Kofi Annans Kniefall vor den Völkerrechtsbrechern
Die Reform der UNO
Im September sollen die von Generalsekretär Kofi Annan vorgeschlagenen
Reformen der Vereinten Nationen von der Vollversammlung verabschiedet
werden. Wenn dies geschieht werden sich Charakter und Ausrichtung der
UNO, insbesondere was künftige UN-Auslandseinsätze anbelangt,
grundsätzlich wandeln. Im folgenden dokumentieren wir eine Analyse von IMI-Beirat
Michael Haid. Der Text erschien am 9. August 2005 als "IMI-Analyse 2005/024".
Von Michael Haid
Der UN-Generalsekretär Kofi Annan hat 2005 zum entscheidenden Jahr der
bereits dreizehnjährigen Reformdebatte der Vereinten Nationen erklärt.
In der Tat könnte sich die Institution UN und ihre völkerrechtlichen
Grundlagen durch die geplante Reform tief greifend verändern. Ein
wesentlicher Auslöser dieses Reformvorhabens war die Marginalisierung
der UN durch die westlichen Staaten gegen Ende der 1990er Jahre. Die
neue NATO-Strategie vom April 1999 und ihre Exekution im Angriffskrieg
gegen Jugoslawien führten der Weltöffentlichkeit vor Augen, dass diese
Staaten nicht mehr gewillt waren, den UN-Sicherheitsrat als einziges
Legitimierungsorgan für globale militärische Gewaltanwendung zu
betrachten. Je nach politischer Situation führten sie auch ohne ein
Mandat der Vereinten Nationen - zuletzt beim Angriffskrieg der USA und
Großbritanniens gegen den Irak - völkerrechtswidrige Aktionen aus.
Andere westliche Strategiepapiere wie die Nationale
Sicherheitsstrategie der USA von 2002, die Europäischen
Sicherheitsstrategie oder die Verteidigungspolitischen Richtlinien der
Bundeswehr von 2003 griffen die Inanspruchnahme der UN nach
politischer Nützlichkeit ebenfalls auf. Die Autoren dieser Papiere
fühlten sich der UN-Charta nicht mehr verpflichtet. Sie beriefen sich
nur noch auf sie, wenn es politisch opportun war. So verlor der
UN-Sicherheitsrat als Entscheidungs- und Legitimierungsinstanz sowie
das Völkerrecht als Ganzes drastisch an Bedeutung.
Um diesem Trend entgegenzuwirken und um den neuen Themen und
Problemlagen, die nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 auf
der internationalen Agenda standen, Lösungsmöglichkeiten
entgegenzuhalten, initiierte Kofi Annan einen die UN-Charta- und
Organe betreffenden Reformprozess. Die hierbei gewonnenen Ergebnisse
sollen auf der UN-Generalversammlung in New York am 14.-16. September
2005 beschlossen werden.
Die UN-Millenniumsziele oder die Halbierung der weltweiten Armut in
zehn Jahren?
Kofi Annan stellte am 21. März 2005 seinen Reformvorschlag mit dem
Titel "In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit
und Menschenrechten für alle" vor.[1] Dieser Bericht beginnt mit einem
Abschnitt "Freiheit von Not", der sich auf den Bericht einer von Annan
eingesetzten 250-köpfigen Expertenkommission unter Leitung von Jeffrey
D. Sachs unter der Bezeichnung "In die Entwicklung investieren: Ein
praktischer Plan zur Erreichung der Millenniums- Entwicklungsziele"
vom Januar 2005 stützt.[2]
Gegenstand der Arbeit der Kommission war eine Bestandsaufnahme der
Armut und ihrer Ursachen in der so genannten Dritten Welt. Sie hatte
zur Aufgabe, einen Aktionsplan zur Erreichung der, im
Millenniumsgipfel 2000[3] beschlossenen Entwicklungsziele bis 2015 zu
erarbeiten. Die Hauptziele sind die Halbierung der circa einer
Milliarde vom Hungertod bedrohten Menschen, die
Geschlechtergleichstellung, die Senkung der Kindersterblichkeit, die
Bekämpfung von HIV/ Aids, die Verwirklichung bildungspolitischer und
ökologischer Ambitionen sowie der Aufbau eines gerechteren weltweiten
Handels- und Finanzsystems[4].Die Ursachen der katastrophalen
Lebensbedingungen der Menschen in Entwicklungsländern werden in erster
Linie in korrupten und despotischen Regierungen, Umweltzerstörungen,
klimatischen Bedingungen, mangelnden Grundlagen an Infrastruktur und
natürlichen Ressourcen und den verheerenden Auswirkungen von
Konflikten gesehen.[5]
Das Genannte sind durchaus Gründe für diese Armutssituation. Jedoch
