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Schon 6o - und immer noch unverzichtbar

Das System der Vereinten Nationen ist unverzichtbar, muß aber dringend reformiert werden

Von Ernst Krabatsch

Als die UNO 1945 in San Francisco gegründet wurde, hatte man verstanden, dass es in der Welt nicht weitergehen konnte wie bisher: zwei Weltkriege, zahllose Bürgerkriege, Völkermorde, der Holocaust, Hiroshima. Alles in einem knappen halben Jahrhundert.

Auch heute wünschen sich die Menschen eine friedlichere, gerechtere Welt. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn der globalisierten Unsicherheit, der wirtschaftlichen Ausbeutung vieler Menschen, den zahlreichen sozialen Ungerechtigkeiten sowie der Missachtung der Menschenrechte, aber auch privatisierter Gewalt wirkungsvoll entgegen getreten wird. Das kann nur mit einer kooperativen Politik geschehen, die auf gemeinsamen Ansätzen für die Lösung globaler und regionaler Probleme beruht. Deshalb ist es so wichtig, dass Zusammenarbeit und wechselseitige Beziehungen dauerhaft zu beherrschenden Grundsätzen der internationaler Politik werden.

Effektiv und erfolgreich arbeitende internationale Organisationen sind dafür unverzichtbar. Im besonderen gilt das für das System der Vereinten Nationen, einem mit 191 Mitgliedsstaaten wirklich weltumspannenden Forum des Dialogs und der Zusammenarbeit. Trotz ihrer Defizite und Unzulänglichkeiten hat die UND in der Vergangenheit ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt: Sie war während des Kalten Krieges einer der Schlüsselfaktoren bei der Verhinderung eines nuklearen Schlagabtauschs und hat mitgeholfen, manchen regionalen und potenziell weltweiten Konflikt einzudämmen. Erfolgreich hat die UNO den Übergang von der Kolonialzeit in die Ära unabhängiger Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas begleitet. Sie hat Völkerrecht geschrieben und Antworten der Staatengemeinschaft auf weltumspannende Probleme formuliert. Sie hat den Dialog zwischen Nord und Süd über die faire Teilhabe der Entwicklungsländer an der Weltwirtschaft in Gang gebracht.

Dennoch ist die UNO dringend reformbedürftig. In den vergangenen Jahren verlor sie an Glaubwürdigkeit. Ursache dafür waren vor allem die USA und die NATO mit ihrer einseitigen Machtpolitik, ihrer Missachtung der Prinzipien des Völkerrechts. Der Kosovo-Krieg der NATO, der gegen den Willen der UNO geführte völkerrechtswidrige Irak-Krieg und das Konzept von USA und NATO für »Präventivkriege« brachten die Weltorganisation an den Rand des Zerbrechens. Hinzu kam die mangelnde Bereitschaft vieler Mitgliedsstaaten, ihre eingegangenen Verpflichtungen politisch konkret und finanziell umzusetzen oder Beiträge zur Abrüstung und verstärkten Entwicklungszusammenarbeit zu leisten.

Reformvorschläge

Zur Zeit liegen den UN-Staaten zwei umfangreiche Dokumente zur Reformierung der UNO vor. Ein Bericht wurde im Dezember 2004 von einer hochrangigen Expertenkommission erarbeitet. Generalsekretär Kofi Annan selbst hat auf dieser Grundlage im März dieses Jahres eigene Reformvorschläge vorgelegt. Erklärtes Ziel ist, die Weltorganisation und ihre wichtigsten Gremien an die Gegebenheiten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen, sie demokratisch zu reformieren und ihre zivilisatorische Kapazität weiterzuentwickeln.

Kofi Annan hat nach seinen Worten ein Verhandlungspaket geschnürt »zwischen den Bedürfnissen und Interessen der verschiedenen Länder und Regionen«. Seine Forderungen reichen von höherer Entwicklungshilfe über ein stärker entwicklungsorientiertes Handelssystem bis hin zu einer breiteren und tiefer gehenden Entschuldung. Die Entwicklungsländer sollen sich ihrerseits erneut verpflichten, die Hauptverantwortung für ihre eigene Entwicklung zu übernehmen und umfassende nationale Strategien zu beschließen und umzusetzen.

Um die Erfüllung der im Jahre 2000 vereinbarten Millenniums-Entwicklungsziele, insbesondere die Halbierung der globalen Armut bis zum Jahre 2015, doch noch zu erreichen, regt Kofi Annan eine Erhöhung der weltweiten Entwicklungshilfe auf mehr als das Doppelte während der nächsten Jahre an.

