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Blankovollmacht für Kriegsverbrechen

Der UN-Sicherheitsrat im Dienst der imperialistischen US-Außenpolitik

Von Knut Mellenthin*

Die UN-Vollversammlung hat am 8. November zum 14. Mal in ebenso viel Jahren die USA aufgefordert, ihren 1961 verhängten Handelsboykott gegen Kuba »so schnell wie möglich« aufzuheben. Die Mehrheit war noch etwas beeindruckender als im vorigen Jahr: Von 191 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen stimmten diesmal 182 der Resolution zu. Dagegen votierten nur die USA und Israel sowie die winzigen Südseestaaten Palau und Marshall-Inseln, die früher von den USA »verwaltet« wurden. Mikronesien, ein weiterer Südseestaat, enthielt sich. Vier Staaten zogen es vor, der Abstimmung fernzubleiben – darunter der von US-Truppen besetzte Irak und Marokko.

Ein klares Votum, sollte man meinen. Seit diese Forderung zum ersten Mal in der UN-Vollversammlung zur Diskussion gestellt wurde, ist die Mehrheit immer größer geworden. Die US-Regierung interessiert jedoch die nahezu einmütige Meinung der internationalen Staatengemeinschaft nicht im geringsten. Die UN sind für die USA nur solange gut, wie sie Beschlüsse in deren Interesse produziert. Ist das ausnahmsweise einmal nicht der Fall, werden die Vereinten Nationen mit unverhohlener Verachtung gestraft.

USA wollen UN »durchrütteln«

Der US-Botschafter bei den UN, John Bolton, nannte die Kuba-Resolution der Vollversammlung höhnisch »a complete exercise in irrelevancy« – nichts als eine Übung in Bedeutungslosigkeit. Es ist gerade diese Einstellung zu den Vereinten Nationen und zur internationalen Staatengemeinschaft, der Bolton seine jetzige Position verdankt. Der stramme Neokonservative, der früher als Staatssekretär im Außenministerium tätig war, hat ein langes Register von extrem abwertenden Äußerungen über die UN. Der US-Kongreß blockierte deshalb mehrere Monate lang die Zustimmung zu Boltons Ernennung. 56 ehemalige US-Botschafter nahmen in einem offenen Brief gegen die Entsendung Boltons zu den UN Stellung. Der Gescholtene sei genau der Richtige, um die UN »durchzurütteln«, antwortete Außenministerin Condoleezza Rice den Kritikern.

Wie das »Durchrütteln« aussieht, demonstrierte Bolton am 9. November mit der Erklärung, die US-Regierung werde »rund um die Welt« nach »geeigneten Kandidaten« für die Nachfolge von UN-Generalsekretär Kofi Annan suchen, dessen Amtszeit Ende 2006 ausläuft. »Wir erwarten Bewerbungen aus allen Erdteilen, damit wir die breitestmögliche Auswahl haben.« Bolton wählte für diese Mitteilung eine Konferenz der amerikanischen Antidiffamierungsliga (ADL), die von einer Organisation zur Bekämpfung des Antisemitismus in den letzten Jahren zur Interessenvertretung der Scharon-Regierung mutiert ist. Wohl nicht zu Unrecht sah die Frankfurter Rundschau in Boltons Auftritt »das Bemühen der US-Regierung, den Juden in den USA zu versichern, daß sie keinen israelkritischen UN-Generalsekretär akzeptieren würde«.

Sachlicher Hintergrund für Boltons Stellungnahme ist, daß nach den traditionellen Regeln der UN die Position des Generalsekretärs zwischen den Kontinenten rotiert. Turnusmäßig wäre diesmal Asien an der Reihe, das mit dem Burmesen U Thant (1961-1971) erst ein einziges Mal die höchste Position der Vereinten Nationen besetzte. Boltons Ankündigung, die Rotation nicht zu respektieren, stellt eine klare Kampfansage dar. Rußland und China haben angekündigt, daß sie im Sicherheitsrat, der die Wahl vorzunehmen hat, nur für einen asiatischen Vertreter stimmen werden. Aber werden sie diese Position auch wirklich durchhalten, wenn es hart auf hart kommt?

Aggressionen abgesegnet

Am 8. November, dem Tag der Kuba-Resolution in der Vollversammlung, konnte die US-Regierung im Sicherheitsrat einen vollen Erfolg verbuchen: Das Gremium billigte einstimmig die Verlängerung des Mandats für die »multinationale Streitmacht« im Irak.

