Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Annan-Doktrin

Ein Beitrag zur Reform der UNO

Der Millennium-Gipfel der Vereinten Nationen sollte nach Auffassung ihres Generalsekretärs eine Zäsur in der Entwicklung der Vereinten Nationen darstellen. Viel wurde über notwendige Reformen geredet, viel wurde von den hehren Zielen der Staatengemeinschaft schwadroniert. Den deutschen Kanzler schienen die großen Themen der Welt nicht sonderlich zu interessieren; ihm ging und geht es offenbar nur um einen Sitz im höchsten Gremium der Organisation: im UN-Sicherheitsrat. In der Koalitionsvereinbarung von 1998 las sich das noch völlig anders. Dort war zur Reform der UNO eine größere "regionale Ausgewogenheit" im Sicherheitsrat für nötig befunden worden. Gefordert wurde außerdem kein "deutscher", sondern ein "europäischer Sitz im Sicherheitsrat". Erst wenn ein "europäischer Sitz" nicht zu erreichen sei, sollte die Bundesrepublik einen deutschen Sitz anstreben. Doch was schert Schröder die Koalitionsvereinbarung - hat er sie überhaupt je gelesen?
Was von den Diskussionen auf dem Millennium-Gipfel in New York in der Praxis des Tagesgeschehens übrig bleibt, wird die Zukunft zeigen. Der folgende Kommentar aus der Süddeutschen Zeitung steckt die Felder ab, auf denen sich UNO-Politik in naher Zukunft bewegen wird. Problembewusstsein ist reichlich vorhanden - was die Entwicklung der Welt betrifft, weniger, was der deutsche Beitrag hierzu sein könnte.


Die Annan-Doktrin

VON STEFAN ULRICH

A u s z ü g e

Ein wenig wirkt Kofi Annan wie ein Alchimist. Aus der ganzen Welt hat er das Beste vom Besten herbeigeholt und in seinen Experimentier-Kessel gegeben. Mehr als 150 Präsidenten und Premiers hat er zusammengebracht im Hauptquartier der Vereinten Nationen zu New York. Dann hat der würdige Weltenlenker alle gerührt mit seiner Rede. Er hat die Probleme der Welt hineingetragen in den großen Versammlungssaal - Hunger, Armut, Krieg, Aids. Und er hat versucht, die Versammelten mit der Kofi-Frage aufzurütteln: Wie haltet ihr es mit den Vereinten Nationen? Was sollen die UN für Euch tun, und was tut Ihr für die UN?

Und was ist passiert? (...) Es hat etwas geblubbert in der Halle, und es sind, im Fünf-Minuten-Takt, zahllose Sprechblasen aufgestiegen. Schließlich destillierten sich sogar eine Resolution des Sicherheitsrats und eine Abschlusserklärung heraus mit phantastischen Versprechungen. Doch eine neue Qualität ist nicht entstanden. (...)

(...) Mit ihren 189 Mitgliedstaaten allein ist kein Staat zu machen. Denn Staaten sind Egoisten, vielleicht die größten überhaupt. Die Welt als Ganzes liegt ihnen allenfalls in Sonntagsreden am Herzen. Doch dieser Welt sind die Vereinten Nationen verpflichtet. Das ist ihr Dilemma.

Als Ausweg wird von fast allen die große Reform gefordert. Idealtypisch würde sie so aussehen: Der Sicherheitsrat wird um Staaten wie Deutschland, Japan oder Indien erweitert; das Veto-Recht wird eingeschränkt. Der Generalsekretär erhält mehr Unabhängigkeit von der Generalversammlung, dem Organ der Mitgliedsländer; und diese Versammlung verzettelt sich nicht mehr in 171 Tagesordnungspunkten von der "Frage der Komoreninsel Mayotte" bis zu den "Rückwürfen in der Fischerei". Sie konzentriert sich auf die Kernthemen - Abrüstung und Beendigung von Kriegen etwa. Schließlich: Die UN erhalten mehr Geld. Sie verpflichten sich im Gegenzug, es effektiver einzusetzen, indem sie konkurrierende Programme zusammenlegen.

