Das ABC lernen
In Berlin wurde das Marx-Engels-Zentrum eröffnet
Von Arnold Schölzel *
Über die wenigen Wochen des Sozialismus der Pariser Commune verfaßte Marx in kürzester Zeit eine bis heute klassische Schrift, den »Bürgerkrieg in Frankreich«. Über die mehr als 70 Jahre des realen Sozialismus liegt nichts Vergleichbares vor, nichts zur Beantwortung der Frage, warum es in ihm niedrige Arbeitsproduktivität und geringe Produktinnovationen gab, warum er nicht demokratisch war. Was ist die Voraussetzung für einen Sozialismus, den die Menschen wollen? Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth (Marburg) gratulierte mit diesem Problemstrauß dem Marx-Engels-Zentrum Berlin (MEZ) zu dessen Eröffnung am Sonnabend in seinem Vortrag über »Revolutionäre Theorie in unrevolutionären Zeiten«. Und verband das mit der Aufforderung: »Über den Rand dessen hinausgehen, was wir gern hören.«
Der Satz könnte ein Leitfaden für das werden, was sich die Initiatoren des MEZ, die Berliner Politiker Marianna Schauzu und Andreas Wehr sowie die anderen Mitglieder des siebenköpfigen Beirates, vorgenommen haben. Als »Stätte des Austauschs und der Schulung« bezeichnete Wehr eingangs die Intention der neuen Einrichtung und stellte sie in die Tradition der 1927 von Hermann Duncker gegründeten und bis zur Zerschlagung durch die Faschisten 1933 geleiteten Marxistischen Arbeiterschule (MASCH). Die Arbeit des MEZ solle mit anderen linken Bildungseinrichtungen, vor allem mit der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal, aber auch mit der Berliner »Hellen Panke« und der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie mit der Tageszeitung junge Welt verknüpft werden. In einer Situation, in der die »Substanz marxistischen Denkens kleiner werde«, sei das Studium des »Kapital«, der marxistischen Philosophie und der Klassentheorie ein Anfang, um an politischer Bewußtseinsbildung mitzuarbeiten. Das MEZ wende sich daher vor allem an jüngere Leute.
An die MASCH der Weimarer Republik erinnerte auch der Vorsitzende der Marx-Engels-Stiftung, Hermann Kopp, der ein Grußwort an die etwa 60 Anwesenden richtete: Das MASCH-Studienjahr 1931/32 eröffnete Albert Einstein mit dem Vortrag »Was der Arbeiter von der Relativitätstheorie wissen muß«.
Ein ähnliches Thema untersuchte der Mathematiker und Physiker Erwin Marquit (Minneapolis/USA) im ersten Vortrag des Abends: »Wie der dialektische Materialismus zum Verständnis der Naturwissenschaften beiträgt«. Er griff eine Bemerkung von Marx auf, wonach die dialektische Methode die »Methode, den Stoff (= die Materie) zu behandeln« sei, und wies die These zurück, »zwischen dem Humanisten Marx und den grobschlächtigen und kaltherzigen Engels und Lenin, die irrtümlich versucht hätten, die Dialektik der Natur aufzuzwingen«, habe ein philosophischer Gegensatz bestanden. Für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Dialektik und Realität stellten die Wissenschaften reiches Material zur Verfügung, denn »in allen Erkenntnisfortschritten von Natur- und Gesellschaftswissenschaftlern und anderen großen Denkern« widerspiegelten sich Elemente dialektisch-materialistischen Denkens. Marquit illustrierte dies u.a. an Hand der allgemeinen Relativitätstheorie, am physikalischen Begriff der Energie und an den Newtonschen Bewegungsgesetzen. Er ermutigte das MEZ, sich dem dialektisch-materialistischen Gehalt konzeptioneller Grundlagen verschiedenster Forschungsgebiete zu widmen.
Einen aktuellen Grund für die Arbeit des MEZ sah der andere Redner des Abends, Georg Fülberth, in zwei Phänomenen heutigen Geisteslebens. Erstens: Die Marx-Renaissance einschließlich der »neuen Marx-Lektüre«, die den historischen Materialismus in den Fundus des 19. Jahrhunderts versenke, aus dem er »nicht auftauchen und keinen Ärger machen« solle. Zweitens: Das sich in den Feuilletons ausbreitende antikapitalistische Ressentiment, bei dem es sich um »allgemeines Gemaule« und »Dampfablassen« handele. Ökonomie, Politik und die praktische Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft seien aber das, was Marxismus ausmache.
Verbreitung von marxistischem Wissen, so das Fazit aller Redner, sei das, was gerade in nichtrevolutionären Zeiten, wenn »die Menschen den Sozialismus nicht wollen« (Fülberth), not tue und möglich sei. Nichts anderes ließ sich Brechts »Lob des Lernens« entnehmen, das Diether Dehm – begleitet von Michael Letz am Piano – neben anderen Liedern vortrug: »Lerne das ABC, es genügt nicht, aber /Lerne es! Laß es Dich nicht verdrießen!«
* Aus: junge Welt, Montag, 7. Oktober 2013
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