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Süden spricht nicht mit einer Stimme

Mitsprache bei der UNO-Reform: Ein Gespräch über die Rolle der G-77 plus China in der UNO

Am 12. Juni beginnt in Katar ein Gipfel der Staaten der G-77 - Anlass, über deren weltpolitisches Gewicht und Rolle im UN-Reformprozess zu reflektieren. Im folgenden Interview sprach Martin Ling für das ND mit Jens Martens*.



ND: Beim Gipfel der G77 steht die geplante Reform der UNO im Mittelpunkt. Welchen Stellenwert hat die G77 seit ihrer Gründung 1964?

Martens: Die Gruppe der 77 ist der zentrale Zusammenschluss der Entwicklungs- und Schwellenländer in den Vereinten Nationen. Sie haben dort bisher ein großes Gewicht, denn sie stellen innerhalb der Generalversammlung eine Zwei-Drittel-Mehrheit und können alle Entscheidungen, die gefällt werden, blockieren. Gleichzeitig haben sie allerdings im Sicherheitsrat so gut wie keine Stimme. China ist das einzige ständige Mitglied aus dem Kreis der G77, Afrika und Lateinamerika sind dagegen unter den ständigen Mitgliedern überhaupt nicht vertreten.

Was sieht der Reformplan von Kofi Annan für die G77 vor? Eine Stärkung oder eine Schwächung?

Der Reformplan Kofi Annans umfasst drei Bereiche: Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte. Im Bereich Entwicklung sieht der Plan unter anderem eine Erhöhung der Entwicklungsfinanzierung vor, insbesondere einen Stufenplan zur Steigerung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens bis 2015. Das würde die Entwicklungsländer sicherlich finanziell besser stellen. Im Bereich der Reform des Sicherheitsrates möchte Annan auf jeden Fall die Stimme der Staaten Afrikas, Lateinamerikas und Asiens stärken, indem er ihre Zahl im Rat erhöht – sei es durch ständige oder durch nichtständige Mitglieder. Da legt sich Annan selber bisher nicht fest. Wenn der Reformplan von Kofi Annan im September beim Gipfel in New York durchkäme, würde das eine zumindest graduelle Stärkung der G77 bedeuten.

Die Reaktionen der G77 auf Annans Reformplan klangen dennoch nicht begeistert. Jamaika zum Beispiel ist mit dem Entwicklungskapitel nicht glücklich.

Das stimmt. Die Reaktion der G77 auf den Reformplan war bisher extrem verhalten, und das aus zwei Gründen: Zum einen sagen sie, dass der Plan, was die entwicklungspolitische Dimension angeht, zu kurz greift. Es geht eben nicht nur um mehr Geld für den Süden, sondern es geht auch um eine stärkere Regulierung der internationalen Kapitalmärkte. Des weiteren fordern die G77 eine Stärkung der Entwicklungsländer in den zentralen Instituten der Weltwirtschaft – Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO). Dazu sagt der Annan-Bericht aber nichts.
Gleichzeitig kritisieren sie, dass sich der Bericht im Bereich der Menschenrechte vor allem auf die politischen und bürgerlichen Menschenrechte konzentriert, aber die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte inklusive des Rechts auf Entwicklung völlig außer Acht lässt.

Und wie ist die Haltung in Sachen Sicherheit und UN-Sicherheitsrat? Gibt es eine einheitliche Position?

Nein, das ist das Dilemma der G77. Sie sind eigentlich völlig fragmentiert, können nur den kleinsten gemeinsamen Nenner formulieren. Und der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Ländern wie Saudi-Arabien, Burkina Faso und Brasilien ist oft gleich Null. Das sieht man exemplarisch in der Frage der Reform des Sicherheitsrates. Hier haben Brasilien, Indien und einige afrikanische Staaten die Ambition, ständiges Mitglied zu werden, während andere G77-Mitglieder vehemente Gegner dieses Planes sind. Das sind unter anderem Argentinien, Mexiko, Pakistan, Bangladesch und auch Südkorea, das heißt die Länder, die in gewisser Weise die regionalen Konkurrenten der Bewerber um einen ständigen Sitz sind. Hier wird deutlich, dass die G77 in zentralen Fragen der UNO-Reform nicht mehr mit einer Stimme sprechen kann.

Das heißt, die Heterogenität der G77 verhindert ein starkes Gegengewicht zu den G8-Staaten in der UNO und ihren vier ständigen Sicherheitsratsmitgliedern?

Der Einfluss ist unterschiedlich. In den Bereichen, in denen die G77 einen gemeinsamen Nenner findet, und das sind meist die traditionellen entwicklungspolitischen Themen, kann sie durchaus ein Gegengewicht bilden. In vielen Bereichen sehen wir aber, dass sich inzwischen Untergruppen bilden, Koalitionen der Gleichgesinnten, wie die Gruppe der kleinen Inselstaaten, oder auch, was immer häufiger der Fall ist, Koalitionen zwischen Süd und Nord. Ein Beispiel ist die so genannte Viererbande der Sicherheitsratsbewerber, nämlich Deutschland, Japan auf der einen, Brasilien, Indien auf der anderen Seite. Ein anderes die so genannte Lula-Gruppe, in der Brasilien, Chile und Algerien mit Spanien, Frankreich und Deutschland zum Thema »innovative Finanzierungsinstrumente« zusammenarbeiten. Das heißt, die traditionelle Blockkonfrontation zwischen Nord und Süd, wie wir sie bis vor einigen Jahren in der UNO erlebt haben, löst sich gerade jetzt, zu einer Zeit, da es um Fragen der Reform geht, immer mehr auf.

Welche Aussichten hat der Reformplan?

Kofi Annan wollte, dass sein Reformplan im September als Paketlösung verabschiedet wird. Dass das passiert, ist sehr unwahrscheinlich, auch wenn Annan davor gewarnt hat, dass die Länder sich einzelne Häppchen aus dem Plan herauspicken, je nachdem, wie es ihnen politisch passt. Es gibt bisher starke Kontroversen zwischen einzelnen Ländergruppen, nicht nur was den Sicherheitsrat angeht. Im Moment ist die notwendige substanzielle Reform der UNO nicht in Sicht. Zivilgesellschaftliche Gruppen werden deshalb den Druck auf die Regierungen bis zum September verstärken, unter anderem im Rahmen der weltweiten Aktionstage am 1.Juli und 10.September.

* Jens Martens ist Volkswirt und leitet das Europa-Büro des Global Policy Forum (GPF) in Bonn. GPF beobachtet und analysiert seit über zehn Jahren die Politik der UNO und ihrer Mitgliedstaaten und setzt sich für eine Stärkung und Demokratisierung multilateraler Strukturen ein (www.globalpolicy.org).

Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2005



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