Es mag angesichts der US-amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak überraschen, aber die Besatzungstruppen agieren dort tatsächlich, formal gesehen, im Auftrag der Vereinten Nationen. Real übt der Sicherheitsrat allerdings nicht die geringste Kontrolle über das Vorgehen der amerikanisch geführten »multinationalen Streitmacht« aus – und versucht es nicht einmal. Die Situation ist daher völlig absurd und illegal: Die US-Regierung hat praktisch einen Blankoscheck, der routinemäßig alljährlich erneuert wird, mit Zustimmung Rußlands und Chinas. Über Abu Ghraib, über die Zerstörung Falludschas, über den Einsatz von völkerrechtlich geächteten chemischen Brandmitteln, über die absichtlichen Luftangriffe auf Wohnhäuser als Teil einer menschenverachtenden Aufstandsbekämpfungsstrategie wird offenbar im Sicherheitsrat nicht diskutiert. Zumindest dringt darüber nichts an die Öffentlichkeit, und keine noch so vorsichtige Kritik schlägt sich in den Resolutionen nieder.

Kein Zweifel: Die USA haben im Frühjahr 2003 dem erklärten Willen der Sicherheitsratsmitglieder Rußland, China und Frankreich zuwider gehandelt, als sie ohne UN-Mandat und ohne jede sachliche Handhabe den Irak überfielen. Aber nach vollbrachter Tat bereitete es der US-Regierung offenbar keine allzu großen Schwierigkeiten, sich nachträglich doch noch den Segen des höchsten UN-Gremiums zu verschaffen. Zum ersten Mal erteilte der Sicherheitsrat am 16. Oktober 2003 den Besatzungstruppen die höheren Weihen als mandatierte »multinationale Streitmacht«. Mehr noch: Er rief ausdrücklich alle Mitgliedstaaten der UN auf, die Besatzungstruppen auf jede nur erdenkliche Weise, einschließlich der Entsendung militärischer Einheiten, zu unterstützen. Außerdem enthält die Resolution 1511 den Appell, bei der Ausbildung und Ausrüstung irakischer Armee- und Polizeitruppen zu helfen.

Die Mandatierung der Besatzungstruppen galt zunächst für ein Jahr. Sie wurde durch die Resolution 1546 am 8. Juni 2004 um ein weiteres Jahr verlängert. Diese Resolution enthielt – nach mehr als einem Jahr praktischer Erfahrungen – nicht nur absolut keine Vorgaben für die Kriegsführung der Besatzungstruppen, sondern lobte sogar deren »Bereitschaft, ihre Anstrengungen fortzusetzen, zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität im Irak beizutragen«. Nach wie vor galt, daß die US-Regierung zwar alle sechs Monate dem Sicherheitsrat einen Bericht vorlegen muß, aber keinerlei nachvollziehbare Auseinandersetzung darüber stattfindet.

Die am 8. November dieses Jahres einstimmig angenommene Resolution verlängert das Mandat nochmals um ein Jahr. Im Vorfeld hatte es Auseinandersetzungen zwischen den USA einerseits, Rußland und China andererseits um den Zeitrahmen gegeben. Letztere wollten die Dauer des Mandats, wie es die ersten zwei Resolutionen vorsahen, nur bis zur Bildung einer legitimierten irakischen Regierung nach den Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres befristen. Sie gaben sich aber schließlich damit zufrieden, daß Mitte Juni 2006 eine »Überprüfung« des Mandats stattfinden soll. Ursprünglich hatte die US-Regierung sogar versucht, das UN-Mandat unbegrenzt solange verlängern zu lassen, bis eine irakische Regierung den Abzug der Besatzungstruppen verlangt.

Die Sprecher der sunnitischen Parteien Iraks kommentierten trocken: »Die Resolution wird nicht funktionieren, weil Washington es nicht zulassen wird, daß seine Streitkräfte abgezogen werden.« – Tatsächlich ist es eine völlig abwegige Vorstellung, daß die USA ihre Besatzungstruppen zurückziehen würden, falls der Sicherheitsrat ihr Mandat irgendwann nicht mehr verlängert, was Rußland und China durch ihr Vetorecht leicht erreichen könnten.

Unterstützung für US-Lügen

Die Mandatierung der US-Besatzungstruppen mit Zustimmung Rußlands und Chinas stellt, genau besehen, keinen Bruch mit deren vorangegangenem Verhalten dar. Der amerikanischen Aggression im Frühjahr 2003 ging die am 8. November 2002 einstimmig beschlossene Resolution 1441 des Sicherheitsrats voraus, die von den USA und Großbritannien eingebracht worden war. Diese Entschließung warf dem Irak vor, die früheren UN-Resolutionen bezüglich seiner »Massenvernichtungswaffen« nicht erfüllt zu haben. Der Regierung in Bagdad wurde das Ultimatum gestellt, innerhalb einer Woche, bis zum 15. November, der totalen Kooperation mit den UN-Inspektoren bei der Offenlegung seiner chemischen, biologischen und nuklearen Waffenarsenale zuzustimmen. Die irakische Regierung unterwarf sich diesem Ultimatum und den die Souveränität des Landes eklatant verletzenden Kompetenzen der UN-Inspektoren am 13. November, zwei Tage vor Ablauf des Ultimatums.

