luxemburg, die wusste, dass bei der Erkenntnissuche Irrtümer nicht auszuschließen sind, und die ahnte, dass ihre Kritik an den Marxschen Schemata zur Erklärung des Reproduktionsprozesses des Kapitals nicht von allen Marxisten geteilt werden würde, erschrak dennoch über die Fülle und Heftigkeit der Rezensionen. Dem Rat Franz Mehrings folgend, der wie wenige ihr Werk lobte, entschloss sie sich zu einer polemischen Schrift gegen die Dogmatiker, Missdeuter und Verleumder. Sie gab ihr den Titel: »Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik«. Sie konnte erst 1921 erscheinen.
Karl Liebknecht trug 1912 nach aufregendem Wahlkampf in der Stichwahl seines Wahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland einen klaren Sieg über den konservativen Gegenkandidaten davon. Nunmehr war er Parlamentarier auf allen drei Ebenen: Stadtverordneter von Berlin seit 1902, Landtagsabgeordneter in Preußen seit 1908 und Reichstagsabgeordneter. In allen drei Gremien focht er unentwegt um die Verbesserung des Lebens der arbeitenden Bevölkerung und um die Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ungestüm lebte er fast »nur noch im Parlament, (in) Sitzungen, Kommissionen, Besprechungen, in Hatz und Drang, stets auf dem Sprung von der Stadtbahn auf die Elektrische und von der Elektrischen ins Auto, alle Taschen vollgepfropft mit Notizenblocks, alle Arme voll frisch gekaufter Zeitungen ... Leib und Seele mit Straßenstaub bedeckt ...«.
Im Reichstag ging es ihm in erster Linie darum, die Verlogenheit des ständigen Geredes seiner notorischen Gegner von »unserem Vaterlande« zu entlarven. »Das Kapital geht dem Profit nach, und wo es ihn kriegt, da nimmt es ihn, ob innerhalb oder außerhalb des Vaterlandes, ist ihm absolut gleichgültig.« Das Vaterland sei »nicht in Gefahr vor dem äußeren Feinde, sondern vor jenen gefährlichen inneren Feinden, vor allem vor der internationalen Rüstungsindustrie«. Folglich gelte es mit aller Entschiedenheit für die Erhaltung des Friedens zu kämpfen und jene Kräfte und Tendenzen zu entlarven, die die Gefahr eines verheerenden Krieges in Europa heraufbeschworen.
Dafür kam ihm ein anonymes Schreiben und die Abschrift von vertraulichen Berichten mit militärischen Interna aus dem Kriegsministerium und der Heeresverwaltung zupass. Der Absender war Herr von Metzen. Der im September 1912 entlassene Direktor des Berliner Krupp-Büros hatte Liebknecht ausgesucht, »als einen Vertreter derjenigen Partei, von der ich erwarte, dass sie ohne Rücksicht auf die Macht u. die soziale Stellung der Schuldigen für eine strenge Verfolgung dieses schmutzigen u. gemeingefährlichen Treibens eintritt«. Karl Liebknecht nahm die Sendung zum Aufhänger für einen Enthüllungsfeldzug gegen die Friedrich Krupp AG, einen der einflussreichsten Konzerne der Rüstungsindustrie, mit dem er 1913 im In- und Ausland für Furore sorgte. Er zog beispielhaft alle Register parlamentarischer und außerparlamentarischer Taktik und fand vielseitig große Beachtung. Hellmuth v. Gerlach empfand es als einen »wahren Segen«, dass es Sozialdemokraten wie Karl Liebknecht gab. Bertha v. Suttner pries den Wert der Enthüllungen über Krupp für die Erweiterung der Friedenskräfte. Mutig nahm Karl Liebknecht in Kauf, dass ihm und seiner Familie Repressalien drohen könnten.