ist es ein fatales Versäumnis dieser Analyse, die Rolle der
neoliberalen Institutionen Weltbank, WTO, IWF oder des GATT-Abkommens
für die Entwicklung dieser Staaten völlig auszublenden. Sie sind oft
durch ihre neoliberalen Forderungen an die Entwicklungsstaaten -
beispielsweise den Aufbau von exportorientierten Großbetrieben - dafür
verantwortlich, dass die sozioökonomische Struktur der dortigen
Gesellschaften durch die dadurch erfolgende Ruinierung der für den
lokalen Markt herstellenden Kleinproduzenten, die das wirtschaftliche
Rückgrat der dortigen Gesellschaften bildet, erodiert. Die daraus
entstehende ökonomische Destabilisierung und soziale Desintegration
tragen dann das Ihre zu den oben beschriebenen Ursachen bei.[6]
Zudem werden den Entwicklungsländern häufig, wie der Bericht selbst
diagnostiziert, gleiche Wettbewerbsbedingungen im Welthandel verwehrt,
da sich die reichen Länder einer Vielfalt von Zöllen, Kontingenten und
Inlandssubventionen bedienen, um den Zugang zu ihren Märkten
einzuschränken und ihre eigenen Produzenten zu schützen.[7]
Keine Thematisierung erfuhr weiterhin die Rolle der beiden Weltmächte
zu Zeiten des Kalten Krieges und der ehemaligen Kolonialherren. Diese
Akteure hatten einen erheblichen Anteil am Ausbruch oder der
Aufrechterhaltung von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Kriegen
und daraus resultierender Armut, deren Folgen bis heute nachwirken.
Der Bericht gesteht ein, dass die von der UN entworfene
entwicklungspolitische Strategie maßgeblich vom Willen der reichen
Geberländer abhängt. Für die Industriestaaten ist die Unterstützung
der Millenniumsziele nur selektiv interessant. Deshalb ist eine
erhebliche Verbesserung der Armutssituation nicht zu erwarten. Diese
Ausgangsposition führt im Annan-Bericht zum Entwurf einer
Neudefinition der kollektiven Sicherheit, so etwas wie ein "Plan B",
der eingreift, wenn die beschriebenen entwicklungspolitischen
Maßnahmen ins Leere laufen und die Industrienationen spezifische
Interessen bedroht sehen. Diesem "Plan B" sind die folgenden
Abschnitte des Annan-Berichts gewidmet.
Die "Vision" einer neuen Kollektiven Sicherheit: Präventivkrieg und
"Verantwortung zum Schutz"
Annan setzte mit der Vorgabe, ein neues Verständnis kollektiver
Sicherheit zu entwickeln, im November 2003 die "Hochrangige Gruppe für
Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel" unter dem Vorsitz des
früheren thailändischen Ministerpräsidenten Anand Panyarachun ein. Die
Gruppe legte ihren Bericht "Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame
Verantwortung" am 2. Dezember 2004 vor.[8]
Darin werden als Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der
Welt (1) soziale und wirtschaftliche Bedrohungen (Armut, HIV/ Aids,
Umweltzerstörung), (2) zwischenstaatliche Konflikte, (3)
innerstaatliche Konflikte (Bürgerkrieg, Völkermord), (4)
Massenvernichtungswaffen (nukleare, radiologische, biologische und
chemische Waffen), (5) Terrorismus und (6) organisierte Kriminalität
identifiziert, da sie negative Auswirkungen auf ihre Umwelt haben
können.[9] Diese Erweiterung des alten- rein militärischen-
Sicherheitsbegriffs um neue - ökonomische, soziale und ökologische -
Elemente wird in der westlichen Fachwelt als erweiterter
Sicherheitsbegriff bezeichnet.[10]
Dieser definiert Bedrohungen nach der möglichen Intensität der
negativen Auswirkungen für die sozioökonomische Infrastruktur der
Industriegesellschaften und ist Grundlage der oben genannten
Strategiepapiere der NATO und EU. Wünschenswert wäre es gewesen, einen
Sicherheitsbegriff für die Gesellschaften der armen Länder zu
entwickeln, indem die Belange dieser Menschen ebenfalls zur Geltung
kommen. So befindet sich der im Bericht formulierte Anspruch, eine
Vision der Sicherheit für alle Staaten und Gesellschaften dieser Welt
zu generieren, in einem eklatanten Widerspruch zum für die "Vision der
kollektiven Sicherheit" tatsächlich als Grundlage verwandten
erweiterten Sicherheitsbegriff.
Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta untersagt den Mitgliedstaaten
ausdrücklich die gegenseitige Anwendung oder Androhung von Gewalt und
lässt dabei nur zwei Ausnahmen zu: zum einen die Selbstverteidigung
nach Artikel 51 und zum anderen vom Sicherheitsrat genehmigte
militärische Maßnahmen nach Kapitel VII in Antwort auf eine Bedrohung
oder einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung.
Ein wesentlicher Teil dieser "Vision" müsse nicht in einer Änderung
der UN-Charta, sondern in einer Einigung darin bestehen, wann und wie
der Sicherheitsrat Gewalt auf der Grundlage einer Neudeutung der
Artikel 51 und des Kapitels VII genehmigen könnte. Dazu sei es
erforderlich, gewisse in der Vergangenheit vorgekommene
Inkompatibilitäten zwischen dem Völkerrecht und der Praxis
aufzuheben.[11]
Konkret handelt es sich dabei um drei Konstellationen: erstens, wenn
ein Staat als Antwort auf eine nicht unmittelbar drohende Gefahr, ohne
sich an den Sicherheitsrat zu wenden, für sich gemäß Artikel 51 das
Recht geltend macht, in Selbstverteidigung einen Präventivschlag
durchzuführen.[12] Der Bericht der Hochrangigen Gruppe nennt hierzu
ausdrücklich den Fall eines in mutmaßlich feindseliger Absicht
erfolgten Erwerbs der Fähigkeit zur Herstellung von Nuklearwaffen und
belegt dies mit dem Begriff "antizipatorische Selbstverteidigung".[13]
Die UN-Vision stellt dabei Staaten wie den Iran oder Nordkorea, mit
denen eine friedliche, im beidseitigen Einverständnis erfolgte
Problemlösung angestrebt werden müsste, bereits als mögliche
Angriffsziele hin.
Zweitens, wenn ein Staat eine tatsächliche oder potentielle externe
Bedrohung für andere Staaten oder Menschen außerhalb seiner Grenzen
darzustellen scheint, jedoch im Sicherheitsrat Uneinigkeit herrscht.
Dann plädiert der Bericht der Hochrangigen Gruppe für die
Herbeiführung eines "Konsenses" zur Erteilung eines Mandats zur
Gewaltanwendung. Die Genehmigung zum Kampfeinsatz soll dabei
unabhängig davon gelten, ob die Gefahr unmittelbar oder in einer
entfernteren Zukunft droht, ob sie Handlungen des Staates selbst oder
Akteure, die er unterstützt, oder ob sie eine tatsächliche oder
potentielle Gewalthandlung oder einfach einer Herausforderung der
Autorität des Rates, annimmt. Genauer gesagt, wird eine Kombination
von Terroristen, Massenvernichtungswaffen, zerfallenden Staaten und
weiteren Faktoren genannt, die die präventive Anwendung von Gewalt
rechtfertige.[14]
Diese Konstellation bestimmt zerfallende Staaten oder solche, die
selbst oder in denen Gruppen den westlichen Interessen zuwiderlaufende
Handlungen beabsichtigen oder Terroristen ihre mutmaßlichen Basen
haben, zu Kampfzonen, in denen willkürlich von interventionsfähigen
Staaten Militärschläge geführt werden dürften. An diesem Beispiel
lässt sich besonders gut die Tatsache verdeutlichen, dass der
erweiterte Sicherheitsbegriff hauptsächlich nur einer kleinen Gruppe
von Staatenlenkern zur Eliminierung ihnen unangenehmer staatlicher und
privater Akteure dienlich ist, die Bevölkerung dieser Gebiete in
diesem Sicherheitsverständnis nur zweitrangig einkalkuliert wird und
oft nicht Profiteur, sondern Leidtragender solcher Militäraktionen ist.
