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Hütet euch, auf diese Betrüger zu hören!

Zum 300. Geburtstag von Jean-Jaques Rousseau - ein fiktives Interview *


»Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« So lautet Ihre flammende Anklage, die Sie, Monsieur Rousseau, vor 250 Jahren in ihrem »Gesellschaftsvertrag« gegen das Feudalregime erhoben. An seiner statt fordern Sie Volkssouveränität und begründen: Keine Freiheit ohne Gleichheit und keine Gleichheit ohne Freiheit. Kann es die geben, wenn 500 Konzerne, Banken und Fondsgesellschaften über 50 Prozent der Weltproduktion kontrollieren und über das Schicksal von Völkern entscheiden?

Die modernen Völker haben keine Sklaven. Sie sind selber welche.

Sie verkünden aber, die Gewährleistung der Menschenrechte durch den bürgerlichen Staat würde Unterdrückung und Knechtschaft verhindern?

Ich war nie wahrhaft tauglich für die bürgerliche Gesellschaft, in der alles Zwang, Schuldigkeit und Pflicht ist...

Die auf privatem Produktionsmitteleigentum gegründete kapitalistische Produktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft hat das bisher größte Wachstum der Produktivkräfte und des Wohlstandes bewirkt, aber auch die Kluft zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Ohnmächtigen vertieft und zu zwei verheerenden Weltkriegen geführt, zu Faschismus, Holocaust, Hiroshima, Kolonialismus, Hungerkatastrophen, Gefährdung der natürlichen Umwelt ...

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören, ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemanden.«

Es gab Mahner. Denken Sie an Francis Bacon, Gerrard Winstanley, Graccus Babeuf oder Karl Marx. Aber noch immer unterwirft sich eine Mehrheit freiwillig der Herrschaft des Privateigentums.

Der Reiche ersann den durchdachtesten Plan, der jemals dem menschlichen Geist eingefallen ist. Er bestand darin, die Kräfte selbst jener, die ihn angriffen, zu seinen Gunsten einzuspannen, aus seinen Widersachern seine Verteidiger zu machen ...

Alle liefen auf ihre Ketten zu, in dem Glauben, ihre Freiheit zu sichern. Dies war, oder muss der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben, die natürliche Freiheit unwiederbringlich zerstörten, das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fixierten, aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht machten und um des Profites einiger Ehrgeiziger willen fortan das ganze Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend unterwarfen.

Und wie wäre Ihrer Ansicht nach dieser Zustand zu überwinden?

Vereinigen wir uns, um die Schwachen vor der Unterdrückung zu schützen und einem jeden den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört. Lasst uns Vorschriften der Gerechtigkeit und des Friedens aufstellen, denen nachzukommen alle verpflichtet sind. Lasst uns unsere Kräfte, statt sie gegen uns selbst zu richten, zu einer höchsten Gewalt zusammenfassen, die nach weisen Gesetzen regiert.

Derzeit ist zu beobachten, dass die Kluft zwischen privatem Vermögen und öffentlicher Armut sich immer mehr vertieft. Einige Staaten stehen vor dem Bankrott. Regierende stützen mit Steuergeldern private Banken. Was sagen Sie dazu?

Überall, wo das Geld regiert, ist jenes Geld, das das Volk zur Aufrechterhaltung seiner Freiheit hergibt, stets das Instrument zu seiner Versklavung, und was es heute freiwillig bezahlt, wird dazu verwendet, es morgen mit Gewalt zahlen zu lassen.

Kein Staatsbürger darf so reich sein, um sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, um sich verkaufen zu müssen. Duldet weder Reiche noch Bettler.

Das Notwendigste und vielleicht Schwierigste bei Regieren ist eine strenge Redlichkeit, allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und besonders den Armen vor der Tyrannei der Reichen zu schützen. Es ist also eine der wichtigsten Angelegenheiten der Regierung, der extremen Ungleichheit des Besitzes vorzubeugen, nicht indem sie den Besitzern ihre Schätze wegnimmt, sondern indem sie allen die Mittel entzieht, Schätze anzuhäufen.

Sehen Sie die von Ihnen geforderte Volkssouveränität in den heutigen repräsentativen Demokratien erfüllt?

Aus demselben Grund, der ihre Veräußerung unstatthaft macht, kann die Souveränität nicht repräsentiert werden; sie besteht wesentlich im Allgemeinwillen (volonte generale), und der Wille lässt sich nicht vertreten. Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter, sie sind seine Beauftragten.

Das Volk meint frei zu sein; es täuscht sich sehr. Frei ist es nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft. Der Gebrauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, verdient auch wahrlich, dass es sie wieder verliert.

Die Inhaber der Exekutivgewalt sind nicht die Herren des Volkes, sondern des Volkes Beauftragte, die es nach Belieben ein- und absetzen kann.

Lobbyismus in Parlamenten ist heute ein großes Problem.

Nichts ist gefährlicher als der Einfluss der Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, heißt es im deutschen Grundgesetz. Aber welchen Wert hat eine solche Bestimmung, wenn die juristisch Gleichen ökonomisch Ungleiche sind?

In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Rechtsgleichheit trügerisch, weil die Mittel, die zu ihrer Erhaltung bestimmt sind, dazu dienen, sie zu zerstören; die Staatsmacht hilft dem Starken, den Schwachen zu unterdrücken, und die Tendenz aller Gesetze besteht darin, die Reichen gegen die Habenichtse zu begünstigen.

Wie müsste die Gesellschaft verfasst sein, in der Sie gerne leben würden, Monsieur Rousseau?

Ich wäre gern in einem Land ..., wo Herrscher und Volk ein und dasselbe Interesse haben können, so dass alle Bewegungen des Staatsapparates stets auf das allgemeine Wohl gerichtet blieben, was nur geschehen kann, wenn Volk und Herrscher dieselbe Person sind.

Die »Antworten« Rousseaus in diesem fiktiven Interview von Siegfried Forberger stützen sich auf die Publikation des Rechtsphilosophen Hermann Klenner über »Jean-Jacques Rousseaus bürgerliche Gesellschaft als Utopie«.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 30. Juni 2012


Jean-Jacques Rousseau erblickte am 28. Juni 1712 im calvinistischen Genf das Licht der Welt. Er gehört zu den bedeutendsten Denkern der französischen Aufklärung und war zugleich ihr Kritiker. Seine Schriften übten großen Einfluss auf die Revolutionäre von 1789 aus; die Jakobiner erhoben ihn zu ihrer theoretischen Leitfigur, obwohl er selbst kein Verfechter der Revolution war. Er befasste sich mit Musik, Geschichtsphilosophie, Pädagogik, Botanik, komponierte und hinterließ ein umfangreiches literarisches Erbe.

Rousseau galt als empfindsamer, eigenwilliger und streitbarer Mensch. Zwei Mal wechselte er die Religion, fühlte sich oft unverstanden, überwarf sich mit Freunden und Gönnern und geriet ab Mitte der 1750er Jahre in die gesellschaftliche Isolierung. Seine 1762 entstandenen Werke »Emil oder über die Erziehung« und »Der Gesellschaftsvertrag«, in dem er ein auf dem allgemeinen Willen des Volkes beruhendes Staatsrecht begründete, wurden im absolutistischen Frankreich und anderen Feudalstaaten verboten und verbrannt. Es folgten Flucht, Asyl und Verarmung. Der Geächtete verstarb vereinsamt 1778.




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