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Solidarismus statt Egoismus

Michael Brie & Genossen über Wege zum Sozialismus im 21. Jahrhundert

Von Christa Luft *

Der Kapitalismus hat seit seinem vermeintlichen Sieg die Welt nicht positiv verändert. Er hat ihr eine gegenüber Mensch und Umwelt rücksichtslose Ordnung oktroyiert. Die jüngste Krise war keine nur des Bankensektors, sondern eine des Gesellschaftssystems. Noch hat der Kapitalismus scheinbar Potenzial, auf neue Bedingungen zu reagieren. Doch zukunftfähig sind seine Antworten nicht.

»Wir befinden uns zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts in einer Übergangsphase, die sich in der Tat nach verschiedenen, entgegengesetzten Seiten entwickeln kann. Die positive Botschaft wäre: Das Zeitfenster für Veränderungen ist noch nicht geschlossen.« Diese ermutigende These ist Ausgangspunkt eines gerade erschienenen Bandes mit Beiträgen, gehalten auf einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Hellen Panke und WISSENTransfer organisierten Konferenz. Hier werden kontrovers diskutierte strategische Fragen aufgegriffen, Schwachpunkte im Programmentwurf der LINKEN benannt und konstruktive Vorschläge zu Teilbereichen der Politik unterbreitet.

Dieter Klein erinnert daran, dass es selbst in der LINKEN Zweifel gibt, ob eine Gesellschaftsalternative nach den staatssozialistischen Erfahrungen auf den Begriff Sozialismus gebracht werden sollte. Er bejaht. Dabei sollte man mit der Benennung eines alternativen Gesellschaftsprojekts als demokratischen Sozialismus »eine Anschlußfähigkeit zu den zunehmenden Diskursen über eine solidarische Gesellschaft sichern und die weitgehende Sinngleichheit beider Begriffe betonen.« Da klingt verbal »Solidarismus« an, ein einst von Rudolf Diesel beschriebenes gesellschaftliches Organisationsprinzip.

Klein sieht ein schwerwiegendes Defizit der europäischen Linken darin, dass sie auf dem Höhepunkt der jüngsten Krise zwar viele wichtige Einzelforderungen einbrachte, aber nicht zur Präsentation von Konturen eines alternativen Gesellschaftsprojekts in der Lage war. Er plädiert beim Nachdenken über Sozialismus im 21. Jahrhundert für einen transformationstheoretischen Ansatz, »der die Grenzen einer antinomischen Sicht auf Reform und Revolution überwindet.« Aufzuspüren wären im Sinne von Rosa Luxemburgs radikaler Realpolitik Ansätze des Künftigen im Gegenwärtigen.

Dieser Diktion folgen die meisten Autoren. Heinz Dieterich, der 2006 mit dem Buch »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts« für Aufmerksamkeit sorgte, sieht hingegen ohne »revolutionäre Veränderungsbereitschaft« keinen Erfolg. Für Dieterich ist die zentrale Frage eindeutig mit Ja zu beantworten, »ob das auf Profit, Privateigentum und Marktpreis basierende Marktsystem durch ein anderes kybernetisches System ersetzt werden kann, das ähnlich koordinationseffektiv ist, aber demokratischer und humaner fungiert«. Im Zentrum eines Systemwechsels sieht er die Ersetzung von Marktpreisen und Geld durch Werte und Arbeitszertifikate. Diese Position ist umstritten. Lutz Brangsch hält es für eine vereinfachende Vorstellung, man könne den Markt unter heutigen Bedingungen abschaffen. Der Markt sei nicht auf ein vom Kapitalisten eingesetztes Instrument zur Verwertung seines Eigentums zu reduzieren. Für Heinz Bontrup »sind Märkte über das Wettbewerbsprinzip unverzichtbare Elemente einer Wirtschaftsdemokratie. Sie benötigen aber eine demokratische staatliche Kontrolle.«

Peter Wahl gibt zu bedenken, dass man angesichts der international vernetzten Finanzmärkte für transformatorische Strategien darauf angewiesen ist, auch in anderen Ländern reformbereite Regierungen zu finden. Die LINKE müsse internationale Kooperation als Konsequenz der Globalisierung stärker betonen.

Frank Deppe verweist darauf, dass es in einem Sozialismusprojekt für das 21. Jahrhundert die »zivilisatorische Tendenz des Kapitals«, Rechtstaatlichkeit, parlamentarische Demokratie, Aufbau des Wohlfahrtstaates, zu bewahren gilt. Die sei allerdings ohne kritische Gegenbewegung gefährdet. Anspielend auf die aufgeregte Kommunismusdebatte kommt es ihm bei einem künftigen Gesellschaftsprojekt nicht auf den Streit um den Namen an, sondern um die strategische Zusammenführung der verschiedenen sozialen und politischen Bewegungen, die sich weltweit als Reaktion und Kritik auf die »Ökonomie der Enteignung« formieren.

Differenzierte Positionen finden sich im Buch bei regierungserfahrenen Autoren hinsichtlich sogenannter Haltelinien der LINKEN beim Eintritt in eine Koalition. Für Klaus Lederer ist politische Praxis ein Lern- und Suchprozeß. »Rote Linien sind hier eher schwierig.« Wolfgang Methling ist »sehr für die Verständigung über Leit- und Grenzlinien linker Politik. Diese müssen sowohl für die Koalitionen als auch für Oppositionsrollen gelten, sonst verliert eine Partei ihre Glaubwürdigkeit.«

Mit der Eigentumsfrage, einem alten Streitpunkt der Linken, befassen sich Klaus Steinitz und Ralf Krämer. Ausgehend von Erfahrungen des implodierten Realsozialismus begründet Steinitz die notwendige Kursnahme auf einen Eigentumspluralismus, weil es die ideale Eigentumsform nicht gibt. Das bisher als Sozialpflichtigkeit interpretierte Grundgesetzgebot »Eigentum verpflichtet« sollte durch die Forderung nach Umwelt- und Naturpflichtigkeit ergänzt werden.

Ein anregendes Konzept zur Vergesellschaftung des Bankensektors auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene stellt Axel Troost vor. Joachim Bischoff nimmt Bezug auf den Umgang mit ausufernden staatlichen und privaten Schulden. Ein Vernichtungsprozess von Schulden und Vermögenstiteln könne durch politische Entscheidung organisiert werden. Allerdings wäre unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit immer zu bedenken, dass zu den Bestandteilen des riesigen Kreditbooms auch Ansprüche auf Altersrenten und sonstige Ersparnisse der breiten Bevölkerungsschichten gehören.

In mehreren Beiträgen werden interessante Gedanken zur Demokratisierung der Wirtschaft als unabdingbarem Entwicklungspfad einer alternativen Gesellschaft vorgestellt. Insgesamt bietet diese Publikation in Wissenschaft, Bildung und Politik Tätigen weiterführende Angebote zur Diskussion über demokratischen Sozialismus als realistischer Utopie.

Michael Brie/Richard Detje/Klaus Steinitz (Hg.): Wege zum Sozialismus im 21. Jahrhundert. Alternativen – Entwicklungspfade – Utopien. VSA-Verlag. Hamburg. 216 S., br., 16,80 €.

* Aus: Neues Deutschland, 14. April 2011


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