Drittens, wenn die Bedrohung sich in erster Linie gegen die eigene
Bevölkerung eines Staates richtet.[15] Der Präzedenzfall hierzu stellt
der Jugoslawienkrieg dar. Die Hochrangige Gruppe interpretiert den
internationalen politischen Streit[16] zwischen Befürwortern und
Gegnern einer Intervention so, als dass sie eine wachsende Akzeptanz
dahingehend notiert, dass der Sicherheitsrat nach Kapitel VII und
gemäß der sich herausbildenden "Norm einer kollektiven internationalen
Schutzverantwortung" militärische Angriffshandlungen zur Beseitigung
massiver innerstaatlicher menschenrechtswidriger Vorgänge genehmigen
sollte, wenn er bereit sei, diese Situationen als Bedrohungen des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu erklären.[17]
Das Konzept der "Verantwortung zum Schutz" ("Responsibility to
Protect") basiert auf dem gleichnamigen Bericht der "Internationalen
Kommission über Intervention und staatliche Souveränität",[18] die vom
kanadischen Premierminister Jean Chrétien im September 2000 eingesetzt
wurde. Chrétien griff den Appell Kofi Annans auf, die seit dem
Jugoslawienkrieg akute Frage der Legitimität einer militärischen
Intervention von Staaten in innerstaatliche Angelegenheiten eines
souveränen anderen Staates endgültig zu klären.[19]
Der im Dezember 2001 vorgelegte Bericht gründet sich auf der Annahme,
dass die Souveränität eines Staates auch den Schutz der
Zivilbevölkerung beinhalte. Könne oder wolle ein Staat diesen Schutz
seiner Bevölkerung nicht gewährleisten, so seien die anderen Staaten
in der Verantwortung diesen Schutz zu bieten, wenn nötig auch durch
militärische Aggression.[20]
Diese Auffassung stellt eine massive Aufforderung zum Bruch des
Völkerrechts dar. Artikel 2 Absatz 7 der UN-Charta lässt an Klarheit
nichts zu wünschen übrig und untersagt das Eingreifen in
Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines
Staates gehören. Die "Verantwortung zum Schutz" ist nichts weiter als
ein Legitimationskonstrukt für Regierungen, die ein Interesse daran
haben, in dem betreffenden Staat zu intervenieren. Der Schutz der
Bevölkerung vor massiver Verletzung ihrer Rechte spielt weder bei der
Interventionsentscheidung- noch Durchführung die maßgebliche Rolle.
Verteidigungsminister Peter Struck gab unlängst in einer Rede bekannt,
dass die Bundeswehr nicht aufgrund moralischer Erwägungen, sondern
ausschließlich zur Durchsetzung deutscher Interessen eingesetzt werde.[21]
Dass die zwölfköpfige Kommission zu einer Befürwortung der Verletzung
staatlicher Souveränität kam, ist angesichts der Mitgliederberufung
nicht weiter verwunderlich. Stellvertretend für andere kann hier der
General a.D. Klaus Naumann genannt werden. Naumann war von 1991 bis
1996 Generalinspekteur der Bundeswehr und leitete in dieser Zeit den
Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee ein. Von 1996 bis
1999 bekleidete er das Amt des Vorsitzenden des
NATO-Militärausschusses. In dieser Eigenschaft betrieb er
zielgerichtet die Umstrukturierung der NATO in ein globales
Interventionsbündnis und war einer der Strategen hinter dem nicht von
der UN mandatierten Angriff der NATO auf Jugoslawien.
In der Zwischenzeit hat auch die EU die "Verantwortung zum Schutz" als
Legitimationsbeschaffer übernommen. Eine vom EU-Außenbeauftragten
Javier Solana berufene Kommission unter dem Vorsitz der Direktorin der
London School of Economics and Political Science, Mary Kaldor,
veröffentlichte im Herbst 2004 ihren Bericht "Eine menschliche
Sicherheitsdoktrin für Europa", in dem sie mit Blick auf die
instabilen Regionen Afrikas und Asiens für die EU eine Verantwortung
zum Schutz reklamierte und für die Aufnahme dieses Konzepts in die
Europäische Sicherheitsstrategie warb.[22]
Annan appellierte an die Mitgliedstaaten, der UN geeignete
"Friedenssicherungskapazitäten" zur Verfügung zu stellen. Er
bezeichnete die Beschlüsse der EU zum Aufbau verfügungsbereiter
Einsatzgruppen, gemeint sein können eigentlich nur die europäische
Eingreiftruppe und die Kampfgruppen ("Battlegroups"), in seinem
Bericht als bewundernswert.[23]
In den beiden letzten Fällen soll die Billigung der Anwendung
militärischer Gewalt nur ausgesprochen werden, wenn der Sicherheitsrat
nach Prüfung von fünf Legitimitätskriterien - (1) den Ernst der
Bedrohung, (2) die Redlichkeit der Motive, (3) der Anwendung als
letztes Mittel, (4) der Verhältnismäßigkeit der Mittel, (5) die
Angemessenheit der Folgen - die Notwendigkeit dieses Handelns
festgestellt hätte.[24] Dies klingt seriös und rückversichernd,
verkennt jedoch die Praxis. Gerade was Jugoslawien oder den Irak
angeht, hatten die einschlägigen Protagonisten keine Hemmungen, die
nötige Lage herbeizulügen und deren Glaubwürdigkeit mit politischem
Druck zu vermitteln.