Im Rückblick ist eindeutig, daß der Irak mit Zustimmung Rußlands und Chinas gezwungen wurde, Bedingungen zu akzeptieren, die er überhaupt nicht erfüllen konnte: die Offenlegung von Waffenarsenalen, die er zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht mehr besaß, sondern die nur in der amerikanischen Lügenpropaganda existierten.

In der Kriegsvorbereitung der US-Regierung erfüllte die Resolution 1441 einen zentralen Zweck: die definitive Isolierung und Stigmatisierung Iraks – und damit die Schaffung optimaler Bedingungen für den nachfolgenden militärischen Überfall. Der Sicherheitsrat machte sich mit der Annahme der Resolution de facto und im Verständnis der internationalen Öffentlichkeit die amerikanischen Behauptungen über Saddam Husseins »Massenvernichtungswaffen« zu eigen. Heute, nachdem diese als Lügen entlarvt sind, fragt man sich natürlich, ob die Erkenntnisse der russischen Geheimdienste über die Situation im Irak wirklich so miserabel waren, daß sie der Zustimmung zur Resolution 1441 nicht entgegenstanden. Zur Erinnerung: Die russisch-irakischen Beziehungen waren zum damaligen Zeitpunkt nicht schlecht. Russische Dienststellen hatten gute Voraussetzungen, über die tatsächliche Lage im Irak ein realistisches Bild zu gewinnen. Die Implikationen der Resolution 1441 können den damaligen Erkenntnissen überhaupt nicht entsprochen haben. Warum also die russische Zustimmung im Sicherheitsrat?

Als alles schon viel zu spät war, am 5. März 2003, widersprachen Rußland, Frankreich und Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung einem militärischen Vorgehen gegen Irak. Die Stellungnahme enthält die definitive Festlegung Rußlands und Frankreichs, als Mitglieder des Sicherheitsrats, dem Einsatz militärischer Erzwingungsmittel unter den gegebenen Umständen nicht zuzustimmen. Die USA und Großbritannien legten am 7. März 2003 einen Resolutionsentwurf vor, der auf eine Kriegserklärung hinauslief. Als sie dafür nicht die Zustimmung des Sicherheitsrats fanden, eröffneten sie ohne weitere Rücksicht auf die UN den Angriff.

War es den Preis wert?

Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß der erste Irak-Krieg der USA, 1991, sich von Anfang an direkt auf ein Mandat des Sicherheitsrats stützen konnte: die am 29. November 1990 beschlossene Resolution 678.

Äußerer Anlaß war die irakische Besetzung und Annexion Kuwaits. Formal war die Reaktion des Sicherheitsrats durch die UN-Charta gedeckt. Tatsächlich gibt es aber kaum einen anderen Fall, wo der Sicherheitsrat in dieser Weise reagierte. Allenfalls könnte man das Eingreifen der USA in den koreanischen Bürgerkrieg 1950 als Parallele heranziehen. Aber damals verschaffte sich die US-Regierung das UN-Mandat putschartig, gegen den Willen Rußlands und Chinas.

Der beispiellosen Härte des Vorgehens des Sicherheitsrats gegen den Irak steht auf der anderen Seite gegenüber, daß das höchste Gremium der Vereinten Nationen niemals auch nur den geringsten Versuch gemacht hat, Israel zum Rückzug aus den seit 1967 besetzten Gebieten zu veranlassen.

Der Irak-Krieg 1991 endete mit einer Resolution des Sicherheitsrats, die das Land zur »Entwaffnung« verpflichtete. So lange diese nicht »vollständig« abgeschlossen war, sollten die schon vor dem Krieg vom Sicherheitsrat beschlossenen Wirtschaftssanktionen aufrechterhalten werden. Die damalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright wurde Ende der 1990er Jahre in einem Interview mit der Schätzung konfrontiert, daß die Sanktionen ungefähr eine halbe Million irakische Kinder das Leben gekostet hatten. Gefragt, ob die Unterwerfung Iraks diesen Preis wert gewesen sei, sagte die Ministerin: »Ich denke, ja«. Verantwortlich für die Sanktionen war aber nicht allein die US-Regierung, sondern der Sicherheitsrat insgesamt. Erst 1995 bis 1996 begannen Rußland und Frankreich, sich vom Vorgehen der USA gegen den Irak zu distanzieren. China hatte sich schon vorher bei den meisten Abstimmungen im Sicherheitsrat enthalten.