Forum und Führung

Alles vernünftig, alles seit Jahren auf dem Tisch. Dort wird das meiste noch auf Jahrzehnte liegen bleiben, da die Reformen von den Staaten beschlossen werden müssten. Doch viel zu groß sind die Interessengegensätze, sei es zwischen den Großmächten im Sicherheitsrat, sei es zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern in der Generalversammlung. Die große Reform, es wird sie in absehbarer Zeit nicht geben.

(...) Die Welt braucht Forum und Führung. Sie benötigt einen Vordenker, Koordinator und Kontrolleur, der dem Gemeinwohl dienen kann, weil er über den Nationen steht. Dafür, das betonten auch die Teilnehmer des Millenniums-Gipfels, kommen nur die UN in Frage. Nur sie können Gefahren weltweit frühzeitig erkennen, nur sie die Kräfte von Regierungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bündeln im weltweiten Kampf gegen Krieg, Not und Umweltzerstörung. Daher dürfen die UN nicht auf ihre Reform durch die Staaten warten. Sie müssen versuchen, selbständiger zu werden.
(...)
Der Weltorganisation ist vorzuwerfen, dass sie sich lange missbrauchen ließ. Nun will sich Annan dem schändlichen Spiel entziehen. Die UN sollen sich Einsätzen verweigern, wenn sie nicht ordentlich ausgerüstet werden, fordert eine von ihm eingesetzte Expertengruppe. Für die Weltorganisation bedeutete das einen riesigen Image-Gewinn. Ihr oft schlechtes Ansehen beruht ja zum Großteil auf gescheiterten Friedensmissionen. Außerordentliche Erfolge auf anderen Gebieten - beim Schutz von Kindern oder der Bekämpfung von Krankheiten etwa - geraten darüber in Vergessenheit.

Ein besseres Ansehen wiederum könnten die UN nutzen, ihre einzige Waffe gegen eine gleichgültige bis feindselige Staatenwelt einzusetzen: die öffentliche Meinung. Annan hat das vor einem Jahr vorexerziert, als in Ost-Timor ein Völkermord drohte. Eingedenk der Debakel in Ruanda und Bosnien ging er an die Öffentlichkeit und drängte den Sicherheitsrat zu unverzüglicher Aktion. Dieser reagierte diesmal rasch und mandatierte eine internationale Eingreiftruppe. In Ost-Timor war bereits Schlimmes geschehen. Doch Schlimmeres wurde verhindert.

Der Generalsekretär könnte seine charismatische, medienwirksame Art künftig noch stärker einsetzen, um die UN zu stärken und Staaten, wenn es sein muss, unter Druck zu bringen. Helfen können ihm die NGOs, denen der Ghanaer bereits größeren Einfluss in der Weltorganisation verschafft hat. Auch Annans neue Bündnisse mit anderen global players, den Konzernen und den Religionsgruppen, könnten die Weltorganisation unabhängiger von den Staaten machen. Diese Emanzipation wird nicht ohne Konflikte abgehen. Das zeigte sich vor einem Jahr, als Annan eine Doktrin verkündete, die einmal als seine bedeutendste Leistung gewertet werden könnte. Die Annan-Doktrin stellt sich gegen das klassische Völkerrecht und besagt: Die Souveränität der Staaten hat Grenzen, die von den Menschenrechten gezogen werden. Begeht ein Land schwerste Verbrechen gegen seine Bürger, dann muss sich der Staatenclub gegen sein eigenes Mitglied stellen, notfalls mit Gewalt.

Einmischung statt Neutralität, lautet die Formel. Sollte sie Geltung erlangen, wären die UN tatsächlich über die Staaten hinausgewachsen. Viele Länder fürchten daher die Doktrin. In der Schlusserklärung des Gipfels wird der Vorschlag totgeschwiegen. Stattdessen werden Souveränität und Unabhängigkeit aller Nationen betont. Da zeigt sich, wie schwach der Wille zur Neuordnung der Welt bei den Ego-Staaten noch ist. (...)

Gekürzt aus: Süddeutsche Zeitung, 09.09.2000


Weitere Berichte zur Reform der Vereinten Nationen

Zurück zur Seite "Vereinte Nationen"

Zur Themen-Seite

Zurück zur Homepage