Die globale "Strategie gegen den Terror"
In Kofi Annans Bericht kommt dem "Kampf gegen den Terror" erhebliches
Gewicht zu, das sich in dem Bestreben äußert, ihm Rahmen der
kollektiven Sicherheitsvision eine globale "Antiterrorstrategie" zu
entwerfen. Herzstück dieser Strategie soll eine von allen Staaten
getragene Definition von Terrorismus sein, die sich im Wortlaut
folgendermaßen anhört: "Das Recht auf Widerstand gegen eine Besatzung
muss in seiner wahren Bedeutung verstanden werden. Es kann nicht das
Recht umfassen, Zivilpersonen vorsätzlich zu töten oder zu
verstümmeln. Ich unterstütze rückhaltlos die Forderung der
Hochrangigen Gruppe nach einer Definition des Terrorismus, die klar
stellen würde, dass Terrorismus jede Handlung ist, (...), die den Tod
oder eine schwere Körperverletzung von Zivilpersonen oder
Nichtkombattanten herbeiführen soll und die darauf abzielt, die
Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine
internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen."[25]
Natürlich ist es ein notwendiges Ziel, zu verhindern, dass Zivilisten
Schaden zugefügt wird. Die politische Schlussfolgerung allerdings, all
diejenigen, die dieses Gebot missachten, als Terroristen zu
brandmarken, ist eine in seiner Konsequenz katastrophale Aussage. Denn
sie macht keinen Unterschied mehr zwischen den einzelnen
Besatzungsakteuren, deren Legitimationen und dem Grund des
Widerstands. NATO-, EU- und UN-Besatzungszonen, eigenmächtig
durchgeführte Besatzungen von Staaten gegenüber anderen Staaten oder
deren Gebietsteilen sowie staatliche Besatzungsregime gegen nach
Autonomie strebenden Landesteilen oder gar Aufstandsversuche der
Bevölkerung gegen despotische Regierungen werden in einen Topf
geworfen. Autoritäre, die Menschenrechte verletzende Regierungen
könnten sich durch diese Terrorismusdefinition in ihrer
Unterdrückungspolitik bestätigt sehen und ihre Repressionen verstärken.
Auch die von NATO, EU oder der UN in ihren Mandatsgebieten
aufrechterhaltenen Machtverhältnisse bzw. die Stützung von bestimmten
Gruppierungen und der Ausschluss von anderen können in
Bürgerkriegsgebieten Widerstand und Gewalttaten hervorrufen. Diese
Aktionen generell als Terrorismus anzusehen, ist nicht vertretbar.
Deutschlands Platz an der Sonne: Die Reform des Sicherheitsrats
Das ambitionierteste außenpolitische Projekt der rot-grünen
Bundesregierung ist die Erlangung eines ständigen Sitzes im
UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht.[26] Das intensive Engagement des
Bundeskanzlers, die Bundeswehr geradezu inflationär über den halben
Globus verteilt im "Krieg gegen den Terror" und der ISAF in
Afghanistan einzusetzen, lässt sich nicht unerheblich auf dieses Ziel
zurückführen. Als Kofi Annan sich in seinem Bericht vom März diesen
Jahres für eine Erweiterung des Sicherheitsrates stark machte und dazu
aufrief, die im Bericht der Hochrangigen Gruppe vorgestellten Modelle
A und B der Reform des Sicherheitsrates zu diskutieren, schien dieses
Ziel ein bedeutendes Stück nähergerückt zu sein.[27] Zumindest
suggerierten deutsche Politiker und Diplomaten, dass der Hauptteil der
UN-Reform aus der Erweiterung des Sicherheitsrats bestünde, was, wie
deutlich geworden sein dürfte, nicht der Fall ist.