Der Beitrag der UNO zur Lösung der grundlegenden Weltprobleme kann effektiv und sinnvoll nur in einer Gratwanderung zwischen den Interessen aller Staaten erbracht werden - der mächtigen Staaten wie der vielen kleinen und mittleren, ja oft ohnmächtigen. Die UNO und ihre Reform können letztlich nicht besser sein oder werden, als die Mitgliedsstaaten es zulassen. Es müssen folglich auch neue Wege gegangen werden, wie sie zum Beispiel von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft aufgezeigt werden.

Friedenssicherung

Sowohl der Beschlussvorschlag von Kofi Annan wie auch der oben erwähnte Expertenbericht bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für linke Politik. Dazu gehört, dass ein ganzheitlicher Sicherheitsbegriff verwendet wird, der anerkennt, dass Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte unabdingbar miteinander verknüpft sind. Dazu gehört ebenso die Betonung der »unveränderten Relevanz der Charta der Vereinten Nationen«. Ihre Ziele und Prinzipien wie ihr Friedensgebot sollen als rechtliche und politische Grundlagen der UND auch für die Zukunft bekräftigt werden.

Kofi Annan verlangt ausdrücklich eine »Herrschaft des Rechts«, insbesondere die friedliche Streitbeilegung und strikte Einhaltung des Verbots der Anwendung und Androhung von Gewalt. Er spricht sich für den Ausbau der UNO zu einem effektiv funktionierenden System aus, in dem die Mitglieder ihre Sicherheit nach dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit demokratisch organisieren.

Unverändert soll das Recht auf Selbstverteidigung gelten, und es müsse das alleinige Recht des Sicherheitsrates bleiben, einen Beschluss zu Sanktionen oder militärischem Vorgehen gegen einen Rechtsbrecher zu fassen.

Neu schlägt Kofi Annan vor, für die Anwendung militärischer Zwangsmaßnahmen bei ausdrücklicher Bindung an die UN-Charta im Falle von massenhaften Menschenrechtsverletzungen, Massentötungen und ethnischen Vertreibungen konkrete Legitimitätskriterien zu vereinbaren. Bevor ein Mandat dafür erteilt wird, sind die Ernsthaftigkeit der Bedrohung und die Redlichkeit der Motive für ein Eingreifen genau festzustellen. Zugleich ist zu prüfen, ob der Einsatz von Gewalt wirklich als letztes Mittel erfolgen würde, ob er verhältnismäßig wäre und welche Folgen er hätte. Diese Kriterien wären geeignet, die Grenze gegen willkürliche oder einseitige Maßnahmen sehr eindeutig zu ziehen und Interventionen moralisch wie auch völkerrechtlich zu erschweren. Damit würde die Schwelle zur Kriegführung insgesamt deutlich herauf gesetzt, und es entstünde ein probates Mittel, um auf die USA oder die NATO Druck auszuüben, wenn sie mit Präventivkriegsstrategien geltendes Recht ignorieren und willkürlich brechen.

Kritikwürdig ist, dass Kofi Annan kaum Vorschläge auf dem Gebiet der Abrüstung unterbreitet, obwohl die UNO und speziell der Sicherheitsrat ihrer Verantwortung für Abrüstung aus Art. 26 der UN-Charta seit geraumer Zeit nicht gerecht werden. Seine Vorschläge konzentrieren sich auf die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Dringend notwendig ist zugleich, dass die Regierungen mehr eigenständige Beiträge zur Abrüstung und Rüstungsbegrenzung, zum Verbot des Rüstungsexports und des Waffenhandels erbringen. Für die deutsche Regierung sollte es vor allem um zwei Dinge gehen: um den Abzug der hier lagernden atomaren Sprengköpfe und um die Rücknahme der Option des Ersteinsatzes von Kernwaffen in der NATO-Doktrin. Um dem Abrüstungsprozess neue Impulse zu verleihen, sollte eine UN-Weltkonferenz für Abrüstung durchgeführt und die Genfer Abrüstungskonferenz, deren Tätigkeit seit Jahren blockiert ist, reformiert werden.

Sicherheitsrat

Die Bundesregierung hat eine deutsche Mitgliedschaft im Sicherheitsrat zur Hauptfrage der UN-Reform erhoben. Sowohl der Expertenbericht als auch Annans Vorschlag enthalten zwei Modelle für die Erweiterung des Rates auf 25 Mitglieder: eines mit neuen ständigen Ratssitzen und das zweite mit zusätzlichen Sitzen für eine vierjährige Amtszeit. Bei der letzten Variante können die in Frage kommenden Staaten sofort wieder kandidieren und so durch überzeugendes Wirken ständig im höchsten Gremium der UNO vertreten sein. Das ist sicher das demokratischere Modell. Die Bundesregierung besteht gemeinsam mit Japan, Indien und Brasilien auf einer Paketlösung (alle neuen Mitglieder gemeinsam bestimmen und keine Einzelabstimmung).

