Historisch oder logisch?
Der neue Methodenstreit um Karl Marx und die MEGA-Edition
Von Gert Lange *
Die Attraktivität mancher gemeinnütziger Vereine hat etwas
Floristisches. Ihr Erscheinungsbild gleicht etwa dem des rätselhaften
Rhododendron. Zwar bekannt, doch übers Jahr unauffälliges, üppiges,
unspektakuläres Blattwerk. Dann aber treiben sie prächtige Dolden, und
wenn man genau hinsieht, hat jede Einzelblüte etwas Orchideenhaftes.
Dieses Gleichnis fiel mir ein, da die Zeit doch längst überfällig ist,
über den »Verein zur Förderung der MEGA-Edition« zu schreiben. Wer sich
mit dem Erbe linker Geistigkeit befasst, kennt natürlich die MEGA, die
Marx-Engels-Gesamtausgabe. Aber den Verein? Er ist 1991 gegründet
worden. Das Augenmerk richtet sich nicht allein darauf, unter
schwierigen, marktwirtschaftlichen Bedingungen den literarischen
Nachlass von Marx und Engels weiter zu erschließen, sondern es erfasst
auch die Rezeption bis zu derzeit aktuellen Debatten und lässt das
biografische Umfeld der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus
nicht außer Acht.
Mitglieder des Vereins geben im Jahresrhythmus die »Beiträge zur
Marx-Engels-Forschung. Neue Folge« heraus. Sie wurden ergänzt durch
einige Sonderbände zur Editionsgeschichte seit 1924. Und in korporativer
Verantwortung erscheint die Reihe »Wissenschaftliche Mitteilungen«, in
die größere Einzelpublikationen aufgenommen werden können. Über deren
jüngst vorgelegtes Heft 6 soll hier die Rede sein, weil es in die seit
etwa zehn Jahren wieder aufgeflammte, mit Feuereifer geführte Debatte
über Marxens dialektische Methode eingreift.
Den Hauptteil der Publikation nimmt (neben Ausführungen von Ingo Elbe
und Tobias Reichardt) die Arbeit Dieter Wolfs ein. Er knüpft an seine
Schrift »Zur Konfusion des Wertbegriffs« an (Heft 3 der
»Wissenschaftlichen Mitteilungen«), worin er gegen eine Interpretation
der Verfahrensweise von Marx polemisiert, wie sie Helmut Reichelt und,
mit anderer Gewichtung, Hans Georg Backhaus zu verstehen meinen. Was
wiederum eine Kritik seitens Alexander Gallas ausgelöst hat. (Alle hier
genannten Schriften sind im Argument Verlag oder dessen Zeitschrift »Das
Argument« erschienen.) Es könnte noch ein halbes Dutzend Namen in die
Auseinandersetzung verstrickter Kombattanten angeführt werden.
Worüber streiten sich nun so erstaunlich viele intellektuelle
Kapazitäten? Um die Frage, ob Marx bei der Niederschrift der
»Kapital«-Bände einer logischen oder einer historischen Methode gefolgt
sei. Die Diskussion hat in ihrer Ausgiebigkeit etwas typisch
Akademisches. Sieht man einmal vom Ehrgeiz der Beteiligten ab, der dabei
vielleicht auch eine Rolle spielt, wenn sie des Renommees wegen ihre
jeweilige Ansicht bis zum letzten Buchstaben verteidigen, so hat der
Streit eine durchaus fundamentale Bedeutung. Denn wenn es stimmt, dass
Marxens Darstellungsweise eine historische ist, also im Prinzip
ökonomische Geschichtsschreibung - ein Ansicht, der Friedrich Engels
unbewusst Vorschub geleistet hat und die Gallas vertritt -, dann kommt
diese Deutung dem Argument jener Marx-Kritiker sehr nahe, die behaupten,
das »Kapital« sei eben ein Geschichtswerk, das heute nicht mehr gilt,
das wir vergessen können.
Dieter Wolf legt nun anhand der ersten drei Kapitel des Kapital dar,
dass die Verfahrensweise von Marx eine »logisch-systematische« war und
warum er gar nicht anders vorgehen konnte, weil er ein durch seine
Vorgeschichte abgeschlossenes, sich selbst regulierendes System zu
beschreiben hatte, das der kapitalistischen Produktion und Reproduktion.
Wenn man diese methodische Eigenart verstanden hat, sagt Wolf, »kann man
auch feststellen, dass die im 'Kapital' dargestellte einfache
Warenzirkulation als abstrakte Sphäre der Kapitalzirkultion keine
historische, dem Kapitalverhältnis vorausgehende Entwicklungsstufe sein
kann«. Deshalb beginnt Marx eben nicht mit der »einfachen
Warenproduktion«, die gang und gäbe war, bevor sie eine kapitalistische
wurde, wie oft fehlinterpretiert worden ist - er betont in den
»Grundrissen« explizit, diese Phase sei eine »historische Voraussetzung«
und gehöre nicht »in das wirkliche System« der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse. Er beginnt auch nicht mit dem Geld und Preis
der Waren, sondern davon abstrahierend, nachdem er den Doppelcharakter
der Arbeit als konkret nützliche und gesellschaftlich allgemeine
dargelegt hat, mit Tausch und Tauschwert, wiederum hervorhebend, dass
diese Beziehung eine »theoretische, gedachte« ist.
Wolfgang Fritz Haug sieht in diesem methodischen Herangehen eine
Vernachlässigung des Historischen und spricht von einer praxisfernen
»Begriffsanknüpfungsmethode«. Ähnlich Hans Georg Backhaus, der Marx
vorwirft, er habe durch die auf das Logische abhebende Abstraktion die
reale Bezugsbasis verloren. Wolf hält diesen Autoren entgegen, dass sie
den für die gesamte Kritik der politischen Ökonomie gültigen Hinweis von
Marx nicht ernst genommen haben, sein Wirklichkeitsbezug sei die
»contemporäre Geschichte«, das heißt die zeitgenössische Geschichte des
Kapitals nicht mit ihren Zufälligkeiten, sondern methodisch
eingeschränkt, logisch abstrahiert auf die »Kerngestalt« (bei Wolf heißt
es »Kernstruktur«) und den »idealen Durchschnitt«. Wolf: »So kann das
'Kapital' als Basis dafür dienen, jedes reale Stück Zeitgeschichte des
Kapitals zu verstehen ...«
Der Methodenstreit wird oft in Zusammenhang gebracht mit der »neuen
Marx-Lektüre«. Aber Wolf hat Marx nicht »neu gelesen« in dem Sinne, dass
er versucht hätte, krampfhaft eine neue »Lesart« zu finden. Er hat ihn,
was nicht trivial ist, genau gelesen. Die Argumentation ist überzeugend.
Sie könnte über den Kreis der Streithähne hinaus besser wirken, wenn der
Autor etwas mehr Sorgfalt auf klaren, stringenten Ausdruck legte.
Dieter Wolf/Ingo Elbe/Tobias Reichardt: Gesellschaftliche Praxis und
ihre wissenschaftliche Darstellung. Beiträge zur »Kapital«- Diskussion.
Argument-Verlag, Hamburg. 265 S., br., 14,90 €.
* Aus: Neues Deutschland, 19. November 2009
Zur MEGA erschien auch dieser Beitrag:
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