Seit 1945 besteht der Sicherheitsrat aus den fünf ständigen, mit
Vetorecht ausgestatteten Mitgliedern USA, Russland, Großbritannien,
Frankreich und China und den zehn, alle zwei Jahre wechselnden
nichtständigen Mitgliedstaaten. Zusätzlich schlägt Modell A die
Schaffung von sechs weiteren ständigen Sitzen, ohne Vetorecht, sowie
drei neue, auf zwei Jahre befristete, nichtständige Sitze vor. Modell
B sieht keine neuen ständigen Sitze vor, sondern die Schaffung einer
Kategorie von acht Sitzen für eine nicht erneuerbare zweijährige
Amtszeit[28] Gemeinsam ist allen beiden Modellen, dass das Vetorecht
ein Monopol der jetzigen fünf ständigen Mitglieder ist und in der
Auffassung der USA, Chinas und auch Russlands bleiben sollte.
Davon ließ sich Berlin allerdings nicht abschrecken. Die
UN-Generalversammlung hatte am 11. Juli 2005 mit der lange
angekündigten Debatte um eine Reform des Sicherheitsrates begonnen.
Der Antrag der Vierergruppe (G-4), bestehend aus Deutschland, Japan,
Indien und Brasilien, fordert zunächst einen Grundsatzbeschluss der
Generalversammlung, den Sicherheitsrat von derzeit 15 auf 25
Mitglieder zu vergrößern. Von den zehn zusätzlichen Ratssitzen sollen
sechs ständige Sitze sein - je zwei für Asien (Indien, Japan) und für
Afrika (mehrere Kandidaten) und je einer für Westeuropa (Deutschland)
und Lateinamerika (Brasilien). Von den vier nichtständigen ist jeweils
einer für Afrika, Asien, Lateinamerika/ Karibik und Osteuropa
vorgesehen. Die G-4 fordert für die sechs neuen ständigen Mitglieder
auch das Vetorecht. Allerdings sollen sie von diesem Recht erst
Gebrauch machen dürfen, wenn die jetzt angestrebte Ratserweiterung 15
Jahre nach ihrem Inkrafttreten überprüft worden ist.[29]
In maßloser Selbstüberschätzung wähnte sich die Bundesregierung schon
am Ziel. Davon scheint sie jedoch Ende Juli weiter entfernt zu sein
als jemals zuvor. Es wurden zwei Gegenentwürfe in die Versammlung
eingebracht. Eine rund 40 Staaten starke Gruppe um Italien, Spanien,
Polen, Argentinien, Indonesien und Pakistan, "Vereint für den Konsens"
bzw. "Kaffee-Gruppe" genannt, lehnt ständige Ratssitze für die G-4 ab.
Sie hat ihren Vorschlag für eine Ratserweiterung um zehn
ausschließlich nichtständige Sitze formal als Antrag in die
Generalversammlung eingebracht. Für die dann zwanzig nichtständigen
Ratsmitglieder sieht dieser Antrag im Unterschied zur bisherigen
Regelung nach einer zweijährigen Präsenz im Rat die Möglichkeit einer
unmittelbaren Wiederwahl vor.[30]
Mit diesem Gegenantrag hatte die G-4 ebenso wenig gerechnet wie mit
Änderungswünschen der 53 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union (AU).
Auf ihrem Gipfeltreffen im libyschen Syrte Anfang Juli hatte die AU in
Abweichung vom Antrag der G-4 neben den beiden vorgesehenen ständigen
Sitzen auch zwei statt einen der vier nichtständigen Sitze für Afrika
gefordert. Außerdem verlangte sie das uneingeschränkte Vetorecht für
die künftigen neuen ständigen Ratsmitglieder.[31]
Die Außenminister der G-4 Staaten versuchen mit allen Mitteln so viele
Staaten der AU auf ihre Seite zu ziehen als möglich. Ansonsten wäre
die Initiative der G-4 absolut aussichtslos. Deshalb ist wohl auch das
deutsche Interesse an der in Niger ausgebrochenen Hungersnot, die rund
2,5 Millionen Menschen betrifft, rasant gewachsen. Wurden die seit
November 2004 regelmäßig verlautbarten Hilfsappelle international
ignoriert, so verdreifachte die Bundesregierung urplötzlich ihre
Nigerhilfe auf 1,5 Millionen Euro.[32] Obwohl Schröder sonst bei jeder
passenden und unpassenden Gelegenheit hervorhob, Deutschland müsse in
den Sicherheitsrat aufgenommen werden, weil es drittstärkster und vor
dem Irakkrieg zweitgrößter Truppensteller für UN-Einsätze sei, besann
sich diesmal die Regierung auf ihre entwicklungspolitischen Instrumente.