Deutschland ist zwar drittgrößter Beitragszahler der UNO, aber selbst als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates ist es dem von den USA diktierten Kurs der Demütigung und der Instrumentalisierung der UNO für ihren Weltordnungskurs nicht kategorisch entgegengetreten. Der Charta-Bruch beim Irak-Krieg wurde zwar kritisiert, aber zum Beispiel durch die Gewährung von Überflugrechten letztlich mitgetragen.

Deutschland gehört zu den Weltmeistern im Rüstungsexport und lässt eine aktive Rolle bei der Wiederbelebung des Abrüstungsprozesses vermissen. Was humanitäre und Entwicklungshilfe angeht, liegt es weit hinter solchen Staaten wie Belgien, Dänemark oder Australien. Überhaupt sollten zahlungssäumige Industrieländer sowie jene, deren Entwicklungshilfe immer noch unter den bereits 1970 vereinbarten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt und die Abrüstungs- bzw. Rüstungskontrollabkommen verletzen bzw. ihnen nicht beitreten, keinen ständigen Sitz im Sicherheitsrat einnehmen dürfen.

Nicht angesprochen wird von Kofi Annan das Vetorecht der Gründermächte im Sicherheitsrat. Als es seinerzeit in die Charta aufgenommen wurde - um zu verhindern, dass Maßnahmen der Friedenssicherung gegen den erklärten Willen wichtiger Mitglieder des Sicherheitsrates beschlossen und umgesetzt werden können -, war es ein legitimes Mittel der Politik. Im 21. Jahrhundert wäre es an der Zeit, dieses Recht schrittweise einzugrenzen und zu konditionieren.

Mehr Transparenz, Konsultation und Teilnahme von Betroffenen bei Sicherheitsratsentscheidungen, Rechenschaft gegenüber der Vollversammlung wären Schritte in die richtige Richtung. Vor allem sollten keine neuen Privilegien geschaffen werden.

Weitaus dringlicher als die Reform des Sicherheitsrates ist es, die UNO und ihre Hauptorgane zu dem Zentrum globaler, ökonomischer, sozialer und ökologischer Strategieentwicklung und ihrer Umsetzung zu qualifizieren. Das schließt nicht nur die strukturelle Reform ihres Organsystems und effizienteres Management ein. Es erfordert die Suche nach geeigneten politischen Regulationsformen, die den Globalisierungsprozess grundlegend anders gestalten. Ziel muss es sein, auch bei rasch voranschreitender Verknappung von Ressourcen, bei Umweltzerstörung, zerfallenden Staaten sowie deren konfliktträchtigen Folgen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit für alle zu erreichen.

Die Vorschläge, diesbezüglich die Rolle der Vollversammlung zu erhöhen, gelten vor allem einer Straffung ihrer Tagesordnung. In diese Richtung weist die von Kofi Annan vorgeschlagene Stärkung des Wirtschafts- und Sozialrates und die höhere Gewichtung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte als Ausgangspunkt globaler Problemlösungsansätze. Wichtig wäre aber auch, IWF und Weltbank zu reformieren. Während die Weltbank auf die Aufgaben einer Entwicklungsbank begrenzt werden müsste, sollte sich der IWF langfristig aus der Entwicklungspolitik und -finanzierung zurückziehen und auf seine originären Aufgaben - die internationale Währungsstabilisierung und Beseitigung kurzfristiger Zahlungsbilanzungleichgewichte - konzentrieren.

Auch die Welthandelsorganisation (WTO) müsste vollständig in das System der Vereinten Nationen integriert werden. Zumindest wäre eine Festlegung des Agierens dieser Institutionen auf die Ziele der UN - was die Charta grundsätzlich und die Millenniumsziele derzeit aktuell und konkret einschließt - notwendig. Beim Wirtschafts- und Sozialrat sollte auch eine Schuldenschiedsstelle errichtet werden, die ein faires Verfahren zwischen Schuldnern und Gläubigern garantieren kann.

In diesem Herbst haben die führenden Politiker der Welt in New York die Gelegenheit - wie seinerzeit in San Francisco -, Geschichte zu schreiben. Die Hoffnung besteht, dass zumindest Teile der zahlreichen Reformvorschläge beschlossen werden. Es wäre aber naiv, schnelle und tiefgreifende Veränderungen zu erwarten.

Dazu bedarf es vor allem starken zivilgesellschaftlichen Drucks. Deshalb fordert die PDS seit langem eine intensive öffentliche Diskussion über eine wirksame Reform der UN.

Dieser Text erschien in "Disput", Juli 2005, siehe auch: http://www.zweite-erneuerung.de/download/Krabatsch_Schmidt_Woop_UN.pdf;

Quelle: Homepage des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e. V.: www.vip-ev.de



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