Seine Familie befand sich seit dem plötzlichen Tod von Julia Liebknecht, geborene Paradies, der 38-jährigen Mutter seiner drei Kinder Wilhelm, Robert und Vera, am 22. August 1911 in einer nahezu ratlosen Situation. Wider alle Bedenken entschied sich Karl Liebknecht am 1. Oktober 1912 für die Eheschließung mit Sophie Ryss aus Rostow am Don, seiner heimlich und innig Geliebten seit 1906. Dass »Du nicht ehelos bleiben würdest, nahm ich an«, schrieb August Bebel. Es läge ja wohl in seinem und seiner Kinder Interesse. Er wünschte ihm, dass er die passende Frau und Mutter gewonnen habe. Sie werde keinen leichten Stand haben. »Erstens soll sie Dich an die Zügel nehmen, was Dir nicht schaden dürfte, und dann soll Dein Ältester ein schwer zu behandelnder Bursche sein. Mit zwei so obstinaten Burschen fertig zu werden wie Du und Dein Sohn, das ist ein Meisterstück.«
Im Blickfeld von Rosa Luxemburg stand Karl Liebknecht 1912 noch immer nicht. Ihre Freundeskreise, Tätigkeitsbereiche, Kampfes- und Lebensweisen waren zu verschieden. Aber die beiden antimilitaristischen Friedensaktivisten beteiligten sich selbstverständlich im politischen Einklang engagiert an der Vorbereitung des für den 24./25. November 1912 nach Basel einberufenen Außerordentlichen Internationalen Sozialistenkongresses. Dieser Kongress sollte eine gehörige Antwort auf den am 8. Oktober 1912 ausgebrochenen ersten Balkankrieg geben. Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien führten bis Mai 1913 einen nationalen Befreiungskrieg gegen die Türkei. Angesichts der Gefahr der Einmischung Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands war der Frieden in Europa äußerst bedroht.
Bei der Arbeit für einen neuen Band zu den fünf Bänden der »Gesammelten Werke« Rosa Luxemburgs entdeckten wir im »Vorwärts« vom 30. Oktober 1912 die Wiedergabe eines Beitrages in der Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros am 28. Oktober 1912 in Brüssel, der nicht mit der in Band 3 abgedruckten Stellungnahme zum Entwurf des Manifests für den Baseler Kongress identisch ist. Er bringt prononcierter zum Ausdruck, worauf es Rosa Luxemburg ankam: »Wir müssen vor allem über die Taktik des Proletariats in der Kriegsfrage sprechen. Ich glaube, dass wir seit 1905 wissen, wo die wahre Schutzwehr gegen den Zarismus zu suchen ist. Die revolutionäre Bewegung des russischen Proletariats ist die Schutzwehr gegen die Kriegsgefahr. Das müssen wir aussprechen. Das ist keine Abstraktion, denn die Wahlen, die Massenstreiks beweisen es. Wir haben in Polen die Probemobilisierung gehabt. Dort müssten im Kriegsfall Polen gegen Polen kämpfen. Wir Sozialdemokraten haben schon ein Manifest herausgegeben, worin wir offen erklären, dass dem Krieg bloß die Aktion des Proletariats entgegengesetzt werden kann. In den anderen Ländern stehen die Dinge analog. Wir müssen uns von der Stuttgarter Resolution inspirieren lassen. Mit bloßen Protesten und Manifesten ist indes wenig getan. Wir müssen aussprechen 1., dass der jetzige Krieg der Einzelfall einer allgemeinen Tendenz der kapitalistischen Entwicklung ist, 2., dass die Massenaktion notwendig ist, 3., dass das Proletariat seine Aktion verschärfen muss, 4., dass das internationale Proletariat in allen Ländern die Pflicht hat, auf einen Krieg mit energischen Aktionen zu antworten. Wir müssen empfinden, dass wir in einer neuen geschichtlichen Epoche stehen und dies durch die Kühnheit unserer Beschlüsse zum Ausdruck bringen.«
Karl Liebknecht sprach am 17. November 1912 im Auftrag des Internationalen Sozialistischen Büros in Budapest auf einer der Großkundgebungen, die an diesem Tag in allen europäischen Hauptstädten stattfanden. Die Zeiten der Kabinettskriege seien vorbei, rief er in die unübersehbare Menschenmenge. Aus einem Krieg wie auf dem Balkan könne angesichts der Hochrüstung und der Einmischungsgelüste der europäischen Großmächte rasch ein Weltbrand entstehen. Da heutige Kriege angesichts der fortschreitenden modernen Waffentechnik auf Massenheere angewiesen seien, werde es für die Herrschenden immer aussichtsloser, Kriege wider den Volkswillen anzuzetteln und auszuweiten. »Jede herrschende Klasse und jede Regierung, die es wagen sollte, Europa in Brand zu legen, wird der Fluch des Volkes verfolgen, sie werden von dem Fluche der Geschichte, von dem Hass und den Verwünschungen der Völker ereilt werden, all ihrer Heldentaten nimmer froh werden.«
Der bis zum Ende ihres Lebens konsequente Kampf Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts für den Frieden gehört uneingeschränkt zum ehrenden Gedenken an die beiden.
* Prof. Dr. Annelies Laschitza, Jg. 1934, Luxemburg- und Liebknecht-Biografin (»Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg«, »Die Liebknechts«) sowie Herausgeberin der Gesammelten Werke und Briefe von Rosa Luxemburg, ist Mitglied der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft.
Aus: neues deutschland, 14. Januar 2012
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