Sollte der G-4 Antrag tatsächlich die erforderliche
Zweidrittelmehrheit erhalten, sollen nach Vorstellung der vier
Antragssteller Interessenten an einem ständigen Ratssitz innerhalb
einer Woche der Generalversammlung ihre Kandidatur vorlegen. Gewählt
werden soll so lange, bis zwei asiatische und zwei afrikanische
Staaten sowie je ein Land aus Lateinamerika und Westeuropa die
erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht haben.
Nach einer erfolgreichen Wahl neuer Ratsmitglieder müsste die
notwendige Veränderung der UNO-Charta von mindestens zwei Dritteln der
Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Darunter müssen die bisherigen
fünf ständigen Mitglieder des Rats sein.[33] Wie es nun wirklich
weitergeht, wird sich in der nächsten Zeit zeigen. Aktuell ist ein
Erfolg der Vorstellungen der G-4 als sehr unwahrscheinlich einzustufen.
Fazit
Die oben formulierte "Rechtsunsicherheit", wie in den drei genannten
Fällen künftig der Sicherheitsrat zu entscheiden habe, löste Annan in
einem Kniefall ausgerechnet vor denjenigen Staaten auf, die das
bisherige Gewaltverbot durch die Angriffskriege gegen Jugoslawien und
Irak missachteten und die Normen des Völkerrechts mit Füßen traten.[34]
Annans Vorschlag, die Option von Präventivkriegen unter bestimmten
Voraussetzungen in die Interpretation des Völkerrechts aufzunehmen,
kann als Angebot an die bisherigen Völkerrechtsbrecher in den
westlichen Regierungen gedeutet werden, den Sicherheitsrat wieder als
Forum für internationale Entscheidungen zu nutzen und die UN damit
wieder international aufzuwerten. Im Gegenzug würde aber damit ein
grundlegender Wesenszug des Völkerrechts und die Gründungsidee der UN,
nämlich das strikte Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen,
über Bord geworfen werden.
Angestrebt wird somit letztlich die Abwertung des in der UN-Charta
verankerten Souveränitäts-Paradigmas: nämlich seine Relativierung
durch einen ihm übergeordneten Menschenrechts-Maßstab (nachdem es 1945
bewusst als absolutes und den Menschenrechten gleichgestelltes
Leitprinzip etabliert worden war). Die Folgen dieser faktischen
Völkerrechtsänderung wären epochal: Mit der Relativierung des
Souveränitätsprinzips würden die Lehren aus zwei Weltkriegen faktisch
ad acta gelegt. Mit allen - heute kaum absehbaren - Konsequenzen.[35]
Anmerkungen:
-
Vgl. Bericht des Generalsekretärs: In größerer Freiheit: Auf dem
Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle",
Generalversammlung der Vereinten Nationen, 59. Tagung,
Tagungsordnungspunkte 45 und 55, A/59/2005, 21. März 2005,
http://www.bundesregierung.de/Anlage824607/pdf_datei.pdf
- Vgl. UN Millennium Project 2005: Investing in Development. A
Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals. Overview,
New York January 2005,
http://www.bundesregierung.de/Anlage776330/Bericht+des+Milleniumprojektes+%28in+englischer+Sprache%29.pdf
- Gemeint ist die 55. Generalversammlung der Vereinten Nationen vom
11.-15. September 2000 in New York
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO, S. 9-11
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 13
- Vgl. Haydt, Claudia/ Pflüger, Tobias/ Wagner, Jürgen:
Globalisierung und Krieg, AttacBasisTexte 5, 2003, S. 7 ff.
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 20
- Vgl. Mitteilung des Generalsekretärs: Übermittlungsschreiben des
Vorsitzenden der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen,
Herausforderungen und Wandel an den Generalsekretär,
Generalversammlung der Vereinten Nationen, 59. Tagung,
Tagungsordnungspunkt 55: Weiterverfolgung der Ergebnisse des
Millenniumsgipfels, A/59/565, New York, 2. Dezember 2004,
http://www.bundesregierung.de/Anlage773460/Bericht+des+
Highlevel+Penel+%28in+deutscher+Sprache%29.pdf
- Vgl. ebd., S. 28
- Vgl. Gareis, Sven Bernhard/ Varwick, Johannes: Die Vereinten
Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen, Opladen 2002, S. 29 ff.
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 37
- Vgl. ebd.
- Vgl. Mitteilung des Generalsekretärs, aaO., S. 62
- Vgl. Mitteilung des Generalsekretärs, aaO., S. 63
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 65 f .