Wiederholung der Fehler

Seit Herbst vorigen Jahres ist die US-Regierung bemüht, Syrien international zu isolieren und die propagandistischen Voraussetzungen für einen »Regimewechsel« oder für ein militärisches Eingreifen zu schaffen. Frankreich als ehemalige Kolonialmacht Syriens und Libanons ist diesmal mit von der Partie. Das gemeinsame Vorgehen gegen die Regierung in Damaskus soll unter anderem auch dazu dienen, das französisch-amerikanische Verhältnis, das in den vergangenen Jahren gelitten hatte, wesentlich zu verbessern.

Ein erster Schritt war die Annahme der von Washington und Paris gemeinsam eingebrachten Resolution 1559 durch den Sicherheitsrat am 2. September 2004. Die Entschließung forderte Syrien auf, seine seit 1976 im Einvernehmen zwischen Damaskus und Beirut im Libanon stationierten Truppen – etwa 15 000 Mann – abzuziehen. Sie verlangte darüber hinaus vom Libanon, alle Milizen zu entwaffnen. Das richtete sich in erster Linie gegen die schiitische Hisbollah im Süden des Landes, aber auch gegen die bewaffneten Gruppen in den Palästinenserlagern.

Resolution 1559 ist in ihrer Art völlig einmalig in der Geschichte der UN – und sie widerspricht eklatant der Charta der Vereinten Nationen: Sie greift in die Beziehungen zwischen zwei souveränen Staaten und zudem in die inneren Verhältnisse eines Landes ein. Aber statt die Resolution durch Ausübung ihres Vetorechts zu stoppen, ermöglichten Rußland und China ihre Annahme durch Enthaltung.

Nach der Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri am 14. Februar 2005 setzte der Sicherheitsrat eine Untersuchungskommission ein, deren Ermittlungen sich vor allem auf eine mögliche syrische Beteiligung an der Tat konzentrieren. Am 25. Oktober nahm der Sicherheitsrat einstimmig die Resolution 1636 an. Sie wirft Syrien mangelnde »Kooperation« mit der Untersuchungskommission vor und setzt der syrischen Regierung eine Frist bis zum 15. Dezember, sich allen Forderungen der von dem Deutschen Detlev Mehlis geleiteten Kommission zu unterwerfen.

Vertreter des russischen Außenministeriums feierten die Resolution als großen diplomatischen Erfolg. So sei es gelungen, die von den USA, Großbritannien und Frankreich beabsichtigte Androhung von Sanktionen ebenso aus der Resolution herauszuhalten wie verschiedene weitergehende Forderungen an Damaskus. Tatsächlich enthält der angenommene Text aber die Formulierung, der Sicherheitsrat werde nach dem 15. Dezember »weitere Schritte in Erwägung ziehen, falls notwendig«, was praktisch einer Drohung mit Sanktionen gleichkommt. Wesentlich ist außerdem der Satz, der Sicherheitsrat handele mit dieser Resolution »gemäß Kapitel VII der UN-Charta«, denn das bedeutet, daß zur Erzwingung auch militärische Mittel eingesetzt werden können. Und was die angeblich verhinderten Zusatzforderungen angeht: Sie stehen nach wie vor im Text. Laut Punkt zwölf der UN-Charta wird verlangt, »daß Syrien sich nicht in Libanons innere Angelegenheiten einmischt, weder direkt noch indirekt«, und daß es »sich aller Versuche enthält, Libanon zu destabilisieren«. Formulierungen, die viele Interpretationen zulassen.

Es ist zu befürchten, daß Rußland und China, ohne wesentliche Lehren aus ihren Fehlern der Vergangenheit, insbesondere im Fall des Irak, zu ziehen, mit ihrem Agieren im Sicherheitsrat erneut der Kriegsstrategie der US-Regierung zugearbeitet haben. Syriens Präsident Bashar al-Assad hat vermutlich recht, wenn er in einer Rede am 10. November seine ausdrückliche Zustimmung zur Kooperation mit der Mehlis-Kommission mit der skeptischen Einschätzung verbindet: »Ganz gleich, was wir tun und wie sehr wir kooperieren – das Endergebnis wird sowieso die Behauptung sein, Syrien wolle nicht kooperieren.«

* Aus: junge Welt, 16. November 2005


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