- Artikel 51 bestimmt, dass Gewaltanwendung ausschließlich zur
Selbstverteidigung zulässig ist. Die zentrale Passage in Artikel 51
lautet: "Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten
Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das
naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven
Selbstverteidigung " Seit Gründung der UN im Jahre 1945 haben sich die
Völkerrechtsexperten über die Reichweite dieser Selbstverteidigung
gestritten. Dabei stehen sich zwei Lesarten gegenüber: Die Vertreter
einer restriktiven Interpretation machen geltend, Artikel 51
legitimiere den Anspruch auf Selbstverteidigung ausschließlich als
Reaktion auf einen vorangegangenen militärischen Angriff. Anders als
die Restriktivisten argumentieren die Minimalisten: Indem die
UN-Charta ein "naturgegebenes Recht" auf Selbstverteidigung vorsehe,
werde dieses Recht auch prinzipiell als Äußerungsform staatlicher
Souveränität anerkannt. Deshalb könne man einer Regierung die Berufung
auf dieses Recht nicht streitig machen, solange der UN-Sicherheitsrat
(in dem konkreten Konfliktfall) nicht tätig geworden ist. Vgl. Falk,
Richard: Einer flog übers das Völkerrecht. Der mögliche Irakkrieg und
die Charta der Vereinten Nationen, in: Le Monde diplomatique, Dezember
2002, dokumentierter Text in Auszügen in:
http://www.kozmopolit.com/Irakspecial/RFalkDe.html
- Vgl. Mitteilung des Generalsekretärs, aaO., S. 64
- Eine äußerst lesenswerte Kommentierung und Analyse dieses
Berichts findet sich bei: Der ICISS-Report: "The Responsibility to
Protect". Eine Übersicht über den Bericht der- International
Commission on Intervention and State Sovereignity- (ICISS),
http://www.rootcauses.de/publ/icissumm.html
- Vgl. Report of the International Commission of Intervention and
State Sovereignity (ICISS): The Responsibility to Protect, Ottawa,
Dezember 2001, http://www.iciss.ca/pdf/Commission-Report.pdf
- Vgl. Ebd., S. 13 ff.
- Vgl. Struck, Peter: Rede anlässlich des 15. Forums "Bundeswehr
und Gesellschaft" der Welt am Sonntag am 9. November 2004 in Berlin
- Pflüger, Friedbert: : Deutschlands Interessen in Afrika.
Entwicklungspolitische Herausforderungen, in: Die politische Meinung
Nr. 419/2004, S.69-73, S. 71
- Vgl. The Barcelona Report on the Study Group on Europe´s Security
Capabilities: A Human Security Doctrine for Europe,
http://www.lse.ac.uk/Depts/global/Human%20Security%20Report%20Full.pdf
Sehr empfehlenswert zum Thema Menschliche Sicherheit ist die Studie
von Marischka, Christoph: Menschliche Sicherheit. Das humanistische
Pendant zum "Krieg gegen den Terror"?, IMI-Studie Nr. 1/2005
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 35
- Vgl. Mitteilung des Generalsekretärs, aaO., S. 65
- Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 30
- Vgl. Schröder, Gerhard: Rede vor der 58. Generalversammlung der
Vereinten Nationen in New York am 24. September 2003 und Kaiser, Karl:
Der Sitz im Sicherheitsrat. Ein richtiges Ziel deutscher Außenpolitik,
in: Internationale Politik, Nr. 8/2004, S. 47-56
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 47 f.
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 48 f.
- Vgl. "Reform ´05"- Joint Position paper by Brasil, India, Japan,
Germany on Security Council Reform, March 31 2005,
http://www.germany-un.org/archive/press/2005/pr_03_31_05.html
- Vgl. Noch ein Reformvorschlag, in: die tageszeitung vom 23./24.
Juli 2005, S. 10
- Vgl. Chauvistré, Eric: Sitz in weiter Ferne. Reform der Vereinten
Nationen, in: die tageszeitung vom 19. Juli 2005, S. 2
- Vgl. Johnson, Dominic: Deutschland verdreifacht Hilfe für Niger,
in: die tageszeitung vom 22. Juli 2005, S. 9
- Vgl. Zumach, Andreas: Die UNO debattiert über ihre Reform, in: die
tageszeitung vom 12. Juli 2005, S. 11
- Vgl. Bericht des Generalsekretärs, aaO., S. 38
- Vgl. Der ICISS-Report, aaO.
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